Wundervoller Herbsttag mit vielen Tretbooten in Schwanenform Glücklich mit dem, was das Leben uns bietet

Prosa

Es hätte ein wundervoller Herbsttag werden können, wäre nicht Mama gestorben. Wir – meine Freundin und ich – verbrachten den Vormittag dösend und schwitzend im Bett, und exakt in der Zeit, die wir unter der Dusche verbrachten, begann das Telefon zu poltern.

Glücklich mit dem, was das Leben uns bietet.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Glücklich mit dem, was das Leben uns bietet. Foto: Marcin Szala (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

30. Mai 2013
0
0
8 min.
Drucken
Korrektur
Es hätte wunderbar sein sollen, den Lärm einfach aus meiner Wahrnehmung auszublenden (eine besondere Gabe von mir) und somit nicht meine Schwester ertragen zu müssen, die mir besagte Nachricht ins Ohr schluchzte. Weil wir Mamas Ekel vor Maden, Würmern und überhaupt vor allem kannten, was in der Erde kreucht, war es eine leichte Entscheidung, eine Erdbestattung abzulehnen.

In der Aussegnungshalle lenkte etwas von der Art einer messingfarbenen Dose alle Blicke auf sich, wir nahmen sie mit und Vater Jakob in unsere Mitte und begaben uns, ihm stets den Vortritt lassend, gesetzten Schrittes in Richtung Dutzendteich, wo wir sie auf diesen Herbstwinden tanzen lassen wollten, die bis vor kurzem so sehr ihr Herz erwärmten. Wir nahmen den Bus Nummer 38 bis zur Maximilianstrasse, stiegen dort in die U-Bahn um bis zur Frankenstrasse, nahmen dort die Linie 65, auf die wir lange warten mussten (die Busverbindungen sind in dieser Ecke unserer Stadt sonntags eher spärlich gesät) Vater Jakob mit seinem an einen Zigarettenautomaten gelehnten Kreuze ignorierte professionell die Blicke der mit verwirrten Fingern auf uns deutenden Autoinsassen an der roten Ampel, wie unlängst erwähnt nahmen wir die Linie 65 bis zur Haltestelle Dutzendteich und erhitzten den Bus mit aufmunternden Kirchenliedern.

Es hätte ein weiterer wundervoller Herbstnachmittag sein können, ein Gefühl von Oktoberwärme, von buntem Laub erfüllte mich mit Frieden und Ruhe, einem Peugeot explodierte beim Bremsen ein Hinterreifen, meine Schwester, die Mamas Oktoberfaible genau so gut kannte wie ich, schraubte an der messingfarbenen Dose herum, um Mama mit Frischluft zu erfreuen, ich konnte noch
- Julia nicht
rufen, aber da tanzte bereits ein Restquantum Mama auf den Winden, wärmte sich mit uns am Oktoberlicht dieses Herbsttages, der wunderbar hätte sein können mit diesem Geruch nach Kastanien und spätem, warmen Regen
(Pfützen und viel Laub in den Pfützen)
der Mamas Herz so sehr gewärmt hätte, ich sehe sie leibhaftig
(geschmacklose Wortwahl, bitte streichen)
sehe sie bildhaft
(schon besser, vielen Dank)
vor uns stehen, in ein brombeerfarbenes Kleid gequetscht, mit ihrem nachsichtig auf die Lippen gestanzten Lächeln, dessen Frische sie zurück in ihre Kindheit rotierte, in das Zeitalter jener Fotos auf ihrer möchtegernantiken Wohnzimmerkommode, auf denen sie ihre Schultüte umklammert und selig in die Kamera strahlt mit einem Mund, der zwei Milchzähne am Unterkiefer vermisst. Dieses Lächeln hatte in den siebenundsiebzig seit ihrer Einschulung verstrichenen Jahren nur hinsichtlich der Menge an Zähnen und Zahnfleisch, nichts aber an Signalen von Nächstenliebe und Nachsicht eingebüsst.

- Menschen sind so eitel
war einer ihrer Lieblingssätze, neben
- wo zum Teufel ist meine Heizdecke?
was Mama täglich Momente nach dem Erwachen
(mittags oder so)
keuchte, aus Angst, kraft einer Unterkühlung das Zeitliche zu segnen; wir ihre Kinder gewöhnten uns schnell eine geduldige Routine an, was ihre Launen im Allgemeinen und diese gebetsmühlenartig in ihr pulsierenden - wo zum Teufel ist meine Heizdecke?

Angst im Speziellen betraf, sich zu Tode zu frieren, eine Angst, die nicht unbegründet war, wenn man bedenkt, dass ihr Vater, der Herr sei seiner Seele gnädig, in Stalingrad exakt dieses Schicksal erlitt, und so sahen wir ihre Kinder einen guten Weg darin, unser schlechtes Gewissen mittels dieser Routine abzuarbeiten, die wir uns einen Spass daraus machten, ihre Stützstrümpfe und all die vielen anderen mottengeplagten Kleidungsstücke von einer Schublade in die nächste umzusortieren, bis sie nichts mehr fand und dazu überging, nur einmal in der Woche ihre Kleidung zu wechseln, oder aber wir sandten turnusmässig Spendenpakete an rumänische Waisenheime, was sie ebenso turnusmässig mit Schimpfkanonaden quittierte, die sie zeitnah unter Vater Jakobs sanftem Gemüt
- vierzig Ave Maria und dir sei vergeben
abarbeitete. Julia hatte vorgeschlagen, die verbliebenen Reste ihres Lebens ebenfalls in ein Paket zu stopfen und einem rumänischen Waisenheim zu vermachen, eine Geste selbstloser Grosszügigkeit, die, zumindest in meinen Augen, ihr Geschrei
- verdammte Kacke, das Kreuz
bei der Einäscherung entschuldbar macht; nachdem Mamas Haut aber schon überdeutlich die Farbe und Konsistenz frischgebackener Brezeln annahm, und das bei ihr, die sie sonst immer äusserst blass gewesen war, befahl der Mann am Ofen Julia mit unzweideutigen Worten, sie möge sich entweder hinsetzen oder seinen Machtbereich verlassen. Wir haben noch mit unseren Fingern in der messingfarbenen Dose gewühlt, konnten aber nichts mehr retten. Wie dem aber auch sei. Es hätte ein wundervoller, beinahe phantastischer Oktobertag sein können, ich erwähnte es bereits. Warm blinkendes Licht auf Hausdächern und Pfützen, Pärchen mit Kinderwägen, die letzten Tage, um Eis in einem Strassencafé essen zu können.

Wir schoben jeden Gedanken an italienisches Eis beiseite, aus leicht verständlichen Gründen des Respekts und der Pietät, da Mama in ihrem schwarzen Sonntagskleid und diesen dicken Stützstrümpfen bestimmt furchtbar in der Blechdose schwitzte, Vater Jakob hatte das Kreuz bei der Bushaltestelle vergessen, quittierte seinen Verlust mit einer für einen Soldaten Christi reichlich frivolen Geste des Mittelfingers und stapfte mit Mama in der Armbeuge unverdrossen weiter in Richtung Dutzendteich.

Meine Schwester, meine Freundin und ich folgten im Gänsemarsch seinem Schatten. Der Fussweg am Teich war übervölkert mit jungen Menschen auf Rollerblades und leise, verliebt tuschelnden Pärchen, die unserer Abordnung Blicke zuwarfen, deren Palette sich von verstört bis entgeistert erstreckte. Vater Jakob, am Ufer genau gegenüber der Kongresshalle, murmelte leise mit geschlossenen Augen was weiss denn ich auf Latein und versuchte, den Doseninhalt in den Teich zu streuen. Ich sage nicht umsonst
- er versuchte
nachdem
(das Leben spielt gern solch fade Streiche)
exakt in diesem Moment der Wind schneller wurde, und so vereinte sich ein Teil von Mama mit dem Teichbelag
(Entengrütze, Laub, Zigarettenstummel)

und ich würde einen Besen fressen, wenn dieser Teil von Mama nicht das altgoldene Kreuz umfasst, das sie an einer Kette um den Hals trug, ein Geschenk von ihrem Vater Heinrich, der Herr sei seiner Seele gnädig. Den Teil von ihr, der, ihrem Naturell schon eher entsprechend, auf den Winden tanzte, lenkten wir mit viel Gepuste - adieu, Mama
und Handgewedel
- adieu, Mama
in Richtung Dutzendteich, wo dieser Teil es sich auf den Wellen gemütlich machte, zwischen Entengrütze und Tretbooten in Schwanenform - adieu, Mama.

Ich führe es auf die anpirschende Abendkälte zurück, dass Vater Jakob anschliessend unsere Einladung zu einer Tasse Kaffee und einem Stück gedeckten Apfelkuchen annahm. Altböhmisch gedeckter Apfelkuchen mit Mohn. Unsere Wohnung ist nur wenige Querstrassen vom Dianaplatz entfernt, in einem dritten Obergeschoss

(kein Aufzug)

mit einem Balkon, dessen Panorama, Lärmpegel und Geruchsauswahl von der Tankstelle direkt neben unserem Haus beherrscht wird. Bei klarer Sicht, in wolkenfreien Nächten, sind in der Ferne die roten Signallampen vom Fernsehturm erahnbar, irgendwo ganz hinten die Kaiserburg. Die Wohnung umfasst drei Zimmer mit Pseudoparkett, wir müssen auf Kabelfernsehen verzichten, aber das ist schon in Ordnung so. Doch was rede ich da, es ist nicht in Ordnung so, zumindest allerdings ertragbar oder sagen wir, akzeptabel irgendwie.

Schliesslich sind wir bescheidene Menschen und glücklich mit dem, was das Leben uns bietet. Im Sommer ein schlichtes, gemütliches Frühstück auf dem Balkon; unten auf der Strasse pulsiert und dröhnt das Leben; ich schenke meiner Freundin gerne die von fränkischen Bauersfrauen handgekochten Konfitüren, die auf dem Hauptmarkt feilgeboten werden; ab und an besuchen wir das Landbierparadies und lassen dort Druck ab. Das Leben ist schön. Natürlich sind die veränderten Verhältnisse gewöhnungsbedürftig, bedrückend und dunkel.

Mamas Schlafplatz auf der Bettcouch im Wohnzimmer, der stotternde Rhythmus ihres Schnarchens, während meine Freundin und ich frühstücken, irgendwie vermissen wir das schon jetzt, ebenso ihre grauen Haare im Waschbecken, den alten Einkaufskorb mit den vielen Medikamenten, die das Rote Kreuz nicht als Spende annehmen wollte, was ich wirklich nicht verstehen kann, wenn man bedenkt, wie viele Regentage diese rumänischen Zottelkinder betteln müssen, um deutsche Qualitätsprodukte bezahlen zu können.

All das wird mir fehlen, Gott ist mein Zeuge, es wird mir wirklich fehlen. Mittlerweile jedenfalls bin ich zu dem Entschluss gekommen, am Wochenende den Dutzendteich anzustreben, sämtliche Rollerblades und tuschelnden Pärchen zu ignorieren und einfach den gesamten Inhalt vom Korb Mama hinterher zu kippen. Unter Umständen würde auch dieser Tag ein wundervoller Herbsttag werden können, mit viel Entengrütze, vielen Tretbooten in Schwanenform, auf den Wellen kleine, bunte Pillen. Ich schätze, es wird viel Herbstregen fallen müssen, bis die Pillen versunken sind. Oder sie werden von den Enten gefressen, auf deren Schnäbeln dann das gleiche Lächeln - Menschen sind so eitel voller Nachsicht und Nächstenliebe kleben wird, das auf Mamas Lippen stets dann zu schwelen begann, sobald sie ihre Dosis geschluckt hatte.

Vincent E. Noel