Erster Teil Der Waldmensch

Prosa

Ich hörte davon, erst neulich wieder, als ein Mann durch den Wald stolperte und immerzu rief: „Ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!“

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Foto: em

18. Januar 2018
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Als ich auf den Weg trat, ich wollte ihm helfen, zuckte er zusammen, krümmte sich, fiel auf die Knie und bat um Nachsicht. Er wimmerte etwas, es klang wie: Ich habe es nicht gewollt, ich habe immer nur getan, was verlangt wurde, ich habe es nicht verdient, untergebuttert zu werden. Ich verstand nicht genau, was er klagstöhnend schrillte, ungefähr das war es.

Ich bat ihn, er möge sich beruhigen. Tief im Walde, wo wir uns befanden, drohe ihm nicht Gefahr und nicht Leid. Nur er und ich, umgeben von Milliarden Ameisen, Pilzen, Mücken, Bäumen, Rehen etc. pp., die nichts Böses wollten oder nur etwas wollten, was wir ohnehin nicht verstanden, existierten auf der Welt.

Der Mann, ich sah hinab auf seine Halbglatze, noch immer lag er auf Knien, fingerte in seiner Hose nach irgendetwas. Als er es herauszog, es war ein so genanntes Smartphon, und darauf fingerte – und feststellte, dass es keinen Empfang gab, warf er es ins Gebüsch und sich selber wimmernd hinterher.

Mir kann es im Grunde gleich sein, ob jemand sich zufällig oder absichtlich im Wald verirrt. Ob er Spass daran hat, sich zwischen Pfifferlingen, modernden Wurzeln und wilden Himbeeren wehzutun. Ob er vor einer Insolvenz oder aus einer Ehe geflüchtet ist. Ob er jemanden totgefahren oder im Lotto gewonnen hat und über das eine oder andere oder etwas ganz Anderes wahnsinnig geworden ist. (Obwohl, dachte ich, zwischen einem Totfahrer und einem Lotto-Gewinner – da müsste ich mich zwischen Hilfe und Anzeige entscheiden?)

Da richtete er sich auf, und sein Blick stach nach mir. Mit dolchklarer Stimme sprach er: „Der Kapitalismus ist der letzte Scheiss!“ Mir war das nicht ganz neu. Diese Erkenntnis hätte mich nicht in einen Wald getrieben, um mich wehklagend ins Moos zu werfen. Entweder lebt man in dem Scheiss oder man versucht, sich ihm zu entziehen. Man könnte ihn auch bekämpfen, ohne oder mit Gewalt, das schien mir seit Jahren eine unwichtige Entscheidung zu sein. Man musste es nur wollen. Man musste nur entweder zu einem Pflasterstein oder zu einem Pamphlet greifen. Und am besten, man organisierte sich und hatte eine Idee vom kollektiven Post-Kapitalismus.

Aber das waren Gedanken aus der Zeit, in der ich noch im Zentrum der Scheisse lebte; sie schossen in mir kurz auf wie Pilze nach dem warmen August-Regen. „Der Kapitalismus ist nicht der letzte Scheiss“, sagte ich dem Mann. Ich hatte das Gefühl, er brauchte Widerspruch. Klare Kante. Es gibt so viele Menschen, die sich nach deutlichen, brutalen Ansagen sehnen. „Er ist ein Scheiss, der sich immer wieder erneuert. Oder so gesagt: Ein wohl duftender Haufen Kacke, der immer und immer wieder aus dem Arsch des Kapitals plumpst. Kapiert?“

Meine Idee war es, dem vor Jahren auszuweichen. Also die Scheisse nicht auf meinen Kopf klatschen zu lassen und - ihn aus meinem Kopf herauszukriegen. Ich war dieser Gefühle, all dieser Gefühle, Neid, Habgier, Mordlust, Eifersucht überdrüssig. Ich wusste, dass ich davon nie frei sein würde. Aber ich wusste auch, dass ich nicht sterben wollte, ohne versucht zu haben, frei davon zu sein. Und ich ging mit meinem Zelt in den Wald, wohl wissend, dass in Deutschland derlei Aufenthalt verboten ist. Entdeckt hat mich bis heute niemand. Also?


Zweiter Teil

Eckhard Mieder