Eckhard Mieder Am Randes des Marktes

Prosa

23. Juli 2015

Friedrich sass auf den Stufen am Rande des Marktes, sah hin und wieder auf seine Armbanduhr, obwohl er nicht wirklich aufgeregt oder ungeduldig war. Er wartete auf Karoline, er lächelte für sich, es gehörte zu ihren charmanten Seiten, stets unpünktlich zu sein.

Am Randes des Marktes.
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Am Randes des Marktes. Foto: Jolandateekens (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

23. Juli 2015
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Er hatte den Strauss mit sieben Rosen neben sich gelegt, tatsächlich waren sie sich auf den Tag genau vor sieben Jahren an einem Weinstand auf dem Markt begegnet, und er fand nicht, dass es ein verflixtes Jahr war.

1.

Der Spruch, dass das siebte Jahr ein schwieriges Jahr sei, galt ohnehin für die Ehe, in der befanden sie sich erst seit sechs Jahren, und Friedrich fand Sprichwörter, Volkes Mund, Weisheiten, die daherkamen wie ungebetene Gäste, albern. Ihm war es nie so gut gegangen wie jetzt, und er war davon überzeugt, dass Karoline ebenso fühlte. Friedrich war vierzig Jahre alt, Programmierer, verdiente genug, um seiner Frau ein Leben nach ihren Bedürfnissen zu lassen und war entzückt, wenn er abends eines der Bilder betrachtete, die sie tagsüber gemalt hatte. Wenngleich er sie nicht immer verstand. Sie verstand ihrerseits nichts von seiner Arbeit, von dieser modernen Hexerei, wie sie es nannte, wenn sie darüber sprachen. Aus einer Null und einer Eins Kombinationen zu machen und schliesslich eine Kommunikation zu ermöglichen, die Buchstaben, Bilder, Buntheit, Movies um den Planeten schickten, war Karolines Ansicht nach äusserst einfallslos, wenngleich es den Charme des Minimalismus hatte; jedenfalls dann, wenn Friedrich ins Schwärmen über die Arbeit mit dem Computer kam.

Auf den Stufen, ein paar Meter Abstand hatte Friedrich zwischen sich und ihnen gelegt, lagerten Übriggebliebene; oder wie sollte er sie nennen, diese Überlebenden eines Krieges, von dem Friedrich ahnte (wusste?), dass er stattfand, seit Jahrzehnten schon. Zwei Männer, wollene Tücher unter ihren Leibern, schliefen. Hingebungsvoll, ohne Rücksicht auf die Meinungen der Vorübergehenden, die sie ansehen mussten. Hingegeben dem Schlaf, der Trunkenheit, der Sucht und der Sicherheit, dass sie niemand stören würde; sie lagen vor einem toleranten Markt in einer toleranten deutschen Stadt, und das Wetter war angenehm. Eine Frau, schmutzig, schwankend, die Hände pressten den Rock zwischen ihre Schenkel, wachte über den Schlaf eines Mannes, der eine Stufe unter ihr zu ihren Fussen auf dem Rücken ausgestreckt lag wie eine Leiche. War er tot? Seit langem schon tot, oder erst seit einer Minute tot?

Alles ist möglich, der Tod, das Leben, am Rande des Marktes war nichts unmöglich. Und die Frau würde über den Mann wachen, egal, wie lange es dauert, bis er wieder aufwachte. Und wenn er im Reich der Toten seine Augen öffnete, würde sie auch da sein. Neben ihm sitzen, ihre Hände kneten, sie dann lösen und auf seiner Schultern legen. Und ob sie eine Gnade, eine Last oder ein Fluch für ihn wären – niemand, der den Zugang zum Markt betrat oder betrachtete, würde es jemals erfahren. Man sah einander, man glitt aneinander vorbei, man hatte mit sich zu tun.

Friedrich beobachtete gern. Jetzt den Schwarzen da. Der laut und besessen allen Passanten, die ihn umströmten, ins Gewissen redet. In ein Gewissen, das jeder hat, aber wer möchte ins Gewissen geredet bekommen, wenn er den Markt betritt? Von Jesus sprach er, dass der Sohn Gottes unser aller Retter sei, brüllte er in die Luft, er streckte jedem die Bibel entgegen, auf deren Kraft er schwor, und ober er verrückt war, ob der Klarsichtigste unter uns, oder ob er im Auftrag einer Sekte handelte oder sich selbst auferlegt hatte, die Menschheit zu erlösen – wer von uns, die wir wahrnehmen und nicht wahrnehmen wollen, wüsste es zu sagen. Vom Markt ging ein Dämmer-Licht aus, ein Dämmern, ein ansaugendes, verschlingendes Nebulöses. Hätte jemand Friedrich gefragt, was er dort machte, wartend auf Karoline, gewiss, es war ein konkretes Warten, hätte er geantwortet: Ich dämmere vor mich hin, ich sitze am Rand des Marktes, ich freue mich auf eine Frau, mit der ich seit sieben verbunden, auf den Tag genau, seit sechs Jahren verheiratet bin, ich bin mir meines Lebens und meines Glückes so sicher wie nie zuvor.

2.

Karoline stand, bis auf den Slip nackt, am Fenster im zehnten Stock des Hauses, das an der Schmalseite des Marktplatzes stand, und überschaute. Ihr Blick erfasste die Buden und Stände, die bizarren Lastkraftwagen, deren Seitenwände hochgeklappt und die im Nu aus einem mobilen Fahrzeug der Strasse zu einem stationären Laden für einen Tag verwandelt werden konnten. Karoline liebte den Markt, über den sie donnerstags zog, wandelte, wie sie die andere als sonstige Gangart empfand, hier einen neuen Käse probierend, da frische Wurst und Äpfel kaufend, und wenn sie sich nach einer Stunde des Wandelns und Handelns – es konnten auch anderthalb bis zwei Stunden werden – ein Glas Riesling am immer gleichen Weinstand holte und sich zu den anderen Geniessern stellte, kam sie mit dem einen oder der anderen ins Plauschen. Es entstanden hier weder Freundschaften noch suchte sie Kontakt, ihr gefiel lediglich das leichte Parlieren, die schnelle Höflichkeit, Wein und Unterhaltung ergänzten sich und rundeten den Tag ab. Sie trank gern ein zweites Glas, bekanntlich steht es sich auf einem Bein nicht gut. Jeden Donnerstag machte sie die gleiche Runde. Und seit zwei Jahren ging sie, bevor sie den Markt betrat, seit zwei Jahren, ja, dachte sie plötzlich - auf den Tag genau seit zwei Jahren ging sie mit ihrem Zeichenlehrer ins Bett.

„Woran denkst du?“, fragte sie der Mann, der hinter Karoline getreten war. Er legte seine Hände um sie herum auf ihre Brüste und presste seinen Unterleib gegen ihren Hintern. Am rechten Handgelenk trug er so genannte Freundschaftsbänder, lächerlich bunte, ausgefranste Stoff-Streifen, die unangenehm kitzelten. Ein mausiger Biss in ihr linkes Ohrläppchen, nachdem er die Frage gestellt hatte; eine insgesamt verlangendes, besitzergreifendes Verhalten, dem sie sich verwehrte. Das Schäferstündchen war beendet, und sie war nicht die Frau, die gern an sich knabbern liess. Im Übrigen war Prahlerei dabei; Karsten Sprungmann, ein paar Jahre über die Fünfzig hinaus, hatte sich gut gehalten, musste sich aber erholen, und bis zu einer zweiten Erektion, wusste sie, würde es dauern. Solange wollte sie nicht warten, zudem brauchte sie die nicht, und der nächste Donnerstag kam gewiss. Es deutete nichts darauf hin, dass sich an eingespielter, angenehmer Gewohnheit etwas ändern würde.

„Du schenkst mir nie Blumen“, sagte sie und entwand sich ihm. Sie bückte sich, um die Strumpfhose anzuziehen, richtete sich auf, drehte ihm den Rücken zu, und Sprungmann begriff, dass er den Büstenhalter verschliessen sollte, „Ich male dir welche“, sagte er leichthin.
„Heute sind wir zwei Jahre zusammen“, sagte sie.
„Nein, wie die Zeit vergeht!“, lachte er, drehte sie zu sich und wollte ihr einen Kuss geben. Karoline zuckte zusammen und wendete ihren Kopf zur Seite, so dass Karsten mit gespitztem Mund und gewissermassen unverrichteter Dinge da stand: erstarrt zum Bild einer kleinen, peinlichen Lächerlichkeit. In diesem Bruchteil einer Sekunde entdeckte Karoline ihren Mann Friedrich, der auf den Stufen zum Markt sass, einen Strauss Blumen neben sich, und ihr fiel ein, dass sie verabredet waren. Es war eine Viertelstunde über der vereinbarten Zeit; Karoline stiess Sprungmann spielerisch von sich, so dass er rücklings auf das Bett fiel, das Badetuch verrutschte und Karoline sah sich in ihrer Erfahrung bestätigt: Karsten würde froh darüber sein, gleich allein sein zu dürfen, vermutlich wird er sich ein Glas Sekt eingiessen, das internationale Kaltgetränk, wie er es in seiner manchmal aufgeblasenen Ironie nannte, um nach dem Schlürfen ein Mittagsschläfchen zu halten. Schnarchte er? fragte sich Karoline zum ersten Mal.

Karoline zog sich zügig an, richtete das Haar und nahm sich die Minute für Lippenstift und Wimperntusche. Dann griff sie nach einem mit hellbraunem Packpapier verhüllten Bild von fast zwei Metern Länge und anderthalb Metern Breite; es lehnte neben der offenen Tür zum Bad, und soeben entstieg dem Bild eine nackte Frau, schwebte durch den Raum, glitt durch das Fenster-Glas über den Markt fort. Weder Karsten noch Karoline sahen sie.

3.

Friedrich, versunken in den Anblick eines Pärchens, das das Kunststück fertigbrachte, sich streitend zwar gemeinsam doch einen Zwillingskinderwagen die Treppen hinaufzutragen, wurde aufgeschreckt von zwei Männern. Sie waren unstrittig südosteuropäischer Herkunft, angetrunken oder unter Drogen, und stürzten irre lachend (oder wütend?) aus der Sparkasse, die die unterste Etage eines zehngeschossigen Hauses einnahm. In dem gab es neben Ärzte-Praxen, Anwalts-Kanzleien und den Büros einer Versicherung in den obersten Stockwerken auch Wohnungen. Jetzt traten die Männer auf angekettete Fahrräder ein. Ein Mann, den Fahrradhelm auf den Kopf, ging auf sie zu und wollte sie, Friedrich konnte ihn nicht hören, aber die Gesten des Mannes sprachen dafür, zur Rechenschaft ziehen. Vermutlich gehört eines der Räder ihm. Die Männer gingen einfach weiter.

Der Mann mit dem Helm folgte ihnen, redete auf sie ein, sie scherten sich nicht um ihn. Friedrich überlegte, ob er helfen sollte. Er sah, dass auch andere Menschen Zeugen der Szene waren. Sie alle warteten ab. Sie alle spürten die Aggression der beiden Männer (vermutlich hatten die Kassen-Automaten ihnen Geld verweigert). Wir alle, dachte Friedrich, sind auf der Seite des Fahrrad-Mannes, und wir alle haben Angst davor, dass die Männer plötzlich stehen bleiben und ein Messer ziehen könnten.

„Darf ich mich neben Sie sitzen?“
Dann wurde der Abstand zwischen den beiden und dem Verfolger grösser, schliesslich liess der Mann mit dem Helm kopfschüttelnd ab, und die Aggressoren verschwanden um die Ecke.
„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich neben sie sitze?“
Friedrich, noch immer gebannt von der eben beobachteten Szene und der Frage, warum er nicht eingeschritten war, wie feige bin ich, wie feige sind wir? fragte er sich - schüttelte den Kopf. Warum sollte er etwas dagegen haben, dass sich jemand neben ihn setzen wollte? Der Markt ist für alle da, hat Platz für jeden und alles, und wenn es am Rande ist.

Als er sich der Frau zuwendete, war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch etwas dagegen gehabt haben sollte. Er könnte auch aufstehen und gehen. Die Frau, die sich neben ihn platzierte, war nackt. Sie lächelte ihn an. Sie war völlig unbefangen, schlug die Beine übereinander, streckte ihren Oberkörper nach hinten und stützte ihn mit beiden Armen ab. Sie schloss die Augen und genoss die Sonne, die auf ihrem Weg in den späten Nachmittag über dem zehngeschossigen Haus angelangt war.

„Es muss Sie nicht stören, dass ich nackt bin“, sagte sie leise und lächelte. „Ich bin eine Narzisstin. Ich weiss, dass ich schön bin. Ich muss mich nicht verstecken.“

War sie verrückt? Gewiss war sie schön. Gewiss musste sie sich nicht verstecken. Aber es war nicht gerade üblich, nackt an einem von Menschen wimmelnden Platz zu erscheinen. Jetzt schüttelte sie den Kopf, das zu einem Dutt gebändigte Haar löste sich und berührte mit seinen Enden das Pflaster. Ihre Brüste waren klein, straff, die Brustwarzen waren prall: Blüten, dachte Friedrich, die sich eigensinnig der Sonne zeigen; es war eine – ungemütliche Situation, wenngleich es schien, als bemerkte ausser Friederich niemand die Nackte. Alles ging seinen Gang.

„Es ist etwas ungewöhnlich.“ Friedrich räusperte sich.
„Dass ich nackt bin?“, fragte sie. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen, und ihr rätselhaftes, selbstbewusstes, auch kokettes Lächeln hielt an. „Nun ja. Ja.“
„Wo ich herkommen, bin ich immer nackt“, sagte sie. „Ich liebe es, mich im Spiegel zu betrachten. Ich erfreue mich an meinem Körper. Ich meine, jeder hat das Recht, sich an meinem Körper zu erfreuen. Jeder darf ihn betrachten. Das Schönste ist: Ich altere nicht.“ Sie lachte kurz, glucksend, zufrieden. Eine Hure! Friedrich war nie in einem Bordell gewesen, hatte nie für Sex Geld ausgegeben, aber es gab Vorstellungen, die zum bürgerlichen Bildungsgut gehörten, über das auch einer verfügte, der die Welt gern als Kombination von Nullen und Einsen verstand. All die Hetären, all die Mimis, all die Bathseben – Gespielinnen, die Männer entspannten, erfrischten, animierten, Musen, ätherische Geschöpfe, von denen ein Mann, der sie nicht besass, glauben musste, sie röchen nicht, sie schwitzten nicht, sie litten nicht unter Zahnschmerzen und unter Blähungen.

Immerhin schien tatsächlich niemand um sie herum die pikante Situation wahrzunehmen. Friedrich entschied, dass er entweder halluzinierte, oder, wenn es denn wahr war, körperlich war, was er erlebte – womöglich gab es Dinge zwischen Himmel und Erde, nun ja – dann war es eben so. Ein Fehler im Programm, eine Abweichung, Error; kam vor, und manches Mal hatte er vor Rechnern gesessen und überhaupt nicht verstehen können, was der Apparat von seinem menschlichen Betreiber wollte.

„Gefalle ich Ihnen nicht?“, fragte die Nackte. Sie schaute ihn seltsam an. Sie sah ihm in die Augen, und sie sah an ihm vorbei. Friedrich ging es durch den Kopf, dass blinde Menschen so blicken. Aber die Frau war nicht blind, ganz bestimmt nicht.
„Doch“, antwortete er. „Sie gefallen mir. So auf die Schnelle betrachtet und rein äusserlich. Aber … „
„Aber?“
„Ich erwarte jeden Moment meine Frau. Es könnte zur Irritationen führen, sähe sie uns beide hier sitzen.“
„Glauben Sie, Ihre Frau kann mich sehen?“
„Ich sehe Sie doch auch!“

Sie lachte, erhob sich und drehte sich langsam einmal, zweimal um sich selber, machte drei Kniebeugen, als wollte sie Blut durch ihre eingeschlafenen Beine pumpen, Beine, die sehr schlank und reizend waren, nur waren die Schienbeine und Waden unrasiert. Vielleicht waren ihre Beine, dachte Friedrich, eben deshalb so anziehend, gewissermassen magisch-magnetisch: weil die Frau nicht epilierte. Auch in den Achselhöhlen, sah er, sass Haar. Friedrich meinte sogar, glänzende Perlen des Schweisses zu sehen. Alles in allem war die Frau eine sehr anziehende, animalische Erscheinung. „Ich kenne Ihre Frau, ich kenne Ihre Frau“, trällerte sie. „Ich kenne sie genau, ich kenne sie genau. Vielleicht kenne ich sie besser, als Sie sie kennen. Das ist kompliziert, oder?“

Friedrich nickte. Das war alles mehr als kompliziert, das war superkompliziert, das war megakompliziert. „Woher kennen Sie meine Frau?“, fragte er. Sie antwortete nicht. Sie erstarrte und blickte so intensiv an ihm vorbei, dass er sich wie unter Zwang umdrehte, um zu sehen, was die Nackte sah. Es war Karoline, die plötzlich zwei Stufen hinter ihm auf der Treppe hinter ihm stand und ihn strahlend ansah. Sie gaben sich einen Kuss zur Begrüssung und Karoline sagte: „Sind die Blumen für mich?“
Für wen sonst? dachte Friedrich, erstaunt über die leichte Verärgerung, die er verspürte, für wen sonst wohl.
„Das ist lieb“, sagte Karoline und steckte ihre Nase zwischen die Blüten. „Sie duften sogar!“
Was sollen Blumen sonst machen? dachte Friedrich und wunderte sich wieder über ein gewisses, beinahe unerklärliches Beleidigtsein, das er empfand. Er würde niemals Blumen kaufen, die nicht dufteten und vermutlich aus Südafrika eingeflogen oder in niederländischen Glashäusern aufgezogen wurden wie geschmacklose Tomaten.

„Ich habe auch ein Geschenk für dich“, sagte Karoline jetzt und schob das flache Paket zwischen sich und ihn. Sie bückte sich, und Friedrich schaute sich rasch um. Die nackte Frau stand regungslos und nickte ihm aufmunternd zu. Lautlos formten ihre Lippen einen Satz. Friedrich meinte, ihn zu lesen: Ich liebe dich! sagte sie stumm. Sie schwenkte mit der Hand einen Kuss durch die Luft.

„Dieses Bild schenke ich meinem Friedrich!“, sagte Karoline. „Auspacken werden wir es zuhause, okay? Ausserdem“, fuhr sie fort, „habe ich heute ein Bild verkauft! Stell dir vor, ich habe heute das erste Bild meines Lebens verkauft!“
„Das ist toll“, sagte er. „Ich lade dich zum Essen ein.“
Karoline schüttelte den Kopf: „Ich lade dich ein! Wir haben Grund zum feiern! Ich schlage vor, wir kaufen auf dem Mark alles, was wir brauchen – und dann essen wir zuhause.“
Ich habe heute das erste Bild meines Lebens verkauft – dachte Friedrich, und ich habe es noch gar nicht gewürdigt: „Aber das ist ja grossartig“, sagte Friedrich. „Welches Bild denn?“
„Den Akt, den ich gemalt habe!“ Karoline strahlte vor Zufriedenheit Wärme ab. Ein Teilchen der Wärme war auch ihre Dankbarkeit: dass Friedrich aufmerksam war und sich ehrlich interessierte.
„Wo du dich selbst gemalt hast? Nackt?“
„Von hinten. Vor einem Spiegel. Ein geklautes Motiv, naja. Welches Sujet auf der Welt wäre schon völlig neu!“
„Der Velázques“, sagte Friedrich. „Die Venus vor dem Spiegel. In deiner Version.“

Ein rätselhaftes Bild. Während seiner Entstehung durfte Friedrich einige Male draufschauen. Die nackte Frau lag auf einem Bett und betrachtete sich in einem Spiegel, den ihr ein ebenfalls nackter Knabe, wohl ein Amor, hinhielt; allerdings hatte der leicht verfettete Bursche, dessen Handgelenke irgendwelche Bänder zierten, das Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Lüstlings, und die Frau trug um den rechten Oberarm ein Lederband mit Stacheln aus Stahl, ihre Füsse steckten in schwarzen Lackstiefeln, und sie blickte nicht devot, schmeichelnd, anhimmelnd, sondern lüstern und besitzergreifend. Das war das Rätselhafteste an dem Bild: Die Frau schaute in den Spiegel, doch das gespiegelte Gesicht - schaute den Betrachter des Bildes an. Genauso: nicht selbstverliebt oder das eigene Gesicht prüfend ging der Blick in den Spiegel und kehrte zurück, sondern – mit beinahe unverschämtem Selbstbewusstsein bedeutet der Blick dem Betrachter (dem Mann?), dass er ihre nackte Hinterseite bewundern könne, aber mehr gäbe sie nicht Preis; oder es war eine Frage der Zuneigung, über die sie entschied (oder eine Frage des Preises?), liesse sie sich aus der Höhe ihres Selbstbewusstseins dazu herab, sich umzudrehen und ein Spiel mit dem Mann (der Frau?) zu beginnen, dessen Regeln sie machte. Dass es diese Person im Zimmer gab, war wahrscheinlich; der Betrachter des Bildes war längst Bestandteil des Bildes, wenn auch unsichtbar. Ein Sog. Die Augen, die aus dem Spiegel schauten, sahen alles.

Friedrich verstand nicht, warum Karoline sich in dieser Rolle – einer Domina? – sah, und er verstand auch nicht das erwachsene Gesicht des Putto, das den Spiegel hielt, obwohl er beinahe sicher war, dass es einem Mann gehörte, den Karoline kannte und porträtierte. „Das ist toll, oder?!“, jubelte Karoline. „Fünftausend Euro habe ich dafür bekommen! Davon geben wir jetzt mindestens zweihundert aus!“ Friedrich nickte, warf einen Blick zu der Stufe, auf der eben noch die nackte Frau gestanden hatte. Da war nichts ausser einer leeren, zerknüllten Zigarettenpackung.

4.

Mit einem sperrigen Gegenstand wie einem grossen Bild über den menschenvollen Markt zu laufen, erwies sich als hinderlich. Karoline kam auf die Idee, es am Weinstand zu deponieren, wo sie am Ende der Besorgungen ohnehin ankommen würden. Die den Wein ausschenkten, kannten Karoline und ihn und würden ihnen den Gefallen tun.

Karoline liebte es, den Marktgang mit ein, zwei Gläsern Riesling zu beschliessen. Sie kam schnell ins Gespräch mit fremden Menschen, das lag an ihrer hellen, offenen Art, ihrer strahlenden Freundlichkeit und wohl auch an ihrer Neugierde auf Menschen. Friedrich dagegen neigte ein wenig zur Misanthropie. Es konnte schnell geschehen, dass er einen Markt mit Freude betrat, und nach wenigen Schritten verdriesste es ihn, zwischen die vielen Menschen, die ihn umschwammen, zu passen. Es kam ihm vor, als sei er eine Fliege unter Millionen Fliegen, die um ein Stück Käsekuchen kreisten, sich auf ihm niederliessen, abhoben, um sogleich sich wieder niederzulassen. Aber er war geduldig, und Riesling trank auch er gern.

Nachdem sie das Bild übergeben hatten, selbstverständlich würden sie das Bild sicher und trocken (vor allem trocken) lagern, in etwa einer halben Stunde würde man sich wiedersehen, das trockene Bild, der trockene Riesling, die trockenen Kehlen, sie lachten einander an, soviel Zeit musste sein, auch wenn der Stand wie meistens voller durstiger, verlangender Kunden war – zogen sie weiter. Karoline hatte einen Plan für den heutigen Abend, und Friedrich folgte ihr.

Sie kauften verschiedenen Käse ein, mediterrane Früchte, Melone und Zitrone, zwei Doraden, alles deutete darauf hin, dass Karoline ein Fisch-Gericht zaubern würde. Sie verriet es Friedrich nicht, als er danach fragte. Er brummte zufrieden, dass er ihre Geheimnisse möge, und dass sie immer wieder (immer noch) für eine Überraschung gut war. Das war, empfand Friedrich selbst, ein etwas karges, effizientes Kompliment, aber für die Poesie im Leben war eher Karoline zuständig. Wobei, daran liesse sich auch zweifeln, sah man, mit welcher Zielstrebigkeit und mit welchem Kalkül Karoline einzukaufen verstand; sie war auch sonst eine organisierte Frau.

Zum Schluss stellten sie sich zwischen die anderen am Weinstand und nahmen nach dem ersten noch ein zweites Glas, das unbedingt jemand spendieren wollte, er gerade einen Kongress hinter sich hatte. Sein Zug nach Hamburg, er würde allerdings vorher aussteigen, ginge in zwei Stunden, bis dahin wolle er sich einen eintütteln, und man habe ihm gesagt, auf dem Markt sei man Mensch unter Menschen. Ihm sei nichts Menschliches fremd, homo sum, humani nihil a me alienum puto, sie wüssten schon, und sie sähen nicht so aus als seien sie ungebildete, garstige, humorlose Zeitgenossen.

Karoline fragte ihn, auf welchem Kongress er gewesen sei. Das, meinte er, könne er gern sagen, aber die Themen würden eine schöne, charmante Frau wahrscheinlich eher anöden. Es sei um Sicherheitsfragen gegangen, nein, nicht um Sicherheitsfragen des Landes („Sehe ich aus wie ein Geheimagent seiner Majestät, nicht mal wie ein Major des BND sehe ich aus!“ lachte er) - sondern um die der privaten Haushalte. Einbruchdiebstahl, einbruchhemmende Fensterbeschläge, Türen im Verlauf von Flucht- und Rettungswegen mit Glaseinsatz. Druckänderungssensoren, kapazitive Feldänderungsmelder – „um was?“, fragte Karoline und verschluckte sich beinahe vor Lachen am Wein, den sie im Munde hin- und herschob.

Friedrich fand, dass der Mann mit der Bemerkung, Karoline sei eine schöne und charmante Frau ein wenig zu plump flirtete. Aber er sah es dem Sicherheits-Spezialisten nach. Der hatte schon einigen Wein intus, sein Gesicht war rund und gerötet, er würde die Zugfahrt nutzen, um auszunüchtern und heimzukehren in den Kreis seiner Lieben.

Friedrich spürte, während der Mann und seine Frau plauderten, wie er zur Fliege wurde. Das geschah ihm oft in Gesellschaften, wenn er sich fehl am Platze fühlte oder sich ausserstande sah, in eine Plauderei zu gleiten: mit einem kleinen Wort-Beitrag, der ihn als charmanten, witzigen, gleichberechtigten Zuhörer auswies. Friedrich stand inmitten des Marktes am Tisch, das Glas Riesling vor sich, und er flog als Fliege von ihm weg. Er umkreiste den Platz, er suchte nach der nackten Frau, obwohl er nicht wusste, warum. Schliesslich liess er sich auf dem Glas eines Fensters im zehnten Stock des Hauses am Rande des Marktes niedere. Durch die Scheibe sah er einen Mann, der im Bett lag und schlief. Die Brust war nackt, und im schwarzen Brusthaar glitzerte Schweiss; eine Fliege hat ein scharfes Auge dafür. Auf dem Nachtschränkchen stand eine halb geleerte Flasche Sekt, das Glas schien dem Mann aus den Händen auf den Teppich gefallen zu sein, ein Fernsehgerät lief, es zeigte die Bilder eines Reitturniers.

„Wollen wir gehen?“, hörte Friedrich. Er war keine Fliege. Er war Programmierer, Mann einer schönen und charmanten Frau, und ihm stand ein Abend bevor, den er schon jetzt als gelungen bezeichnete. Anders konnte es nicht kommen, anders kam es nie.

„Hat mich sehr, sehr gefreut“, sagte der Mann, der aus einer Stadt in der Umgebung Hamburgs gekommen war; er liess den Kopf zu einer Verneigung fallen, beinahe berührte die Stirn sein Glas, und Friedrich zuckte zusammen bei er Vorstellung, es könnte zerbrechen und dem Mann eine blutende Wunde zufügen.
„Ulkiger Typ“, sagte Karoline. „Oder?“ Sie hatten sich das Bild aushändigen lassen und den Markt verlassen. Noch immer waren Himmel und Hölle unterwegs, so viele Menschen, so viele Fliegen, wie mochte es erst in Shanghai sein oder in Lagos, dachte Friedrich Abwegiges. In all diesen monströsen Städten auf dieser Welt. Zwei Nebenstrassen weiter hatte Friedrich einen Parkplatz für das Auto gefunden. Selbstverständlich steckte hinter dem Scheibenwischer eine Benachrichtigung des Ordnungsamtes; er würde fünfzehn Euro berappen, weil er die bezahlte Parkzeit um mehr als vierzig Minuten überschritten hatte. Wo der Markt aufhört, dachte Friedrich, geht der Markt weiter. Und sollte nicht stattdessen die Einsamkeit der Ruhe beginnen oder zumindest die stille Vertrautheit?

5.

Karoline hatte sich ein Glas Wein eingegossen. Sie bestand darauf, allein in der Küche zu hantieren. Der Raum war handlich, aber nicht sehr gross. Die Wohnung gehörte zu einem Mietshaus, das Anfang der 1960er Jahre erbaut worden war. Die Wohnungen waren quadratisch, praktisch, gut. Die Zeit, in der Küchen die mit teuren Möbeln und Geräten ausgestatteten Orte der Geselligkeit, der Tafelei, der Versammlungen und von mindestens der Grösse wie die Wohnzimmer und Schlafzimmer waren, kam erst später. Mach deins, hatte Karoline zu Friedrich gesagt, hier bist du nicht von Nutzen. Sie schmiegte sich an ihn und liess keinen Zweifel, dass er hier in der Küche und im Moment nicht von Nutzen sei, ansonsten schon, durchaus. Auf Koketterie verstand sich Karoline. Noch ehe er die Küche verlassen konnte, hatte Karoline eine CD eingelegt, und ein Lied der französischen Sängerin Zaz erklang.

Friedrich nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er schaltete den Rechner ein und gab das Passwort ein. Mach deins, hatte Karoline gesagt; seins gab es an diesem Abend nicht. Friedrich arbeitete sein Pensum während der Arbeitszeit ab und hatte es gegen sich selbst durchgesetzt, Arbeit nicht mit nach Hause in den Feierabend zu nehmen. Er wollte nicht zu den Menschen gehören, es gab sie mehrheitlich unter seinen Kolleginnen und Kollegen, die nie abschalten konnten oder nie abschalten wollten und die immer auf der Jagd nach der eleganten Lösung eines Problems waren (einer noch eleganteren als die schon gefundene), immer auf der Hatz, einen Auftrag noch perfekter zu erledigen, als es vielleicht nötig war. Friedrich war gern Programmierer, aber er war sich dieses nebulösen Dualismus Mensch und Maschine, der zu verwischen drohte, bewusst. Niemand konnte bis jetzt davon sprechen, dass seine besessenen Kollegen auch nur annähernd Chimären waren. Nein. Nein.

Ihm liefen auf den Fluren in der Firma, in der Teeküche, bei den Meetings keine halben Roboter über den Weg, keine Zombies, die mehr aus Titan und Porzellan bestanden als aus Fleisch und Blut. Dass jemand ein künstliches Haarteil trug, das einem anderen ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt war, dass tatsächlich ein Kollege ein Glasauge hatte und eine Kollegin ein fast unsichtbares Hörgerät – das zählte nicht, das gehörte mittlerweile zum gehobenen medizinischen und kosmetischen Standard. Aber Friedrich besass genug Phantasie, und er las viel darüber, um sich ein Menschen-Wesen vorzustellen, dass sich in gar nicht so ferner Zeit funktional verbessern würde: indem er sich geschicktere Hände, flinkere Füsse, nicht abnutzbare Mägen, ewig schlagende Herzen anfertigen liess.

Friedrich gab die Stichworte FLIEGEN und MARKT ein, ohne dass er zu sagen gewusst hätte, warum. Er trank vom kalten Bier, überflog das Angebot und klickte Nietzsche an. Von den Fliegen des Marktes wurde ihm angeboten, ein Kapitel aus einem Buch, von dem er noch nie gehört hatte. Welch eine Sprache, dachte Friedrich, als er den Text las. Und wie anstrengend, dachte er auch. Unzählbar sind diese Kleinen und Erbärmlichen; und manchem stolzen Baue gereichen schon Regentropfen und Unkraut zum Untergange. Das stimmt vermutlich, dachte Friedrich. Leider zähle ich wohl auch zu diesen Kleinen und Erbärmlichen, obwohl ich weiterlesen müsste, wer diese sind.

Plötzlich ploppte ein Bild auf den Bildschirm. Friedrich fuhr erschrocken zurück. Die nackte Frau vom Mark schaute ihn an. Friedrich schloss die Augen, öffnete sie wieder, drehte sich auf seinem Arbeitsstuhl weg und sah zur Tür. Nicht, dass Karoline plötzlich dastünde; er hätte nicht zu erklären gewusst, wie diese Frau aufgetaucht war, wer sie war, gleich gar nicht, warum sie ihn heimsuchte.

„Du musst dich nicht erschrecken“, sagte sie und lächelte lieb.
Friedrich fröstelte es. Auf seinen Unterarmen bildete sich Gänsehaut, seine Pupillen weiteten sich, als habe er Haschisch geraucht.
„Wer bist du?“, flüsterte er. „Warum begegnen wir uns?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich meine, ich kann es dir nicht sagen, weil ich es nicht kann. Ich weiss es selber nicht.“
„Schickt dich wer?“
„Falls du meinst, ich hätte einen Auftrag oder folgte einem Befehl – mir ist nichts dergleichen bekannt. Ehrlich, ich fühle mich selber, als gäbe es mich nicht. Aber ich bin damit zufrieden.“
„Womit bist du zufrieden?“
„Sagen wir: zu sein und nicht zu sein.“ Wieder lächelte sie. Und kreuzte ihre Arme über der Brust, die von dieser Bewegung angehoben wurde, und es sah aus, als steckte sie in einem Dekolleté; der tiefe, dunkle Spalt des Busens zog Friedrichs Blick auf sich. „Mir ist ein wenig kühl“, sagte sie.
„Mir auch“, sagte er.
„Mir ist, als gäbe es bald ein Gewitter.“

Friedrich schaute durchs Fenster. Die Pappeln, die in der Mitter der Strasse in einer Zweierreihe paradierten und einen Weg für Frauen und Männer säumten, die ihre Hunde ausführten, bogen sich in einem plötzlich aufgekommenen starken Wind. Wolken hatten sich gebildet, und das Abendlicht hatte die fahle Helligkeit, die jegliche Kontur, die der Häuser, der Autos, der Radfahrer, hart betonte.

„Wir sitzen im Sicheren“, sagte er.
„Ich weiss nicht, wo ich sitze“, sagte sie. „Aber ich bin es zufrieden.“
„Das sagtest du schon.“
„Ich finde, das kann man nicht oft genug sagen, wenn es so ist. Es ist schrecklich, unter Unzufriedenen zu sein. Es ist furchtbar, unter denjenigen zu sein, die nie zufrieden sind.“

Friedrich nickte, sie hatte zweifelsohne Recht. Er zählte zu den Zufriedenen, nur dass auch er mitunter tatsächlich vergass, wie gut es das Leben mit ihm meinte. Ihm fielen die Gestalten ein, die er noch vor nicht mehr als zwei Stunden am Rande des Marktes betrachtet hatte. Die Übriggebliebenen. Die Überlebenden. Die in einem Krieg waren, den Friedrich nicht erleben musste. Obwohl es vielleicht nur einer Winzigkeit bedurfte, aus der – Zufriedenheit auf ein Schlachtfeld zu geraten, für das er nicht gerüstet war. Düsterer als dieser Gedanke war jetzt nur das Licht vor dem Fenster, die Atmosphäre kurz vor Blitz und Donner.

„Gibt's was Neues?“, fragte Karoline in seinem Rücken. Durch seinen Körper schoss Adrenalin. Er unterdrückte den Reflex, den Rechner zuzuklappen, das wäre verdächtig gewesen; verdächtig? wessen konnte er verdächtigt werden? er hatte keine Geheimnisse vor Karoline.
„Was Neues?“
„Na da. In der weiten, weiten Welt deiner Nullen und Einsen.“ Karoline trat hinter ihn, massierte kurz und leicht seinen Nacken. „Nietzsche“, sagte sie.
„Uhu.“

Sah sie nicht, was er sah? Noch immer die nackte Frau, die ihn unverwandt anschaute, eine Komplizenschaft, die er sich nicht wünschte, schon gar nicht – unter den Augen Karolines. Aber seine Frau sah nur einen Text und las jetzt, mit ironischem Unterton: „Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich sehe dich von giftgen Fliegen zerstochen. Fliehe dorthin, wo rauhe, starke Luft weht! Schwere Kost, oder? Lass uns lieber Fisch essen, mein Liebster!“ In dem Augenblick, als sie das Ausrufezeichen ihrer Einladung setzte, zuckte ein Blitz durch die Luft, wenig später folgte ein Grollen. Die nackte Frau auf dem Bildschirm war verschwunden.

6.

„Das Geheimnis eines Essens besteht in den Gewürzen und – in den Garzeiten“, sagte Karoline, als Friedrich einen Aquavit in die Gläschen gegossen hatte, um das Mahl zu beenden. Er hatte während des Essens mehrmals gemurmelt, wie köstlich die Dorade sei, hatte herauszufinden versucht, womit sie gewürzt waren – Majoran, Thymian, Rosmarin (frisch und fein gehackt) -, Lauchzwiebeln waren dabei, Kirschtomaten; es war ein Rate- und Genuss-Spiel zwischen ihnen, die unterschiedlichen Zutaten herauszuschmecken, wobei Karoline eher die Rolle des Spielmeisters einnahm, schliesslich wusste sie, was sie angerichtet hatte. „Nein“, sagte Friedrich, als er das Gläschen hob. „Das Geheimnis eines Festschmauses wie dieses Essen besteht darin, dass die Köchin eine Meisterin ihres Faches ist!“

„Mein Lieber“, sagte Karoline; sie stiessen die (eisbeschlagenen) Gläschen, die sie während eines Urlaubs in Dänemark gekauft hatten, gegeneinander. Für einen Moment hörte die Geschäftigkeit auf. Das Essen. Die Vorbereitungen darauf. Der Marktbesuch vorher. Die Welt da draussen. Durch das breite Fenster des Wohnzimmers sahen sie die Kondensstreifen dreier Flugzeuge, die in einer Höhe vorbeiflogen, dass sie erst in Paris oder Oslo oder Amsterdam landen würden. Ein Jegliches war an seinem Platz.
„Das Bild!“ rief Karoline aus.

Friedrich hatte es nicht vergessen. Er hatte es gegen seinen Schreibtisch gelehnt und war gewillt, auf den Moment zu warten, in dem sie beide gemeinsam die Verpackung schälen würden. (Friedrich scheute sich ein bisschen davor, es war ihm seit seiner Kindheit, ein Thema für einen Psychologen? peinlich, Geschenke zu bekommen; er wusste, dass er sich dazu verhalten, äussern musste, und etwa zu sagen, ein Geschenk gefiele ihm ganz und gar nicht – das durfte man nicht.) Er erhob sich vom Tisch und holte das Bild.

Karoline hatte in der Zwischenzeit die beiden Gläschen erneut gefüllt. Auf einem Bein konnte man bekanntlich nicht stehen. Ein Säuferspruch, der es in die Kreise geschafft hatte, die es vermieden, dem Alkohol im Unmass zuzusprechen, oder zuzugeben, dass sie zu viel tranken. Ausserdem, wen ginge der Konsum von Alkohol etwas an, wenn man die Contenance zu wahren wusste.

„Ich bin gespannt“, sagte Friedrich. Er hoffte, erwartungsfroh zu klingen, er fühlte sich plötzlich nicht sehr wohl in seiner Haut. Karoline lehnte sich zurück. Sie überliess den ersten Blick auf das Bild ihrem Mann. Sie kannte das Bild. Sie wusste, er würde es loben, er würde sie loben für ein Talent, über dass er nicht verfügte und dass ihm fremd war – wie eine Frucht, die ihm aber kostbar und schmackhaft war. Karoline war ihm dankbar dafür, dass er ihre Malerei nicht nur tolerierte und zum Teil finanzierte (für ihren sonstigen Lebenswandel konnte sie dank eines Erbes genug beisteuern und musste keinesfalls ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie Geld ausgab) - nein, sie spürte, dass Friedrich sie für eine Künstlerin hielt, deren Zeit kommen würde, und vielleicht hatte diese Zeit heute mit dem Verkauf ihres ersten Gemäldes angefangen.

Um das Bild zu betrachten, musste es Friedrich hochkant auf den Tisch stellen. Eigentlich, dachte er, müsste ich es an die Wand hängen und mehr Abstand zwischen meine Augen und dem Bild bringen, als meine ausgestreckten Arme erlauben.

Er war überrascht. Es war nicht das gleiche Bild, nicht dasselbe Motiv, es war ein durchaus anderes Bild, aber wiederum war es ein ähnliches Bild wie das verkaufte Bild. Auf dem verkauften Bild, ein Längsformat, lag eine nackte Domina mit den Gesichtszügen Karolines vor einem Spiegel. Auf dem geschenkten Bild sass eine nackte Frau vor dem Spiegel, der wie auf dem anderen Bild, von einem nackten Amor (mit dem Gesicht eines erwachsenen Mannes) gehalten wurde. Sass vermutlich eine nackte Frau: Es war eine weisse Körperkontur zu sehen, ein leerer Fleck, doch der Spiegel spiegelte das Gesicht einer Frau, die ihren Blick fest auf Friedrich gerichtet hielt. Wissend schaute sie, fand Friedrich, überlegen, auch kokett und als wollte sie sagen: Ich verrate dir nicht, was ich weiss, mein Lieber. Du musst mich besuchen. Du musst mit mir reden. Du darfst mit mir schlafen. Aber auch dann werde ich nicht wissen, ob ich dir meine Geheimnisse anvertraue. Wahrscheinlich nicht. Eine Frau wie ich, verrät ihre Geheimnisse nicht, Männer schon.

Sekunden verstrichen, ohne dass Friedrich etwas sagte. Schliesslich stand Karoline auf, stützte sich auf die Schulter ihres Mann und fragte, ohne dass sie einen Blick auf das Bild geworfen hatte: „Gefällt es dir?“ Dann kam ein: „Oh! Was ist das?“ Ihr Gesicht wurde kreidebleich; Friedrich konnte es nicht sehen, weil er fasziniert auf das Gemälde starrte. „Originell“, sagte Friedrich. „Sehr ungewöhnlich.“

Er war sehr überrascht. Sonst malte Karoline nach der Natur. Sie verwendete gern die Motive bekannter Maler und übersetzte sie in vertraute Landschaften oder Umstände. Warum sollte der Quai du Pothuis nicht die Uferpromenade am Main sein? Warum der Blick aus dem Fenster in die Berge bei Peira-Cava nicht der Blick aus ihrem Schlafzimmer in den Sinai-Park? Nichts sprach dagegen, sich selbst als nackte Frau vor einem Spiegel zu malen – Velázques hin, Tizian und Rubens hin oder her. Wahrscheinlich gibt es ohnehin eine überschaubare Zahl von Motiven oder Sujets, die immer wieder kehren, immer neu aufgenommen werden, war Kunst nicht ein unaufhörliches Erneuern des Alten, war nicht im Neuen immer das Alte erkennbar? Im Grunde genommen, dachte Friedrich weiter, ist meine Programmiererei nichts anderes: Ich nutze die Möglichkeit, die Kommunikation, die es immer schon gab, auf Nullen und Einsen zu minimieren. Was Friedrich überraschte, war Karolines Entschluss, statt der nackten Frau Haut und Falten - nur diese weisse Kontur zu geben. Einen ausgestanzten Körper, er irgendwohin verschwunden war, falls er jemals existiert hatte.

Vielleicht, dachte Friedrich, ist das ein Quantensprung in ihrer Kunst. Etwas wie ein Versuch, irgendwelche Ideen in ihrer Kunst unterzubringen? Etwas Feministisches? Etwas wie: Ist doch egal, welche Frau von hinten nackt zu sehen ist, entscheidend ist ihr Gesicht im Spiegel? Was eine Frau denkt? Friedrich sah auf – und in Karolines Gesicht. Er erschrak. Sie sah kreidebleich aus, leichenblass. „Das habe ich nicht gewollt“, stammelte sie. „Das ist nicht mein Bild. Wer hat das mit mir gemacht?“ Sie stürzte aus dem Zimmer in das Bad und übergab sich hörbar.

Friedrich sass vor dem Bild, und ihm fiel eine Geschichte ein, die er vor drei, vier Jahren gelesen hatte. Sie handelte von einer Frau, die für das Design und das Interieur sowjetischer Raumschiffe verantwortlich war. Friederich war fasziniert. Der Geschichte wegen und weil es immer wieder Geschichten gab, die ihm Fenster zur Welt öffneten: Wie es als Kind für ihn war, wenn er jeden Morgen im Dezember ein Türchen des Weihnachtskalenders öffnen durfte.

Mathematiker und Physiker errechneten Flugbahnen und die Beschaffenheit des Materials. Techniker bauten die Raketen. Astronomen durchforschten das All. Aber es waren Menschen, die sich auf den Weg machten in die kalte Unendlichkeit. Es waren Menschen, deren Bedürfnisse nicht technische Parameter waren, es waren Frauen und Männer, die man nicht hineinmontieren konnte in einen Apparat als wären sie Schweissnähte unter Schweissnähten, Monitore unter Monitoren. Es war eine Frau, die sich fragte, welche Farben braucht das Innere eines Raumschiffes; damit sich die Kosmonauten zurechtfanden, musste man markieren, wo oben und unten ist. Die Antwort auf die Frage: Die „Decken“ wurden gelb gestrichen, weil es besonders hell leuchtet, die „Fussböden“ wurden grün gestrichen, weil die Farbe ans Gras erinnerte.

Es war eine Frau, die sich fragte, wie die Räume eingerichtet werden können, dass sie auch unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit harmonisch wirkten, menschlich und bequem waren. Die Antwort auf die Frage: Es gab Sofas und Klapptische, es gab Bücherborde, und alles, was herumfliegen konnte, wurde mit Klettverschlüssen versehen, dass Mensch und Ding haften konnten. Die Toiletten waren ein Problem. Die Kosmonauten erzählten, dass sie sich fühlten als sässen sie auf Staubsaugern. Das Problem, erzählte die Frau in einer Zeitungsreportage, konnte sie nicht lösen; aber das Design der Klobrille „passte“ sie an. Die Frau fragte sich, wo stören die Trainingsgeräte (gegen den Muskelschwund) am wenigsten. Wie ordnet man die technischen Geräte an (wie lässt man sie am besten fürs Auge verschwinden). War es nicht angebracht, möglichst viele Gucklöcher zu haben, dass die Frauen und Männer aus der Enge der Kapsel in die Weite des Raumes schauen konnten.

Das Faszinierendste an der Geschichte von dieser Innenarchitektin war: Die Frau malte Aquarelle, Landschaften, Seen, Berge, Täler, Birkenwälder, Heimatliches, Heimisches, die sie an den Wänden der Raumschiffe befestigte. Etwas, auf das die Kosmonauten schauen konnten, wenn sie in ihrem Geschoss Tage und Wochen durch lebensfeindliches Milieu flogen. Etwas, das sie an duftende Wiesen, Pilze, Rehe am Morgen oder an taufeuchtes Gras, trockene, warme Moosdecken erinnerte, etwas, das gegen das Heimweh da war; obwohl es um Heimweh bei Männern, die sich für den Flug ins All und den für wenige Tage nur entschieden, gewiss nicht ging. Diese Bilder wurden angebracht, und - diese Bilder verglühten, wenn sich die Rakete trennte: in eine Kapsel, die an einem Fallschirm niederschwebte und in der die Frauen und Männer steckten, und in einen Teil, der mit dem Eintritt in die Atmosphäre verglühte. Alle Technik dahin. Und mit ihr all die Aquarelle, die jene Frau gemalt hatte, um den Gefühlshaushalt der Frauen und Männer da oben (oder da unten) zu balancieren.

Friedrich fiel der Name wieder ein: Balaschowa hiess sie. Als er von ihr las, war sie schon sehr alt; ob sie noch lebte?
„Balaschowa“, flüsterte er. „Galina Balaschowa.“
„Was sagst du?“, fragte Karoline, die zurückgekommen war; sie hatte ihr Haar hochgesteckt und war nackt. „Ist was?“ Verführerisch, selbstbewusst, unabhängig. Die Frau, die er liebte.

Wieviel Zeit war vergangen, seit sie das seltsame Nichts auf dem Bild entdeckt hatten. Friedrich überlegte, ob er ihr von der sowjetischen Frau erzählen sollte, und davon, dass sie nie darunter gelitten hatte, dass ihre Bilder verglühten. Ein Paradoxon, fand er. Gemalt auf der Erde für eine mobile Galerie, die dorthin flog, wohin nie eine Galerie gelangte. Mit Motiven der Erde, die von den Frauen und Männern verlassen wurde, damit sie sich ihrer Heimat erinnerten. Da sie heimkehrten, zurück auf die Erde, verbrannten die Aquarelle; sie hatten ihre Funktion erfüllt. Die Balaschowa, erinnerte er sich, war auch gefragt worden, ob sie jemals Lust verspürte habe, in den Weltraum zu fliegen. Nein, niemals.

„Nichts“, sagte er. „Es ist nichts.“

Eckhard Mieder