GinTonic, Bier und breite Prolls Night of the Poets

Prosa

Wir verliessen den Laden für den ich seit Jahren zu alt war. Zu meiner Rechten hatte sie sich eingehakt. Sie hiess Katrin, Karin oder Karoline.

Jörn Birkholz
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Jörn Birkholz Foto: Jörn Birkholz

19. Mai 2016
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Im Laufe der Nacht hatte ich ihr verraten, dass ich schreibe, was sie mit „Cool, ich auch!“ kommentierte. Ich erfuhr, wie sie mir ereifernd mitteilte, dass sie bereits einige Gedichte und auch zwei Kurzgeschichten in einer Münchner Literaturzeitschrift, die von einem jungen Schnösel, der nebenbei Germanistik und Kunstgeschichte studierte, geleitet wurde. Sie spendierte mir einen Gin Tonic. Als ich es ihr zehn Minuten später gleichtun wollte, erklärte mir ein breitgrinsender kahlköpfiger Inder hinter der Theke: „Wir nicht mehr Gin.“ Ich bestellte zwei Bier.

Wir überquerten den Bahnhofsvorplatz. Unzählige hatten sich zu dieser späten Stunde hier eingefunden um die Woche zu beerdigen und die neue mit einem anständigen Kater willkommen zu heissen. Mitunter wurden Unflätigkeiten herausgeschrieen, die, wie ich erleichtert feststellte, nicht an uns adressiert waren. Anbei bemerkt, eigne ich mich nicht gut als Frauenbeschützer.

„Überall diese breiten Prolls“, hörte ich sie sagen.
„Ganz nüchtern sind wir auch nicht.“
„Wirst du mich beschützen?“
„Klar.“
Wir kamen in einen weniger belebten Teil der Stadt.
„Wohnst du noch weit?“, fragte sie.
„Geht, so. Und du?“
„Ich weiss gar nicht, wo wir hier sind? Sieht alles so gleich aus … Ausserdem kann ich nicht mehr lange laufen ... Wohnst du noch weit?“
„Nicht weit.“
„Das ist gut.“
Sie hakte sich fest bei mir ein und liess sich mitziehen. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass sie darauf spekulierte die Nacht bei mir zu verbringen. Ich hatte noch nicht mit diesem Gedanken gespielt, geschweige denn ihn herbeigesehnt. Auch konnte ich nicht sagen, wie meine Begleiterin eigentlich aussah. Sie war weder hübsch noch unattraktiv. Ihr Gesicht sah aus wie das einer Cartoonfigur, die noch nicht erfunden wurde. Nichtsdestotrotz umhüllte mich ein wohliger Rausch und ich beabsichtigte geschehen zu lassen, was geschehen sollte.

„Kann ich's lesen?“, fragte sie.
„Was lesen?“
„Deine Texte.“
„Heute?“
„Nein, heute bin ich dazu glaub ich nicht mehr in der Lage ... aber vielleicht morgen oder demnächst?“
„Von mir aus.“
„Worüber schreibst du?“
„Über uns.“

Sie machte sich los und begann mir spielerisch und schlaff auf den Arm zu schlagen.

„Verarsch mich nicht!“, schimpfte sie mit diesem so unpassenden kindischen Tonfall, den Frauen Ende zwanzig gerne gebrauchen um ihre „Niedlichkeit“ hervorzuheben oder sich erfolglos gegen die Vergänglichkeit ihrer Jugend aufzulehnen. Da sie ohne meine Stütze zu taumeln begann, fühlte ich mich genötigt sie festzuhalten. Inwieweit sie eine weibliche Betrunkenheitsshow abzog oder wirklich deliriös war, konnte ich nicht beurteilen; aber es gefiel ihr, dass ich sie umsorgte. Druck! Ein seit einigen Minuten einsetzender mittelschwerer Urinierdrang hatte sich in einen Fortgeschrittenen verwandelt.

„Ich muss pullern.“
„Dann geh, ich warte hier“, sagte sie und lächelte mich an.

Ich ging ein Stück und entdeckte einen übelriechenden Müllcontainer neben einem chinesischen Restaurant, den ich einweihte.

„Eben ist was eigenartiges passiert“, verkündete sie irritiert als ich zurückkehrte und sie deplatziert auf dem Kantstein sitzend vorfand.
„Was n?“
„Ein Bus hat angehalten und der Fahrer hat mich gefragt, ob ich Hilfe brauche ... War der verrückt?“
„Aufmerksam oder hilfsbereit trifft es vielleicht eher.“
„Ich finde der war verrückt ... total verrückt ...“ grummelte sie und dirigierte mit ihren Strohhalmfingern sinnlos in der Luft herum. „Verrückt, verrückt ... ein Stück verrückt ... ich werd erdrückt ... zum Stück zerdrückt ... total missglückt!“

Forschend betrachtete ich dieses vor sich hin brabbelnde lebensfremde Etwas, zündete mir eine Zigarette an und spielte mit dem Gedanken einfach zu gehen.

„Ich kann nicht mehr laufen“, maulte sie nun und liess weiter auf dem Kantstein verweilend den Kopf hängen. Erst jetzt bemerkte ich, was für eine zierliche Person sie doch war. Na toll, dachte ich gerührt. In Zeiten, in denen die meisten Männer zu Frauen, und die meisten Frauen zu Männern werden, muss ich gerade an eines der letzten weiblichen Exemplare geraten, das zerbrechlicher ist, als eine Christbaumkugel.

„Los steh auf!“, sagte ich in väterlichem Ton und zog sie wieder hoch.
„Na gut, versprich mir aber, dass es nicht mehr weit ist.“
„Selbstverständlich.“
„Ich will auch eine“, sagte sie während wir weitergingen und deutete schwankend auf meine Kippe.
„Rauchst du?“
„Nein.“

Ich gab ihr Zigarette und Feuer und liess sie husten.

Nach einer unendlichen Weile bogen wir in eine Strasse, die nicht weit von meiner Wohnung entfernt lag. Hier waren wir nicht allein. Auf der uns gegenüberliegenden Strassenseite erfreuten sich vier Jugendliche daran eine Strassenbahnhaltestelle zu malträtieren. Für einen Augenblick gerieten wir in ihr Blickfeld, und besonders meine Begleiterin erweckte ihre Aufmerksamkeit. Einer rief:

„Ey, Fotze! Willst' mal 'n paar richtige Schwänze sehen?“

Nachdem Katrin, Karin oder Karoline dankend abgelehnt hatte, gingen wir weiter, ohne die Bekanntschaft zu vertiefen. Endlich standen wir vor meinem Wohnhaus.

„Hier wohnst du also.“

Es lag etwas dezent Abwertendes in ihren Worten.

„Ja.“
„Mann, tun meine Füsse weh ... Ich könnte jetzt auch keinen Meter mehr gehen.“
„Na ja, dass waren ja auch fast zwei ganze Kilometer ... Soll ich dir ein Taxi oder nen Krankenwagen rufen?“

Sie lächelte frech und sagte:
„Mach schon auf.“
Ich schloss die Eingangstür auf und wir schleppten uns - eigentlich schleppte ich sie - in den Dritten Stock. In meiner Wohnung, die sie einer eingehenden Prüfung unterzog, füllte ich zwei Gläser randvoll mit Leitungswasser.
„Das ist nett hier ... du hast ja sogar Pflanzen.“
Ich reichte ihr ein Glas.
„Oh, so viele Bücher, hast du die alle gelesen?“
„Nein. Aber ich habe gern eine grössere Auswahl ... Also, wo willst du schlafen? Auf der Couch oder ...“
Ich hatte den Satz noch nicht beendet, da lag sie schon auf meiner durchgelegenen Matratze und blickte mich mit ihren glasigen Augen herausfordernd an. „ ... ich sehe du hast deine Wahl bereits getroffen.“
„Sieht danach aus“, sagte sie lächelnd.
Ich machte mich daran die frisch entstandene knisternde Spannung aufrecht zu halten.
„Willst du Gulaschsuppe?“
„Was?“
„Ich hab noch n Rest Gulaschsuppe ... kommt gut nach Alkohol.“
„Nein danke, das Wasser reicht vollkommen ... Willst du dich nicht hinlegen?“

Sie blieb hartnäckig, ich legte mich zu ihr. Im nu entledigen wir uns der Gläser und unserer Klamotten. Ich schaltete das Licht aus und Dunkelheit umgab uns. Ihr Mund suchte meinen, fand ihn, und ihre windige Zunge forderte mich zum Tanz auf. Es war reizvoll und gleichzeitig albern. Sie war mehr bei der Sache als ich. Um die einsetzende Müdigkeit zu verscheuchen oder noch eine Weile fernzuhalten gingen meine Finger auf Entdeckungstour. Ihr zierlicher Körper reagierte mit ruckartigen Zuckungen, und auch ihr Atem wurde unkontrollierter. Einige aufgeregte Seufzer lösten sich aus ihr. Ich legte mich auf sie und drang etwas ungeschickt (verdammte Dunkelheit) in sie ein.

„Ja, mach weiter“, hörte ich sie noch flüstern bis ich in einen dumpfen Schlaf sank.

Ich erwachte. Draussen war es hell, zu hell, aber dennoch zu früh. Ein Blick auf den Radiowecker verriet mir, dass ich höchstens zwei oder drei Stunden geschlafen hatte. Das Wohlige, welches mich Stunden zuvor warm umhüllt hatte, hatte sich in etwas bedrückend Hässliches verwandelt und pochte laut hämmernd an meine Schädeldecke. Unter mir lag etwas Warmes und atmete gleichmässig. Die Decke war runtergerutscht. Ich stellte fest, dass Katrins, Karins oder Karolines blasse Haut nicht sehr oft mit Sonne in Berührung gekommen war. Ich machte ein leises Bäuerchen und überlegte angestrengt, wie weit ich vom Übergeben noch entfernt lag. Ich musste dringendst für kleine Jungs. Als ich von ihr runter stieg um zum Klo zu torkeln, wachte sie auf.

„Du bist ja schon wach“, murmelte sie verschlafen, griff nach dem noch halbvoll mit Wasser gefüllten Glas und trank gierig. Ich krabbelte aus dem Bett, wankte zum Klo und nachdem ich sitzend uriniert hatte, schüttete ich mir mehrere Handladungen Wasser ins Gesicht. Es half nicht wirklich, aber ich hatte einen Brechreizaufschub erwirkt. Ich legte mich wieder hin.

„Hast du Kater?“, fragte sie, während sie mit ihren Fingern meine spärlichen Brusthaare kringelte. „Ich schon.“
„Ich fühlte mich morgens schon mal frischer.“

Wieder musste ich aufstossen. Ich konnte mich jetzt selbst schwer ertragen, geschweige denn jemand anders. Ich wollte allein sein. Folglich musste ich sie loswerden und griff zu einer plumpen List.

„Ich muss gleich zu meinen Eltern.“
„Jetzt gleich?“, fragte sie erstaunt.
„Leider ja.“

Ich fühlte mich wie ein Idiot, aber es half nichts. Ihr zu sagen, dass ich ihr wegen des Katers jederzeit ins Gesicht kotzen könnte, brachte ich Feigling nicht übers Herz.

„Gib mir noch ein paar Minuten, ja?“
„Natürlich, nur keine Eile.“
Doch ich hatte es eilig, wahnsinnig eilig.
„Besuchst du deine Eltern oft?“
„Gelegentlich, und ich hab meinem Vater versprochen mit ihm nen Badezimmerschrank zusammenzuschrauben.“

Lügen über Lügen! Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich hatte meine Eltern das letzte Mal vor etwa neun Monaten gesehen und über die handwerkliche Fähigkeit einen Badezimmerschrank zusammenzusetzen hätte ich auch dann nicht verfügt, wenn ich stocknüchtern gewesen wäre.

Die Minuten verstrichen. Zu allem Überfluss begann sie sich an mich zu schmiegen. Ich bekam trotz meiner hartnäckigen Übelkeit eine unmotivierte Erektion, die kurz darauf wieder zum Erliegen kam und von ihr zum Glück nicht bemerkt worden war.

Als wir uns endlich angekleidet hatten - wir suchten fast zwanzig Minuten ihren verdammten String, der aus unerklärlichen Gründen unter die Matratze gerutscht war - versprach ich ihr, sie nach Hause zu fahren. Im Treppenhaus stürzte sie dann, und schlug sich sowohl Knie als auch Kinn auf. Wieder in der Wohnung verarztete ich sie notdürftig und wir starteten einen zweiten Aufbruch. Diesmal klappte es; wir erreichten sicher meinen Wagen. Auf dem Weg zu ihr überfuhr ich eine Taube. Der Vogel sass friedlich auf der Strasse und wurde von mir erst wahrgenommen, als er dumpf knallend unter das Auto geriet und meine blessierte Beifahrin erschrocken aufschrie:

„Oh Gott, du hast grad ne Katze überfahren!“
„Vielleicht nächstes Mal, aber das eben war ne Taube glaub' ich.“
Im Rückspiegel sah man Unmengen von gräulich weissen Federn wild durch die Luft wirbeln.
„Vielleicht sollten wir umkehren?“
„Das bringt jetzt wohl nicht mehr viel ...“, sagte ich weiterhin in den Rückspiegel schauend. „ ... oder brauchst du ne Kopfkissenfüllung?“
„Du bist herzlos.“
„Tut mir leid, ich bin noch betrunken.“

Vor ihrem Haus erkundigte ich mich ob sie grosse Schmerzen hatte, was sie verneinte, und wir küssten uns zum Abschied flüchtig auf den Mund. Sie roch nach Alkohol, und wie ich roch wollte ich gar nicht wissen.

„Na dann mach's mal gut“, sagte sie abschliessend schüchtern und gehemmt.
„Du auch“, sagte ich und fuhr davon.

Wieder zuhause entschied ich mich gegens Kotzen und ging schlafen. Ich erwachte als es draussen bereits dämmerte. Mein körperlicher Zustand hatte sich verbessert. Ich räkelte mich auf der Matratze. Das Bettlaken roch leicht süsslich nach ihr und ich fand drei ihrer langen schwarzen Haare. Schade, dass sie fort war, dachte ich.

Jörn Birkholz