Jörn Birkholz Kreuzberger Nacht

Prosa

Hier war ich also, in der Hauptstadt, in einer winzigen Kreuzberger Ein-Zimmer-Wohnung mit nur einem Fenster, das den Blick auf den tristen Hinterhof freigab.

Mehr Artikel
Mehr Artikel

Foto: Jörn Birkholz

30. September 2013
2
0
13 min.
Drucken
Korrektur
Sören meinte, die Bude sei billig und für seine Zwecke vollkommen ausreichend. Er wollte das Leben jetzt bei den Hörnern packen, die Stadt erobern, neue Leute und wahrscheinlich auch Frauen kennen lernen, richtige Leute, richtige Frauen, kurzum: er wollte aus seinem Leben endlich etwas Aussergewöhnliches machen.

Sören war ein verfluchter Egomane, wie so viele. Dennoch haftete seinem egogeformten Charakter, seinem permanenten Gegen den Strom anschwimmen oft etwas Verkrampftes an; so betrank er sich beispielsweise seit mittlerweile fünf Jahren immer konsequent am Tag nach Silvester, da er es: »ekelhaft und zum Kotzen« findet, »dass die halbe Welt am Neujahrstag kollektiv einen Kater hat.«

Zu sagen, dass seine Wohnung spartanisch eingerichtet war, wäre noch untertrieben gewesen. Ich hockte auf dem Fussboden, ein kühles Bier in den Händen; er hingegen sass auf dem einzigen Stuhl und sah mich herausfordernd an:
»Nun bist du also hier.«
»Nun bin ich also hier.«
Ich trank.
»Und wie immer keinen Plan.«
»Im Moment nicht, nein.«
»So, so.«
Sören zog eine kleine silberne Tabakdose aus seinem Jackett und begann sich eine Kippe zu drehen. Hin und wieder blickte er, teils spöttisch, teils überheblich, auf mich herab.
Ich trank.
»Und, Max?«, zischte er, während er sich die Zigarette anzündete. »Was möchtest du machen? Sightseeing Tour? In n paar Kneipen gehn ...?«
»Ist mir egal.«

»Das dachte ich mir. Egal! War dir eigentlich irgendwann mal was nicht egal?«
»Wird das Ganze hier jetzt unentspannt, dann sach Bescheid?«
»Nein, nicht doch ... Ich finde es nur faszinierend, dass dich nichts interessiert, oder dass du nichts wirklich ernst nimmst.«

Sören schwang lebhaft nach vorn und persiflierte mich.

»Ich stell' mir gerade vor, wie so dein Tag verläuft - du stehst also mittags auf und denkst dir: 'Hm, was soll ich mit meiner Zeit bloss anstellen?' Und dann machst du dies und das, gehst ein bisschen raus, dann später wieder rein, guckst ein bisschen Fernsehen, telefonierst, vielleicht liest du sogar was, und dann gehst du irgendwann wieder schlafen. Und am nächsten Tag wiederholt sich das Ganze ... Wie hält ein Mädel wie Iza das mit nem Typen wie dir überhaupt aus?«

Spätestens jetzt wurde mir klar, dass Sören mich nicht mehr als Freund eingeladen hatte, er wollte abrechnen, wollte abbrechen. Es hatte ihm den Rest gegeben, dass sich Iza einen Typen wie mich ausgesucht hatte.
»Wie du weisst, bin ich mit ihr erst seit nem halben Jahr zusammen. Vielleicht hat sie ja bald keinen Bock mehr auf mich ... Dann kannst du ja dein Glück bei ihr versuchen.«

Missbilligend blickte er mich an und zog an seiner Zigarette. Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung zu dritt. Seine Augen konnten nicht lügen, er hatte sich verknallt. Der Arme gab sich die grösste Mühe, dies durch gespielte Gleichgültigkeit zu verbergen. Iza, der sein verbissener Kampf mit sich ebenso aufgefallen war, genoss die Bestätigung, ohne dass ihm dies bewusst wurde. So eine Bestätigung ist für die meisten Frauen unverzichtbar. Sie ist ein starker Antrieb des weiblichen Egos.

»Ich hab mit Germanistik aufgehört«, verkündete Sören.
»Aha.«
»Ja, war nicht auszuhalten. Dämliche Studenten und noch dämlichere Professoren. Zum Abschied hab ich im Mensaklo fett mit Lackfarbe 'Hört auf, die alten Meister zu sezieren, ihr Bastarde!' an die Kacheln gesprüht.«
»Nicht schlecht.«
»Ja, kam gut. Ich fang jetzt mit Jura an.«
»Nicht schlecht.«
»Nicht schlecht!«, äffte er mich nach. »Was will das Mädchen bloss von dir?«

Mir wurde bewusst, dass Sören die jüngste Begegnung mit Iza überhaupt nicht verkraftet hatte. Vor einem Monat hatten wir ihn in seiner bereits geräumten Erdgeschosswohnung besucht, zwei Tage vor seiner Abreise nach Berlin. Eigentlich wollte ich allein zu ihm gehen, aber Iza hatte darauf bestanden mitzukommen. Ihr feuriges Wesen lechzte nach Aufmerksamkeit.

Etwa ein halbes Jahr vorher waren Sören und ich von einem Kurztrip auf Sylt zurückgekehrt. Irgendwann auf der Fahrt musste ich für grosse Jungs. Da wir kein Klopapier und auch keine Taschentücher im Auto hatten, benutzte ich ein paar Socken. Es waren Sören's Tennissocken, die ich schändlich entweiht und auf der Kuhwiese hatte liegen lassen. 'Wie kann dieses wunderbare Wesen nur auf einen Typen ohne Ziele und Perspektiven stehen, der sich mit Tennissocken den Arsch abwischt?', hatte Sören sich bestimmt des Öfteren gefragt, nachdem ich ihm Iza als meine offizielle Freundin vorgestellt hatte.

An jenem Abend tranken wir schweren Rotwein. Das heisst Iza trank viel, Sören mässig und ich kaum, weil ich Rotwein nicht ausstehen kann. Da ich Izas Vorliebe für Theatralik bereits kennengelernt hatte - wenn sie nicht bekam oder hörte, was sie wollte, konnte sie gerne mal demonstrativ ihren Kopf gegen die Wand donnern, um ihren Worten und Forderungen Nachdruck zu verleihen - und genau wusste, dass Alkohol ihr Bedürfnis nur verschlimmern würde, stellte ich mich auf einen anstrengenden Abend ein. Die Show liess nicht lange auf sich warten. Während der liebeskranke Sören immer wieder verschämt auf Iza starrte, nicht ansatzweise fähig, ihr Naturell zu begreifen, und sich jedes ihrer Worte und jede ihrer Gesten zu Herzen nahm, hatte sie ihren grossen Auftritt.

»Du unterdrückst mich, Max«, lallte sie mich plötzlich an. »In Polen war ich frei, ich konnte durchatmen, und hier in scheiss Deutschland ersticke ich. Alle sind hier so kalt und so völlig von sich eingenommen ...«
»Geht das wieder los.«
Sie wies vorwurfsvoll auf mich.
»Siehst du Sören?! Er unterdrückt mich, er weiss nicht mal, wie er mit einer Frau umgehen soll. Er hatte ja bis jetzt auch nur deutsche falsche Schlampen gehabt ... widerliche Brombas.«
»Was sind Brombas?«, fragte Sören übertrieben aufmerksam.
»Frauen mit Trapezkörpern: kleine Titten, ausladendes Becken«, mischte ich mich genervt ein. »Deutsche Frauen, eines ihrer Lieblingsthemen.«

Doch Sören beachtete mich nicht weiter. Er war abgelenkt, da sich Iza kurz an ihn schmiegte, um ihn vollends zu verwirren. Sie liess von ihm ab, kniete auf dem Boden und starrte mich fuchsig an. Sie war nun voll in ihrem Element. Trotz ihrer Trunkenheit fühlte sie intuitiv, dass der arme Sören sein letztes bisschen Verstand verlor. Ich war mir sicher; würde sie sich noch mal so an ihn schmiegen, würde er eine anständige Erektion nicht mehr zurückhalten können. Dieses Luder; wenn sie getrunken hatte, verlor sie alle Hemmungen. Ich hatte langsam die Nase voll.

»Okay, ich denke, das reicht für heute! Lass uns fahren!«
Wie zu erwarten, sträubte sie sich und schlug auf meine Hand, mit der ich sie hochziehen wollte.
»Lass mich, ich will noch ein bisschen hier bleiben! Siehst du jetzt, wie er mich behandelt«, wandte sie sich an Sören und konnte dabei nicht einmal ihr dreistes Lächeln unterdrücken, das Sören natürlich falsch deutete.
»Wenn sie noch bleiben will, dann lass sie doch«, entfuhr es Sören nun.

Du Narr! Iza würde, wäre sie mit dir allein, augenblicklich das Interesse an dir verlieren, dachte ich gereizt. Sie wäre schlagartig gelangweilt, denn ohne mich würde ihr der Kick fehlen; nur angeschmachtet zu werden, war ihr zu wenig. Sie brauchte immer das gesamte Ensemble, und das bestand an diesem Abend nun einmal aus drei Personen, aber woher sollte der arme Junge das wissen. Dass Iza wie ein Engel aussah, bedeutete noch lange nicht, dass sie auch einer war.

Beim zweiten Versuch stand Iza wieder auf ihren Füssen. Sören schritt pompös auf sie zu.
»Wenn es dir nicht gut geht, und wenn du willst, kannst du gerne noch ein bisschen bleiben.«
Obwohl Iza wusste, dass sie es schon zu weit getrieben hatte, war die Vorstellung noch nicht zu Ende. Es war höchste Zeit für den melodramatischen Höhepunkt. Hektisch warf sie ihren Mantel über.
»Nein! Lasst mich beide bloss in Ruhe! Ihr könnt und werdet mich nie verstehen!«

Sie stürzte aus dem Zimmer. Sören aufgeregt hinterher. Er hatte, genau wie ich, bisher nicht sehr viele Frauen in seinem Leben gehabt. Der dramatische Gefühlsausbruch brachte ihn völlig aus dem Konzept, zumal Iza mit ihrem Temperament, ihrem Unschuldsgesichtchen, ihren langen Haaren und nicht zuletzt durch ihren drallen Körper genau seinem Typ Frau entsprach. Vor dem Fenster hörte ich sie schluchzen. (Sie wusste, dass sie nicht zu dick auftragen durfte.) Sie hatte es bis nach draussen geschafft, bevor sie von Sören eingeholt wurde. Beruhigend redete er auf sie ein; sie beschwerte sich über mich, genau wissend, dass ich ihr falsches Gejaule hören würde, mein Name war das Stichwort für meinen Auftritt. Schon war Iza die Lust vergangen, mit Sören allein zu sein. Sie hatte seine vollständige Verehrung, sein infiziertes Herz lag ihr zu Füssen, und noch wichtiger: sie hatte ihre verdammte Bestätigung bekommen. Das Abendsoll war erfüllt. Für mich war es langsam an der Zeit, diese Farce zu beenden. Ich ging nach draussen. Sören schaute erschrocken. Er hatte anscheinend vergessen, dass ich bis eben noch in seinem Zimmer gehockt hatte.

»Da kommt er endlich!«, tönte Iza, theatralisch auf mich weisend. »Das meinte ich, Sören. Dieser Arsch bleibt einfach im Zimmer sitzen, es kümmert ihn einen Dreck, wie's mir geht und wohin ich gehe!«
Ich ging schnurstracks auf sie zu und fasste ihr grob unter den Arm.
»Komm jetzt, für heute Abend reicht's!«

Ich hatte die beiden überrumpelt. Widerstandslos liess sie sich von mir in den Wagen setzen. Sören stand perplex da und würgte an seinen Emotionen.

»Tut mir leid für die Szene. Sie ist noch anstrengender als sonst, wenn sie getrunken hat«, wandte ich mich an den versteinerten Sören.
Er antwortete nicht und starrte erregt auf meine auf den Beifahrersitz gelümmelte Freundin.
»Leb' dich gut in Berlin ein. Wir hören bald voneinander.«
Ich fuhr los.
Wie erwartet sagte Iza während der Heimfahrt kein Wort und streichelte meine Hand auf der Schaltung. Ich schaute kurz zu ihr, sie lächelte vergnügt und summte zufrieden vor sich hin.
Zuhause tänzelte Iza noch angesäuselt herum und begann sich abzuschminken. Ich schaltete den Fernseher ein. Es klingelte. Iza schaute mich mit Zahnbürste im Mund an.
»Werisndasjetztnoch?«, nuschelte sie, und ein wenig Zahnpastaschaum tropfte auf den Teppich.
»Komm runter, Max!«, dröhnte es aus der Gegensprechanlage.
»Wer ist da?«
»Komm runter, hab ich gesagt!«
»Sören, bist du das?«
»Wenn du nicht gleich runter kommst, pisse ich gegen deine Karre!«
Letzten Sommer hatte ich betrunken auf die Motorhaube seines alten Citroens uriniert. Als Sören verärgert wegfuhr, traf ihn ein satter Strahl direkt ins Gesicht, da er vergessen hatte, das Fenster hochzukurbeln.
»Ist mir egal ... Also gut, ich komme runter.«
Iza hatte mittlerweile den Schaum ausgespuckt und schaute mich neugierig an.
»Ist er das?«, fragte sie, ihr freches Lächeln kaum zurückhaltend.
»Scheint so. Ich geh' lieber mal eben runter.«

Sie begann dreckig in sich hinein zu lachen.

»Hör auf zu lachen, ich hab dir gesagt, dass du's heute übertrieben hast ...«
»Ja, ja , schon gut. Nun geh' schon, geh' schon!«
Ich ging nach unten und öffnete die Haustür. Draussen stand Sören mit hochrotem Kopf.
»Komm mal kurz mit!«, forderte er mich auf.

Ich folgte ihm hinter die nächste Hecke.

»Okay, also ums kurz zu machen, ich will so was nie wieder erleben! Das Mädchen ist ja völlig verstört!«
»Wer? Iza?«
»Wer denn sonst, du Arsch!? Warum machst du so ne Psychofolter mit ihr, geilt dich das auf? Du behandelst das arme Mädchen wie Scheisse!«
»Sören, ich glaube, du verstehst da irgendwas nicht ganz richtig ...«
»Sag du mir nicht, was ich verstehe und was nicht!«, schrie er mich an. »Iza ist todunglücklich, das sieht doch der blindeste Idiot!«
»Vielleicht solltest du doch noch mal mit ihr darüber sprechen?«

Mit drohendem Zeigefinger fuchtelte er vor meinem Gesicht herum.

»Ich werde dich im Auge behalten, mein Freund, verlass' dich drauf ... Dieses Mädchen wirst du nicht mit dir in den Dreck hinabziehen ...«

Dann klatschte er mir eine! Der verliebte Narr gab mir tatsächlich zum Ende des verfluchten Abends eine fette Ohrfeige.

»Ich behalte dich im Auge, Max!«, wiederholte er zum Abschied und stieg in seinen Citroen.
Sein Abgang wäre noch eindrucksvoller gewesen, hätte er nicht sechsmal den Motor abgewürgt.
Meine verdammte Backe brannte. Ich kehrte nach oben zurück. Iza stürzte auf mich zu und schaute mich neugierig an.
»Deine Wange ist ja ganz rot! Was ist passiert?«
»Nichts.«
»Habt ihr euch geprügelt?«
»Wir können uns gar nicht prügeln.«
»Aber er hat dir doch eine verpasst, oder?«
»Sieht danach aus.«

Sie begann lauthals loszulachen und kriegte sich fast nicht mehr ein.

»Es freut mich, dass wir dir den Abend versüssen konnten, mein Schatz.«
»O Gott, der arme Junge hat sich anscheinend wirklich in mich verknallt ... Gott muss er dich jetzt hassen!«, prustete es aus ihr heraus.
»Ja, du hast ganze Arbeit geleistet, Baby.«
Ihr Lachen wurde noch dreckiger.
»Okay, mir reicht 's, ich geh' Zähneputzen.«

Ich griff mir meine Zahnbürste und überliess Iza, die mittlerweile Tränen lachte, sich selbst. Während ich meiner Zahnhygiene nachging, kehrte im Zimmer langsam wieder Ruhe ein. Als ich fertig war, stand sie splitternackt vor mir, lächelte hinterlistig und dirigierte mich mit dem Finger heran.
»Komm mein Süsser, Iza ist spitz heut Abend.«

Ich kam.

Meine Flasche war leer. Sören beäugte mich noch immer forschend.

»Noch n Bier?«, fragte er unwillig.
»Nein, danke.«
Auf einmal hämmerten dumpfe Bässe durch die hohe Zimmerdecke.
»Was ist das? ... Grönemeyer?«
»Ja, mein Nachbar hat wieder Stress mit seiner Alten. Dann muss immer Grönemeyer ran ...«
»Gute Lautstärke.«
»Heute geht's ja noch. Vorgestern gab's: "Sie mag Musik nur wenn sie laut ist" fünfzehn oder zwanzigmal hintereinander, und zwar mindestens doppelt so laut.«
»Kreuzberg ist schon n verrücktes Pflaster.«
»Ja ... lass mal los!«
»Wohin?«
»Sehn wir dann.«
»Okay, ich muss nur noch eben scheissen, Grönemeyer animiert.«

Ich stand auf und ging zum Klo.

»Meine Socken sind im Wäschekorb!«, rief er mir hinterher.

Jörn Birkholz