Roman von Eckhard Mieder Die im Regenbogen wohnten (Teil 3)

Prosa

Was sich danach abspielte, war wie ein Sportkrimi. Die Gäste setzten nun erwartungsgemäss alles auf eine Karte.

Ernst-Thälmann-Schule in Leuna, Sachsen, Dezember 1980.
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Ernst-Thälmann-Schule in Leuna, Sachsen, Dezember 1980. Foto: Dietmar Rabich-Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0 cropped)

19. Juli 2022
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Korrektur
„Was sich danach abspielte, war wie ein Sportkrimi.
Die Gäste setzten nun erwartungsgemäss alles auf eine
Karte. Und auch jetzt – oder gerade jetzt – bewies
unsere Elf mit besonnenen Aktionen die Fähigkeit, sich
von einer Weltklasse-Elf nicht mehr überraschen zu
lassen. Ja, nach einer exquisiten Dublette zwischen
Thom und Doll wäre fast noch das 3:1 gelungen. Wir
bemerken das nur, um plastisch zu machen, wie
spannungsgeladen die letzten Minuten in Karl-Marx-Stadt waren.“

Neues Deutschland, 9. Oktober 1989, aus dem Bericht über das Fussball-Freundschaftsspiel DDR-UdSSR

Donnerstag, 19. Oktober

Vera schlief. Sie schlief seit Tagen, begleitet von den monoton tackenden und piependen Geräuschen einer Maschine, die sie leben lässt; und illustriert von den Zickzack-Kurven grüner und roter Linien, die unaufhörlich auf zwei Monitoren laufen, und als fahles, kaltes Licht auf das Deckbett und auf ihr Gesicht fallen.

Wachte sie manchmal auf und sah, was sie träumte? Oder sah sie, was sie träumte, im Halbwachen? Oder stand sie kurz vor der Grenze – vor der Grenze zum Tod – und sah, sich umdrehend zurück auf ihr Leben, zurück auf diesen entsetzlichen Tag?

Immer wieder liefen Bilder ab, Filme, ohne Geräusche, ohne, dass die Wörter, Rufe, Schreie, die aus aufgerissenen Mündern kamen, zu hören waren. Stummfilm, farbiger Stummfilm; unheimlich, beängstigend in seiner Präzision.

Das bleich-bläuliche, bläulich-bleiche, bleich-bläuliche Licht, das die kreisenden Blaulichter auf die Gesichter warf; leichenfarbene Haut.

Das Rot plötzlich auf ihnen, Blut, woher kam das? Warum waren plötzlich alle Geräusche weg? Wie abgesaugt als Krümel von einem unsichtbaren akustischen Staubsauger.

Vera sah sich von oben: als wären ihre Augen ein entferntes Kameraobjektiv. Sie sah sich, da! ein Knopf zwischen Knöpfen! Ein wogender Strom von Knöpfen mit Haaren. Ein Strom, der sich zusammendrückte, zusammengedrückt wurde, dann wieder zerfaserte, als risse ihn jemand auseinander. Waren das Polizisten? Ja, jetzt, da jemand anderer die unsichtbare Kamera hielt, sah sie sich selber. Sehr nahe. Die Augen aufgerissen sahen in die Augen von jungen Männern in Uniformen, und falls es Angst war, die Vera sah, dann sah sie die bei sich und bei dem Volkspolizisten, der plötzlich vor ihr zu wachsen schien; ein Riese mit Schild und Knüppel.

Vera schlief und träumte und bäumte sich auf. Sie schwitzte, und die Kurven auf den Monitoren spielten verrückt, und das Piepen wurde schneller, und Vera nahm nicht wahr, wie ihr Zimmer voll wurde: Menschen in grünen Kitteln (waren die von einem ähnlichen Grün wie das Grün der Polizeiuniformen?) pressten an ihrem Leib und an den Schläuchen, bis sie wieder ruhig atmete.

Vera hatte keine Schmerzen. Sie musste welche gehabt haben. Im Kopf, in den Beinen, im Bauch. Sie war einer Figur in einem Zeichentrickfilm; die Figuren haben keine Schmerzen, sie sind künstlich, sie sind zuckende Zeichnungen.

Vera schlief.

Grad hörte sie die jaulenden Sirenen, das Gebell der Hunde und die Stimme aus dem Megaphon. „Gehen Sie auseinander! Gehen Sie weiter! Räumen Sie die Strasse!“

Vera sieht die Gesichter der jungen Männer unter den Mützen. Nicht mal richtige Helme tragen sie. Sie haben die gleiche Angst wie sie, nein, sie haben eine viel grössere Angst. Das kann sie sehen, deutlich. Aber sie haben auch Stöcke und Befehle. „Hier spricht die Staatsgewalt! Wenn Sie nicht unverzüglich den Aufforderungen nachkommen, sehen wir uns gezwungen, sie festzunehmen!“ Gelächter antwortet. Höhnische Rufe. Die Vernunft ist flöten gegangen, und es ist egal, ob jemand provoziert oder anfängt oder „Aufhören! Keine Gewalt!“ schreit.

Vera fliegt wieder. Schaut hinter sich, sieht, kleiner werdend ihre Mutter. „Mama!“, schrie Vera lautlos; wieso fliegt sie und ist doch an der Seite der Mutter? Greift nach ihrer Hand, wird abgedrängt, ihre Arme erhoben zum Schutz, als sie in der Menge verschwindet, eine Menge, die nur noch aus Mündern und Zähnen und blitzenden Lichtern besteht.

Vera sieht noch einmal die Mutter. Auch die geht grad unter. Wie sie, die Tochter. Vera stürzt, Vera gerät unter Schuhe, Stiefel, unter die Menschen, die nicht wissen, wohin. Dann hört sie das Schreien, bis sie nichts mehr hört: „Mörder! Mörder!“

Aber nun erwachte Vera. Blinzelte ins Licht.

Lag sie in einem Garten? Um das Bett herum, im Zimmer verteilt, auf dem weisslackierten Nachtischchen, auf dem Tisch, der vor dem Fenster steht und an dem zwei Stühle – überall Blumen. Chrysanthemen, Astern, Rosen Lilien. Zwölf Tage lang hatte Vera im Schlaf verbracht. Zwölf Tage lang war sie eine Marionette, die an Schläuchen hing, durch die sie mit Luft versorgt wurde, mit Nahrung, die ihr den Schleim von der Lunge saugten, damit sie nicht erstickte. Und während der zwölf Tage hatte sie jeden Tag Besuch. Menschen, die auf sie einredeten, Blumen mitbrachten, ihre Hände streichelten, und waren die meisten auch nicht gottesfürchtig – sie beteten um Veras Auferstehung. Sie hatten mit den Blumen das Krankenzimmer in einen Garten verwandelt, den die Krankenschwestern, nachdem sie nach der Patientin geschaut hatten und alles für „in Ordnung“ befanden, wässerten, richteten und Verwelktes entsorgten.

Ich liege in einem Garten, die Luft ist kühl, aber mir ist warm, und mir ist matt zumute. Ich möchte nie fortgehen von hier; es ist das Paradies. Und sie sah: Neben dem Bett sass ihre Mutter, am Ende des Bettes stand der Vollbart Albert.

„Verotschka?“, flüsterte Victoria. „Kannst du mich hören?“
„Wer ist der da?“, fragte Vera und zeigte auf den Mann zu ihren Füssen.

Ihre Mutter schluchzte. „Veralein, hast du dein Gedächtnis verloren? O Gott!“
„Ich weiss, wer das ist“, sagte Vera ernst. „Arnold Schwarzenegger mit Bart. Geil.“

“Vera, mein Engel …“

“Mama! Ich weiss, dass der Waldschrat da Albert ist.“ Sie und er zwinkerten sich zu und grienten; Victoria Lothringen war bleich geworden und sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig vom Suhl auf das Linoleum sinken. „Das ist nicht lustig“, knurrte sie.

„Nein, das alles nicht lustig“, sagte Vera. Und gähnte; sie fühlte sich behaglich.

„Kannst du dich erinnern?“, fragte die Mutter. „Was geschehen ist?“
„Ja“, sagte Vera; aber was sollte es bringen, sich zu erinnern? Man konnte darüber reden, man konnte es auch sein lassen. Frieden finden, oder sowas. Heilen, geheilt werden, was geschehen ist, ist geschehen. Es lässt sich nicht mehr ändern, einfachste Wahrheit.

Sie hatten sich auf dem Alexanderplatz getroffen, nachmittags, und sie wurden immer mehr. Die Frauen und Männer, die sich an den Freitagen bei dem Ehepaar Münch versammelten – Sabrina, die Tochter der Münchs, und Vera umarmten sich –, bildeten eine Gruppe für sich. Um sie herum, bildeten sich Grüppchen, einzelne Frauen und Männer kamen aus dem S-Bahnhof dazu, und dann liefen sie los. Es gab niemanden, der führte, niemanden, der einen Befehl gegeben hatte – es war, als existierte nur eine Richtung, und jeder und jede in der Menge kannte sie; ein Marsch synchronisierter Beine, Köpfe, Leiber.

Sie liefen am Fernsehturm, an der St. Marienkirche, am Marx-Engels-Denkmal, über die Brücke, am Palast der Republik vorbei und schwenkten nach links auf den Platz vor dem Haupteingang, über dem das Symbol der DDR hing. Hammer und Zirkel, umrandet von einem Kranz Getreide-Ähren. Und auf die Terrasse traten die Hohen Gäste der offiziellen Geburtstagsfeier: Regierungsvertreter, Erich Honecker, ausländische Gäste, unter ihnen der sowjetische Partei- und Regierungschef Michail Gorbatschow. Sie winkten der Demonstration zu, und die Rufe, die die hörten, konnten keine anderen sein als die, die sie gestern Abend schon gehört hatten. Als der Fackelzug der Freien Deutschen Jugend vorbeidefiliert war. „Hoch lebe die SED!“; „Hoch lebe Erich Honecker!“; „Frieden, Freundschaft, Solidarität!“ – Aber die Rufe heute lauteten anders; verstanden sie richtig, oder hörten sie sie gar nicht? Gelangten die Rufe nicht bis nach oben, auf die Terrasse? „Gorbi hilf! Gorbi hilf!“; „Wir sind das Volk, wir sind das Volk“; „Pressefreiheit – Meinungsfreiheit!“ Die da unten pfiffen auf Trillerpfeifen. „Wir pfeifen auf die Wahl!“ Die im Mai stattgefunden hatte und als gefälscht entlarvt worden war, und die da unten wollten sich nicht länger betrügen lassen.

Die Gäste verschwanden von der Terrasse ins Innere des Palastes, und aus den Bussen, die den Platz eingerahmt hatten, quollen Bereitschaftspolitisten. Sie formierten sich, schlossen die Demonstranten ein, kanalisierten sie und drängten sie vom Palast der Republik weg.

Wieder war niemand, der führte, niemand, der einen Befehl ausgab – und doch wussten alle, wohin sie laufen mussten: Die Karl-Liebknecht-Strasse hoch, links des Weges steht das Hochhaus der Berliner Zeitungen, rechts steht das Hochhaus des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes, links in die Wilhelm-Pieck-Strasse, um nach rechts in die Schönhauser Allee abzubiegen. Entlang der ältesten U-Bahn-Strecke Berlins, die hier auf eisernen Pfeilern nach Pankow stakst. Das Ziel des Demonstrationszuges war die Gethsemanekirche, die seit Wochen der Opposition ein Dach und eine Bleibe bot. Für Diskussionsrunden, für Informationsabende, als Verteiler von illegal gedruckten Schriften.

Doch soweit kamen die Demonstranten nicht. Polizisten und Sicherheitsbeamte in Zivil kreisten sie ein. Eine Jagd begann, von der Schönhause weg, in die Stargarder Strasse, ein Kesseltreiben. Schreie, „Keine Gewalt!“ wurde gerufen, eine Zauberformel, die nichts bewirkte. Schläge, Verhaftungen, Menschen fielen --- Vera Lothringen fiel.

Es war Abend geworden, herbstlich dämmerig.

Aus dem weit offenen Tor der Kirche und ihren Fenstern drang das Lichtder Lampen und unzähliger Kerzen auf den Platz, auf dem in einem Meer von Kerzen ein Segen spendender Jesus in Stein steht. Und wer von den Demonstranten der Verhaftungs- und Prügelorgie entkommen konnte, floh in die Kirche --- Vera Lothringen war nicht unter ihnen. --- „Mörder, Mörder!“-Rufe. --- Die Mutter abgedrängt, die Arme erhoben, sie verschwand in der Menge. --- Auch Albert, der Freund, der in seinen Turnschuhen und in seinem Parka und mit seinem Vollbart ---

„Geht es dir wirklich gut?“ Vera lächelte ihre Mutter an. Klar doch.

„Sie braucht Ruhe“, sagte Albert.

„Wir kommen morgen wieder“, sagte die Mutter.

Klar doch. Macht das. Ich habe euch lieb.

„Ich hab dich sehr lieb, Tochter“, sagte Victoria und küsste Vera auf die Stirn.

*

Und Vera schlief. Paradiesisch.

„Das Paradies, hoho, du glaubst doch nicht an das Paradies. Du glaubst auch nicht an einen Gott. Ich weiss nicht genau, ob ich dir ein Zimmer im Paradies freihalten sollte.“

Die Stimme, die Vera hörte, klang trotz der Strenge der Sätze weich, gutmütig und ruhig. Sogar ironisch; war Gott ironisch?

„Ich glaube an das Paradies.“ Vera konnte nicht sprechen; sie hatte in diesem Traum die Stimme verloren. Ihre Lippen bewegten sich. Sie konnte hören, was sie nicht laut aussprach; und Gott könnte sie auch hören. „Aber mein Paradies liegt nicht im Himmel. Oder so. Und tot, tot bin ich doch nicht, oder?“
„Gott behüte!“ Die Stimme lachte. „Eine gelungene Formulierung, wenn ich mir dies Eigenlob erlauben darf.“
„Was ist passiert?“, wollte Vera wissen.

„Geht mich nichts an. Was Menschen sich antun, ist nicht meine Angelegenheit. Ich habe genug damit zu tun, das Paradies zu verwalten und die Hölle einigermassen im Griff zu haben. Glaube mir, es ist ein verantwortungsvoller Job, und nichts ist mir peinlicher als ein Fehler. Sagen wir mal, ich reserviere ein Zimmer im Paradies für die Polizisten, die dich geschlagen haben, und so eine wie dich weise ich in die Hölle ein! Ein furchtbarer Fauxpas! Wiederum muss ich erwägen: Muss jeder Polizist in die Hölle, und darf jedes Mädchen in den Himmel, nur weil es ein Mädchen ist?“
„Ich erinnere mich nicht genau. Haben mich Polizisten verprügelt? Oder wer? Bin ich gestürzt? Ja, ich muss gestürzt sein …“
„Es war nicht recht von mir, dir davon zu erzählen. Auch das darf ich nicht. Ich darf dir weder sagen, was war noch was wird. Das mit den Polizisten ist mir so rausgerutscht.“
„Man wird älter, nicht wahr“, scherzte Vera.

„Das kann ich dir flüstern. Aber man wird alt wie ne Kuh und lernt immer noch dazu. Oder auch nicht, wie?“ Die Stimme kicherte, als würde sie von jemandem gekitzelt.

Samstag, 21. Oktober

Die Tür flog auf und knallte gegen den weisslackierten Kleiderschrank. „Mist! Blöder!“, ging ein Fluch durch den Blumenstrauss, gross wie ein ausgewachsener Johannisbeerenbusch. Unter dem floristischen Monstrum waren zwei Beine in einer Camouflage-Hose und Füsse in schweren Wanderstiefeln zu sehen. Vera musste grinsen. Dominik, ihr Vater; wo er eintrat, da trat er auf. „Entschuldige“, sagte er, „die Scheisstür ist mir aus der Hand gerutscht.“

Vera sass im Bett. Zu Teilen noch in Gips verpackt war sie nicht mehr die Puppe, die an Schläuchen hing; die waren verschwunden, ihr Körper funktionierte wieder ohne Hilfen. Der Vater suchte nach einem Gefäss, in das er den Strauss verstauen konnte, fand nichts in passender Grösse, währenddessen fluchte er weiter. „Diese Schweine!“, grollte Dominik. „Diese verdammten Schweine! Was haben sie mit dir gemacht?“
„Warum fluchst du?“, fragte Vera leise.

„Das kann nicht wahr sein“, regte er sich weiter auf. „Ich filme irgendwelchen offiziellen Mist, während meine Tochter zusammengeschlagen wird! Ich bin nicht bei meiner Tochter, als sie Schutz braucht!“

Vera fühlte sich, nicht zum ersten Mal in den Tagen im Krankenhaus, ausgeglichen und erwachsener als die Erwachsenen und ruhiger als all die Aufgeregten, die immerzu irgendwen bestrafen wollten, Schuld suchten, mit den Fingern auf Staat und Staatsgewalt zeigten. Sie waren wie Max und Moritz auf speed. Vera sah sich nicht als Opfer; das Opfer einer Tätlichkeit, eines oder mehrerer Polizisten, das schon, aber nicht als Opfer eines – Staates.

„Das ist doch absurd!“, ging Dominik weiter mit sich ins Gericht. „Ich bin dabei, als die feiern! Ich esse mit ihnen zu Abend. Häppchen vom Lachs, ein Tellerchen Soljanka, Häppchen vom geräucherten Aal. Alle lächeln, alle tun so, als sei die Welt in Ordnung, dabei ist nichts in Ordnung!“
„Du bist Kameramann, was regst du dich auf?“ Ein Kameramann, hatte er oft genug gesagt, als er noch in der Familie anwesend war – ein Kameramann ist ein dienstleistender Beobachter, der sich nicht einmischt. Eine Kamera ist unparteiisch, war Dominiks Credo. Und er war nicht der Mann, der darüber grübeln würde, ob nicht ein jedes Ding zu sehr unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden könnte. Je nachdem, wer es mit welcher Absicht einsetzte?

Vera schaute ihren Vater an, als sähe sie ihn zum ersten Mal an. Richtig an, anders an?Sie liebte ihn, sie würde ihn immer lieben, aber er war ein schwankender Mensch. Sie sah ihn überdeutlich, jetzt, wie er in seiner Wut – irgendwie auch Theater spielte. Ein Mann, der Frauen faszinierte und stark wirkte, aber in Wahrheit unsicher war. Seltsamerweise – fiel ihr Gernot ein, der Freund.

„Ich werde mich beschweren! Ich gehe bis zum ZK! Ich gehe ins Büro von Honecker und verlange Aufklärung! Das verzeihe ich diesem Staat nie!“

Honecker? Fast hätte Vera laut losgelacht. Wusste Dominik nicht mal, dass es den nicht mehr gab als Chef vom Ganzen? Abgesetzt, entlassen, verstossen. Eine Funktionärsnase weg, eine andere an seiner Stelle; da hatte Vera im Krankenbett ja mehr erfahren als ihr Vater in action. Andererseits, auch typisch. Ein Kameramann hielt sich raus, oder, Väterchen? Zu viele Wörter, die poltern. Wörter, die dicke tun und sich aufplustern und aus denen die Luft entweicht, wenn man eine klitzekleine Nadel in sie hinein sticht. Dominik, fand Vera, benahm sich wie ein Clown in der Manege, der seinen geschminkten Mund weit aufreisst – aber es kommt nichts Gescheites raus. Nur Lachhaftes.

„Der hatte mehr Schiss als ich“, sagte Vera ruhig.

„Was? Wer?“
„Der Polizist. Der mich verletzte. Weisst du, ich weiss gar nicht, ob er mehr Schiss hatte oder ich. Er schlug – ja, er schlug, als wollte er es nicht. Und weil er es nicht wollte, schlug er um so doller. Ich weiss nicht. War es Angst, seine Angst, die ihn schlagen liess?“ Sie hielt inne, sie sah die Augen des jungen Polizisten wieder, es waren die Augen der Jungs in ihrer Klasse, nur zwei, drei Jahre älter, und die Uniform, die er trug, die werden meine Jungs in zwei Jahren auch tragen. Der Peter, der Gernot, der Mark …

„Du verteidigst die Polizisten?“
„Verteidige ich sie? Ich weiss nicht, ob ich sie verteidige. Ich hatte das Gefühl, ich kenne sie. Wahrscheinlich heisst der eine Ralf und kommt aus Magdeburg. Oder es war Johann aus Parchim. Verstehst du, Papa?“
„Na gut“, sagte Dominik. Er hatte sich auf das Bett gesetzt und Veras Rechte zwischen seine Hände genommen. Starke, warme Hände, Hände die mit Technik umzugehen wussten – und mit Frauen. „Sag mir, was du brauchst, Töchterlein.“

„Nichts“, antwortete Vera. Und es stimmte. Nichts – ausser der Gewissheit, nicht allein auf der Welt zu sein; und dass sie nicht allein war, bewiesen die vielen, die sie besuchten.

Ein Rauschen dann --- Wieder Nebel und aufgeregte Stimmen der grünen Anzüge --- nicht die Uniformen, medizinisches Personal ---All die vielen, die sich um sie kümmern und dafür sorgen, dass das Blut kreist, das Herz schlägt und die Knochen zusammenwachsen --- Dassder Körper gesundet.

*

Am Abend kamen Werner Kotte und Christa Schaffner. Der Lehrer legte eine Zeitung, etwas älter schon, zu den Blumen, zur Schokolade und zu den Saftflaschen. Eine seltsame Dreieinigkeit, dachte Vera: Was Süsses zum Essen, was Süsses zum Trinken und was Süssliches zum Lesen. Wenn das so weitergeht, mache ich einen Kiosk auf und verkaufe an die anderen Patienten im Krankenhaus.

Kotte hatte eine Meldung mit rotem Filzstift unterstrichen. „Störungen der Volksfeste verhindert. In den Abendstunden des 7. Oktobers versuchten in Berlin Randalierer, die Volksfeste zum 40. Jahrestag der DDR zu stören. Im Zusammenspiel mit westlichen Medien rotteten sie sich am Alexanderplatz und Umgebung zusammen und riefen republikfeindliche Parolen. Der Besonnenheit der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie der Teilnehmer an den Volksfesten ist es zu verdanken, dass beabsichtigte Provokationen nicht zur Entfaltung kamen. Die Rädelsführer wurden festgenommen.“ Kotte las die Nachricht vor. „Das war vor zwei Wochen, Vera. Erinnerst du dich?“
„Habe ich ja Glück gehabt, dass ich vorher ins Krankenhaus gekommen bin. Bevor sie mich verhaftet hätten“, sagte Vera. „Was ist ein Rädelsführer?“, fragte sie.

„Tja, die Ärztin meinte, dein Gehör wäre infolge eines heftigen Schlages auf den Kopf in Mitleidenschaft gezogen worden.Mir scheint, du kannst exzellent hören“, sagte Kotte.

„Abgesehen davon, dass dein rechtes Fussgelenk gebrochen ist, und ein paar andere lächerliche Sachen dazu, was zur Folge hat …“, sagte Christa.

„ …dass dieses hübsche Mädchen noch etliche Wochen durch die ungewisse Gegenwart in die noch ungewissere Zukunft der Deutschen Demolierten Republik humpeln wird. Aber sie wird es mit erhobenem Haupte tun! Nicht mal eine Halskrause wird ihren Kopf aufrecht halten müssen!“
„Ist dir schon mal aufgefallen“, Christa beugte sich der Patientin zu und raunte: „dass diese Blödmänner immer in Pathos machen, wenn sie gerührt sind? Sie könnten auch sagen: Tach. Mädchen, du siehst ziemlich lädiert aus, aber das wird wieder, nö. Tön, tön, tön, tröten sie!“

Vera wollte lachen, ging grad nicht. Wieder diese Bilder.

„Vera?“
„Was ist?“
„Du warst grad woanders“, sagte Kotte.

„Was ist denn nun ein Rädelsführer.“ Ungeduldig wehrte sich Vera gegen die Erinnerungen an den Abend vor der Gethsemane-Kirche und gegen Kottes Frage.

Da warf sich der Deutschlehrer in die Brust und dozierte: „Ein Rädelsführer ist der Anführer einer Gruppe, die gesetzwidrige Handlungen unternimmt. Er ist der Anstifter einer Verschwörung, eines Aufruhrs, eines Komplotts …“

Vera stöhnte und verdrehte die Augen. Christa Schaffner zog die Augenbrauen hoch und schaute besorgt. Ob das Mädchen Schmerzen hatte? Oder lag's am Lehrer-Ton ihres Holden? Das wohl eher.

Der Privatgelehrte Kotte hörte nur sich selber und scherte sich nicht die Bohne um sein Publikum: „Der Begriff Rädelsführer wird als Dyphemismus zur Abwertung eben eines solchen Räuberhauptmanns benutzt. Als Rädlein hatte man im 16. Jahrhundert die kreisförmige Formation von Landsknechten bezeichnet. Folglich war der Chef vom Ganzen ein Rädleinführer, aus dem der Rädelsführer wurde …“

Vera und die Physiklehrerin schauten sich an, sie waren ab sofort die Mitglieder einer Verschwörung oder eines Komplotts. Nämlich waren sie der unausgesprochenen aber eindeutigen Ansicht, dass manche Männer entschieden zu viel schwatzten. Und diese Männer merken nicht mal, dass sie damit nerven.

„Die Rädelsführer“, machte Kotte unverdrossen weiter, „ist mithin eine sprachliche Ungenauigkeit. Entweder gibt es einen Rädelsführer, der verhaftet werden kann, oder es haben mehrere Verschwörungen stattgefunden, von denen jede einen Anführer hat …“
„Oder aber wir stellen einfach fest, dass diese Verschwörung, dieser Komplott, dieser Aufruhr entweder nichts dergleichen oder höchst dilettantisch organisiert war. Oder können Sie mir sagen, wer der Rädelsführer war? Ich etwa?“ Vera gab sich Mühe, ein grimmiges Gesicht zu ziehen. Aber es ist schwer, böse dreinzuschauen, wenn man sich geradeamüsiert.

„Eines stelle ich nunmehr fest“, steuerte Christa Schaffner bei. „Ein paar Knochen sind gebrochen. Aber dein Kopf funktioniert wie geschmiert.“
„Oho“, kam es wie ein Echo aus Kottes Mund: „Knochen gebrochen, funktioniert, geschmiert. Ich höre den Wohlklang von Reimen.“
„Was du hörst“, entgegnete Christa, „ist nur das, was du hören willst.“
„Aber eine Antwort auf meine Frage habe ich immer noch nicht.“ Veras Gesicht war bleich vor Ernst. Die Erinnerungen waren wie ein Wasser, in dem sie gewiegt wurde oder hin- und herschwappte wie eine Seifenschale in einer vollen Badewanne. Wollte sie unbedingt erfahren, was geschehen war? Genügte nicht das Grosse und Ganze, dass Gewalt ausgeübt wurde, dass diese Gewalt sie getroffen hatte. Zufällig, absichtlich, geplant, alles in einem, alles zusammen?

Ihre langen, blonden Haare mussten abgeschnitten werden, um die Kopfhaut nähen zu können. Beinahe sah sie wie ein Knabe aus. Aber wie ein Knabe, der sich entschieden hat, solange von Brot und Wasser zu leben, bis es auf dieser Welt gerecht zugeht. Vera hatte das Gesicht einer Märtyrerin.

Aber solche Begriffe gehörten in Kottes Wörter-Repertoire.

„Wer war der Rädelsführer? Warum bin ich ihm gefolgt? Wieso wurde ich überrannt und verprügelt?“
„Ich könnte sagen, der Rädelsführer war das Volk.“ Werner Kotte legte seine Hand auf Veras Linke. „Aber diese Antwort wäre mir peinlich.“
„Wieso?“
„Weil dieser Lehrer einer sozialistischen erweiterten Oberschule“, Christa Schaffner war jetzt so ernst wie ihr Kollege, Freund, Liebhaber, Blödmann „vom Volk, dem er immerhin angehört, eine höchst abschätzige Meinung hat.“
„Wieso?“
„Das sind Fragen!“ Kotte zog seine Hand zurück, beugte sich nach vorn und stützte sich mit dem Kinn in die Hand. „Ich komme nicht umhin, mich zu wundern. Tatsächlich ist das so genannte Volk auf die Strasse gegangen. Nun, nicht das ganze. Aber eine ziemliche Menge. Eine erstaunliche Erfahrung für mich, obwohl ich selbst nicht dabei war.“
„Weil er und ich“, erklärte die Lehrerin, „vorher nach Hause gegangen sind. Bevor ihr zur Kirche gelaufen seid.“
„Weil wir Wichtiges zu tun hatten“, setzte der Lehrer hinzu. Mann und Frau grinsten sich an; die Liebe steht über Krawall und Barrikadenbau, oder?

„Wie kann etwas eine Erfahrung sein, wenn man sie nicht selber gemacht hat?“, beharrte Vera und blickte mit grossen Augen aus ihrem hellen Gesicht von einem zum anderen. „Wachse und werde zum Wald“, flüsterte sie dann. „Eine beseelte, vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden sei die Sprache des Landes, ihre Seele der Laut des Volkes …“
„Nun, Kotte, was sagst du dazu?“, fragte die Schaffner.

„Ich habe wohl Idealisten erzogen“, meinte Kotte. „Mein Gott! Idealisten kriegen immer was auf den Kopp!“

Vera schloss die Augen. Sie fühlte sich wohl unter dem Dach des Geblödels, und sie fühlte sich auch verraten, nicht schlimm, so ein bisschen. Schwer zu sagen, was sie fühlte.

Kotte hatte ihr und Ihresgleichen die Poesie nahe gebracht; war diese Poesie etwas, das nichts mit dem Leben zu tun hat? War Hölderlin nur ein Schwätzer, der die Worte zu setzen wusste, rhythmisch und elegant, aber ansonsten lieber sich zurückzog und die Berührung mit dem – Volke scheute?

„Nur nicht den Gestank der Strasse einatmen“, murmelte Vera, die Augen noch immer geschlossen. „Nur nicht zu dicht sich drängen zusammen mit anderen Leibern. Die schwitzen. Vor Angst und weil sie keine Luft kriegen..“

Vera war in an jenem fernen Samstag zusammen mit ihrer Mutter zur Demo gegangen. Die Gethsemane-Kirche, die unweit des Bahnhofs Schönhauser Allee steht. Massig, ziemlich hässlich, fand sie. Ein Brocken, der in den Prenzlauer Berg hinein geworfen worden war. Sie konnten ihn von der Schönhauser aus sehen.

Erst waren sie Dutzende, dann Hunderte, vielleicht sogar Tausende. Was Kotte eine erstaunliche Erfahrung nennt, auch wenn er nicht dabei war, war wie ein Abenteuer. Und war ernst gemeint.

Aber ich kann auch auf einen Friedhof gehen und mich gruseln, grübelte Vera weiter. Ich kann an einer Demonstration teilnehmen und etwas auf die Rübe kriegen. Es lohnt sich nicht, deswegen zu lamentieren. Es handelte sich um ein Missverständnis. Ich bin nicht der Staatsfeind, für den mich irgendein Polizeihauptmann hält, der in sein Megaphon dämliche Befehle brüllt; eher ist er der Staatsfeind.

Und es war verwirrend, wie viele Menschen lächelnd mit ihrer Unzufriedenheit umgegangen waren. Bereit, auf der Strasse mit witzigen Parolen die Regierung aufzufordern, endlich mit dem Lügen aufzuhören. Das, das war wirkliche eine grossartige Erfahrung, Herr Kotte. Das war es doch, was sie gelehrt bekommen hatten: Wenn die Idee zu einer materiellen Gewalt wird, ohne gewalttätig zu werden! Gewalttätig sind die, die keine Ideen haben. Gewalt ist niemals eine Idee. Für sie, Vera Lothringen, nicht.

„Vera?“
„Ähm. Irgendwie … Ich werde die Bilder nicht los. Von der Demo. Und das alles.“
„Es wird Untersuchungen geben“, erklärte Kotte jetzt. „Es gibt bereits Leute, die sich zusammensetzen und Zeugenaussagen sammeln. Und die Betroffenen fragen …“

Betroffene. Getroffene. Es war verwirrend. Waren die Menschen auf der Demo andere Menschen als die, die an den offiziellen Kundgebungen und Fackelzügen teilnahmen? Das konnte Vera nicht glauben. Es ging kein Riss durch das Volk, ob nun wachsend, erblühend, beseelt oder beknackt. Denn wenn es nicht die gleichen Menschen waren, woher kamen die anderen Menschen dann so urgewaltig?

Plötzlich stieg ein Kichern in Vera hoch. Sie sah ihre Mutter und Albert vor sich. Sie stellte sich vor, wie die beiden in ihren Turnschuhen und Shell-Parkas die Volkskammer stürmten, um zukünftig die Geschicke des Landes zu lenken. Die Mutter würde ein Programm verlesen, in dem steht, dass sich die Väter gefälligst um ihre Töchter und Söhne mehr kümmern sollen als um die Steigerung des Nationaleinkommens. Und Albert würde ein Programm verlesen, in dem er jeden Bürger des Landes dazu verpflichtete, drei Bücher im Monat zu lesen. Und zwar nicht nur „Wie der Stahl gehärtet wurde“ und „Neuland unterm Pflug“ und die Digedag-Geschichten.

„Es ist vollbracht.“ Kotte klatschte in die Hände. „Unsere Jeanne d'Arc lächelt!“
„Warum nicht?“, fragte Vera. Sie war auf einmal müde und wünschte, sie wäre allein. Wie vorhin, als ihr Vater sie besucht hatte. Auch wie bei den anderen Besuchen; sie hielt nicht lange durch. „Die Haare wachsen nach. Die Knochen heilen. Ich werde Weihnachten zu Hause feiern.“
„Wie findest du das? Das Mädchen redet, als läge es auf einer Decke am Strand. Als hätte es statt Prügel einen Sonderurlaub oder eine Prämie bekommen.“
„Vielleicht ist die Prügel eine Prämie?“, entgegnete die Schaffner. „Schon mal in die Richtung gedacht, grosser Meister?“
„Sehr dialektisch, liebe Kollegin. So wie der Apfel nach unten fällt, und der Schlagstock niedersaust …“
„Frauen sind hart im Nehmen“, sagte Christa.

„Ich muss das noch verdauen. Und … vielleicht sind die Polizisten viel schlimmer dran als ich. Ich muss immer an die Gesichter der Jungs denken. Und sie verschwimmen dann. Es sind die Gesichter meiner Klassenkameraden, die plötzlich in einer Uniform stecken, die hässlich aussieht und kratzig ist.“ Vera sprach leise und langsam. Sie wollte es nicht. Sie konnte es nicht verhindern. Ein Weinkrampf begann sie zu schütteln. Er kam aus dem Nichts; er kam – natürlich – nicht aus dem Nichts.

Christa Schaffner wechselte von ihrem Stuhl auf die Bettkante und nahm Veras Kopf in die Arme. Die Lehrerin streichelte über den kurzen Flaum des nachwachsenden Haares. Was für ein Küken, die Vera. Sie tupfte mit einem Taschentuch die schweissfeuchte Stirn ab.

Kotte war aufgestanden und an das Fenster getreten. Das Zimmer lag in der achten Etage, der Blick ging weit über Berlin. Unweit des Krankenhauses konnte er den Antifaschistischen Schutzwall sehen. Der Blick ging darüber hinaus. In das Grün des Tiergartens, der in Westberlin lag. Über die Dächer der Häuser, die an der Friedrichsstrasse in Ostberlin standen. Was wird geschehen?, fragte Kotte sich. Was ist geschehen? Wenn der Staat anfängt, Mädchen wie Vera niederzuknüppeln, dann ist etwas faul im Staate DDR. Dann ist etwas sehr faul.

Und Kotte verwirrte auch Veras Haltung. Das Mädchen vergab noch denen, die sie prügelten.

Die Mauer da unten, ein schmales graues Band, harmlos sah sie aus. Sie steht in meinem Blickfeld; und wie nah ist das Wort Blickfeld am Wort Schussfeld.

Wir denken nicht über sie nach. Sie ist eine Gewohnheit. Der ganze Staat ist eine Gewohnheit geworden. Wir wurden hineingeboren. Eingestaatet. Eingetopft. Mein Gott, es genügt nicht, den Mädchen und Jungs mit Gedichten von einer vollkommeneren Welt zu kommen. Diese Gedichte sind – sind sie nicht letztlich der hellste Wahnsinn? Von Himmel zu sprechen, von Freundschaft, von Wahrheit und Reinheit, wenn ein Gummiknüppel, ein Befehl, eine Mauer genügen, um junge Menschen kaputt zu kriegen?

Aber sie sind ja nicht kaputt. Vera ist es nicht. Wie stark das Mädchen ist. Demütig, neugierig, offen und – nicht verbittert, nicht verzagt.

Gedichte und Gummiknüppel, ist das nicht zum Wahnsinnigwerden?Kotte schlug die Stirn gegen die Fensterscheibe; sie hielt, beide hielten, Stirn und Glas, wie schwer bricht das.

„Werner?“, rief Christa.

„Schon gut“, murmelte er. „Schon gut. Alles in Ordnung.“ Auch wenn nichts in Ordnung war.

Sonntag, 22. Oktober

Lärmend fiel die Clique ein und machte sich breit. Mit „Hallo“ und „Hallöchen“, mit „Schnieke hast du es hier!“, und Peter Sandburg konnte nicht anders:„Sogar einen Fernseher hat unsere blutrünstige Rebellin! In bunt! Ist ja wie in einem Hotel!“Schnappte sich die Fernbedienung und zappte die Sender durch. „Lahmes Programm! Überall!“, sagte er schliesslich – während die anderen den Blumen Wasser gaben, Apfelsaftfaschen und Obst einsortierten.

„Du könntest wenigstens ‚Guten Tag' sagen und fragen: ‚Liebste Vera, engelsgleiches Geschöpf, Traum meiner schlaflosen Nächte' – in denen du unter der Bettdecke fummelst, Sandburg! - wie geht es dir so?'“ Sylvia Hohberg stemmte die Hände in die Hüfte und streckte den Unterleib nach vorn. So sah sie schwanger und empört aus; das eine war sie, das andere nicht. „Gott!“, seufzte sie dann. „Manchmal fühle ich mich wie eine Mutter von lauter pickligen Hühnerbrüsten!“
„Was soll ich fragen. Sieht man doch. Gut geht's ihr!“ Peter setzte sich auf die Bettkante. „Oder nicht?“
„Doch“, sagte Vera.

Und zu Sylvia gewandt sagte er im Ton eines gestrengen Richters: „Im Übrigen kriegt jede Mutter die Kinder, die sie verdient hat. Wie jedes Volk die Regierung hat, die es verdient hat. Oder sag ich grad was Richtiges? Nicht doch, o Gott!“ Er presste beide Hände auf seinen Mund, als hätte er jemals den Versuch unternommen, nicht alles rauszulassen, was ihm gerade durch die Birne rauscht.

Mark Viehweger war beschäftigt, einen Strauss Blumen vom Papier zu befreien. Eine Tätigkeit, der er nicht jeden Tag nachging;eine Arbeit, bei der ein Ungeübter sich die Finger brechen konnte. Das Papier klebte an den langen Stielen der Rosen oder die Stiele klammerten sich in das Papier, weil sienicht fortgeschenkt werden wollten.

„Scheisse!“, rief er und bekam einen roten Kopf. „War doch deine Idee? Warum schenkst du sie ihr nicht?“, fuhr er den grinsenden Gernot an. „Vasen haben die hier bestimmt auch nicht.“
„Weil“, sagte Gernot feierlich, „die Rosen von uns allen sind. Ich hingegen …“

Grosser Auftritt, grosser Meister. Es hatte seinen Grund, dass Gernot die Blumen den anderen überliess. Erhatte was Besonderes vor. Er hatte nicht nur das Vorrecht eines Kusses der Patientin auf den Mund. Er hatte auch das Recht auf ein besonderes Geschenk. Und er küsste Vera.

„Deine Lippen auf meinen zu spüren und sich dann im All zu verlieren“, trällerte Sylvia Hohberg. „Wie er küssen kann, der blonde Mann …“
„Gernot kann alles“, maulte Mark, der die Blumen endlich nackig gemacht hatte und von Peter ein Einweckglas mit Wasser gereicht bekam. „Deshalb wird er eines Tages Präsident der Union aller Milchstrassen.“
„Ich finde, Nationaldichter ist mehr als irgendein Politiker“, säuselte Sylvia und schmachtete Viehweger an.

„Hehe, und ich?“, warf Peter ein. „Ihr macht hier einen auf Gruppensex und glaubt, mich könnt ihr in den Skat packen?“

Vera fühlte sich unendlich wohl. Geflachse und Gedöns; das kannte sie, das hatte sie vermisst. Und sie genoss es, nicht mitmachen zu müssen, still zu sein, beteiligt, gar Mittelpunkt, aber zu nichts verpflichtet, zu sein. Sie war das Eine-Mädchen-Publikum der Show ihrer Freundinnen und Freunde. Bis ihr auffiel, dass Maria sich zurückhielt. Das Mädchen mit der roten Mähne, das Mädchen, das schon, als sie damals – damals? in einem anderen Leben? war das so lange her, dass es ‚damals' war? – ihr Programm aufführten, nicht mehr wie ein Punk auftrat. Sie hatte sich nicht geschminkt, sie trug die Ringe in den Ohren nicht mehr. Maria wirkte, als blickte sie immerzu nur in eine Richtung: in sich selbst hinein.

Darum konnte Vera sich jetzt nicht kümmern. War nur ein Anflug von Sorge? Oder der Hauch von Ernsthaftigkeit, den es brauchte, um eine Inszenierung, die nicht wirklich komisch sein konnte, zu perfektionieren?

„Für dich!“ Gernot legte ein schmales, grünes Etui aus Leder auf die Bettdecke.

Vera öffnete es. Ein Ring, ein kleiner! Doch was für ein feiner! Ein schmaler Reif mit einem winzigen Stein, der blass und bläulich glänzte, gebettet auf ein weinrotes Kisschen. Sie zögerte, ihn herauszunehmen und auf den Finger zu streifen.

„Oha!“ Das war Sylvias Kommentar.

„Wie goldig!“ Das war Peter, der Schnoddrige. Er pfiff anerkennend, um sich gleich wieder der Sendung im Fernsehen zuzuwenden; es lief der „Oberhofer Bauernmarkt“, es wurde tüchtig auf den Bänken eines als Kulisse nachgebauten Wirtshauses geschunkelt, und eine Sängerin in einer Tracht, die zum Hals hin freizügig geschnitten war, verbreitete mit ihrem Lied Lebensfreude und Heimatgefühle. Der Ton war leise gestellt.

„Hast du eine Bank ausgeraubt?“, war Marks Kommentar. Alle hielten ihn für einen unpraktischen Menschen, ein Dichter eben, der sich beim Holzspalten ins Knie hacken würde und im Fahrstuhl auf den Knopf mit der -2 drückt, wenn er in den siebten Stock hinauf will. Doch Viehweger blickte durch. Viehweger wusste, dass es nichts für Nasse gibt, und wenn er wüsste, wie, würde er eine Bank gründen, die für teuer Geld Verse bunkert und poetische Kredite vergibt – und dafür Zinsen noch und nöcher verlangen.

„Das ist der Preis für Übermut!Ich könnte auch sagen, wenn ich nicht in dich verliebt wäre, Vera, das ist der Trost für ein törichtes Mädchen.“
„Wenn er es nicht sagen wollte, warum sagt er es dann?“, flüsterte Mark Peter zu.

„Ein bisschen verschwurbelt das Ganze“, wisperte Peter zurück. „Er braucht die grosse Bühne! Tralala!“
„Ich bin sehr, sehr froh, dass es dir gut geht, Vera. Du hast dich in eine Gefahr begeben, und zwar nicht zu knapp, und du bist davongekommen …“

Veras Gesicht war auf einmal kalkweiss. Etwas stimmte nicht. Die Situation stimmte nicht, die Wörter stimmten nicht. Der Ring – unangemessen, zu wertvoll. Verpflichtend irgendwie. Für Momente setzte Veras Gehör aus, sie sah Gernots Lippen, hörte nicht, was er sprach. Lippen in einem Gesicht, das den Ausdruck eines Menschen hat, der immer weiss, was er will. Vera fühlte sich angezogen und – zugleich abgestossen. Was ist los mit mir?

„Warum sagst du ‚törichtes Mädchen'?“ Vera unterbrach Gernots Rede, die sie nicht gehört hatte.

Und Gernot redete weiter, als hätte er die Sätze vorher geprobt: „Welchen Sinn hat es, den Staat zu provozieren? Unseren Staat? Ich finde, Demonstrationen sind keine geeignete Form, um auf Missstände hinzuweisen. Das steht in den Gesetzen. Zusammenrottung. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Rowdytum. Das ist es nicht, was wir wollen, wir alle nicht,und … Was ist?“

Sandburg spielte mit dem Handsender. Wechselte die Programme im Zweisekundentakt.

Viehweger sah zu Boden. Er stand mit dem Blumenglas und wusste nicht, wohin damit. Wäre Fallenlassen eine Lösung?

Hohberg stand der Mund offen. Ihr Blick ging zwischen Vera und Gernot hin und her. Was war das? Jemand schenkt was Schönes und redet solchen Mist? Dann legte sie die Finger der rechten Hand an die Lippen und pustete, als hätte sie sich eben verbrannt.

Maria aber, Maria stand da und lächelte spöttisch. Lächelte weiter, als Veras Blick sie traf. Und nickte, als wüsste sie, was Vera sagen würde.

„Wir sitzen alle in einem Boot?“, fragte Vera sanft.

Gernot nickte, haargenau das stimmte, das wollte er gesagt haben; und wer meuterte, der riskierte Strafe oder sogar körperliche Verwundung, sah man ja an seiner Freundin.

„Wir sind alle für den Frieden in der Welt, oder?“ Klar doch. Aber immer doch. „Wir ziehen alle am selben Strick!“, setzte Gernot noch einen drauf und schaute sich um. War es nicht so?

Plötzlich zerbrach die Stille. Das Standfoto, eben noch zeigte es erstarrte Jugendliche, zerbarst.

Viehweger rastete aus. „An einem Strick! An einem Strick!“ Er tigerte durch das Krankenzimmer. „Hast du eine Macke? An einem Strick!? Wo denn? Der eine hängt mit dem Hals drin, der andere zieht mit beiden Händen dran!“
„Du weisst genau, was ich meine!“ Gernot spannte sich. Ein Boxer, hellwach und bereit,einem Schlag auszuweichen und selbst einen Schwinger auf das Kinn des Gegners zu setzen. Punktgenau auf die Nuss.

„Was meine ich denn? Hä? Was, du Liebling der Götter, meine ich denn?“, fragte Mark sarkastisch, er bebte am ganzen Leib: „An einem Strick?! Hast du den Mist von deinem Vater?“
„Mein Vater? Was hat mein Vater …?“
„Er gehört doch zu denen, die dafür verantwortlich sind!“ Viehweger umfasste mit einer Geste das Krankenzimmer; die Patientin, das Fernsehgerät, die Blumen, die ganze Welt wurde einbezogen. Und jeder von ihnen verstand, was Mark meinte. Dass Vera halb totgeschlagen worden war. Dass im Fernsehen geschunkelt wurde. Dass da draussen eine sogenannte Wende stattfand und sie mittendrin steckten, nur dass niemand genau wusste, wo mittendrin war, wo links, wo rechts, wo oben und unten. Weil niemand genau wusste, was vor sich ging in diesem Staat, der ihr Staat war – das hatten sie mit der Muttermilch aufgenommen; und der doch so unverständlich geworden war. „Vielleicht hat dein Alter nicht direkt den Befehl gegeben. Aber er steht doch mit dahinter!“
„Mach halblang, Viehweger“, entgegnete Gernot eisig-gelassen. „Als Vera in den Schlamassel geriet, sass mein Vater zu Hause beim Abendbrot. Es gab Bratkartoffeln mit Sülze, dazu trank er sein Bierchen. Ich kann keinen Zusammenhang erkennen zwischen Veras Leichtsinn und dem Job meines Vaters, seiner Existenz und seinem Feierabendbier?“ Selbstsicher, souverän, unantastbar; sein Kinn würde jeden Schlag aushalten.

„Leichtsinn trifft's wohl nicht so richtig“, murmelte Peter Sandburg.

„Sagtest du was, Komiker?“, fragte Gernot.

„Sprich doch lauter, du Pflaume“, schimpfte Sylvia. „Los! Sag doch einmal, was du wirklich denkst, Sandburg! Einmal darf auch ein Kasper die Klappe aufreissen und was Ernstes sagen!“

Was war los? Was war in die Freunde gefahren? „Bitte“, flüsterte Vera. „Streitet euch doch nicht. Bitte nicht!“ Aber niemand hörte sie.

Mark war nicht zu halten. Mark Viehweger hatte eine Rechnung offen, von der niemand im Raum wusste, wann sie ihm gestellt worden war und wer sie ihm gestellt hatte. Aber jeder im Raum wusste, dass es diese Rechnung gab. Dass sie selber irgendwie ein Posten auf dieser Rechnung waren. Dass der Groll, der aus dem Vulkan Viehweger platzte, aus der Lava bestand, die auch in ihnen brodelte. Nur in Gernot nicht?

„Ist dein Vater etwa nicht ein hoher Offizier im Innenministerium?“ Mark stellte das Glas mit den Blumen in das Waschbecken und schaute sich einen Augenblick lang im Spiegel an. Dann drehte er sich um. „Gehört dein Vater etwa nicht zu denen, die seit Jahrzehnten behaupten, die Welt des Sozialismus sei edel, schön und gerecht? Nur weil sie entweder blind sind. Oder sie sind Zyniker. Oder sind sie etwa doof? Oder sie wissen es wirklich nicht besser, weil es ihnen gut geht? Bratkartoffeln und Sülze – komm mir doch nicht mit so einer Kacke!“
„Richtig. Ich vergass. Bei uns zu Hause wird jeden Abend Kaviar aus Eimern gegessen und Champagner aus der Badewanne geschlürft. Und anschliessend blättern wir kollektiv im ‚Playboy'.“ Gernot war bereit. Er konzentrierte sich. Bereit zum Kampf, bereit sich und seinen Vater und seine Meinung zu verteidigen, wie Viehweger bereit war, seinen Angriff fortzusetzen.

Die Jungs standen sich gegenüber, notfalls würden sie sich gegenseitig die Fresse polieren: der Pragmatiker dem Jungpoeten, der zukünftige Nationaldichter dem viel versprechenden Sowieso-Chef.

Was war das nur? Vera schaute von einem zum anderen, erschrak und war stumm.

Sylvia schien das Spektakel zu geniessen.

Sandburg war ungemütlich zumute.

Nur Maria, Maria hatte sich vor das Fenster gestellt, mit dem Rücken zu den anderen, und lächelte für sich. Als gehörte sie schon nicht mehr in diese Runde. Als wäre sie längst weit fort, ganz woanders.

„Was willst du von mir?“, fing Gernot an.

„Merkst du nicht, wie absurd das ist?“, fragte Mark.

„Was, bitteschön, ist absurd?“
„Du schenkst ihr einen Ring! Du schenkst Vera einen Ring! Zum Trost? Für was?“
„Bahnhof. Ich verstehe Bahnhof. Ich schenke meiner Freundin einen Ring, weil ich ihr eine Freude machen will. Weil ich sie liebe, du Blödmann!“
„Vera ist ein Opfer. Und von wem? Von den Bullen? Klar, sicher. Aber wer steckt dahinter?“
„'Aber wer steckt dahinter?'“, äffte Gernot.

Peter Sandburg schaltete das Fernsehgerät ab, wendete sich den Streithammeln zu und sagte mit einem Ernst, den vielleicht Sylvia aus ihm herausgekitzelt hatte: „Bullen sind Bullen, grosser Meister! Mächtige Tiere. Die gehören in den Stall und unter Kontrolle. Ob da ein armes Schwein prügeln muss, oder ein anderes Schwein es befohlen hatte und zu Haue Bratkartoffeln mit Sülze isst – was da gelaufen ist, ist eine tierische Sauerei!“
„'Was da gelaufen ist?' Was ist denn da gelaufen?“, keilte Gernot aus.

„Ich erkläre es dir. Auch wenn du es nicht magst, etwas erklärt zu bekommen, weil du ja alles selber weisst.“ Mark Viehweger war plötzlich sehr ruhig. „Die Bullen sind Staatsgewalt. Die tun, was der Staat von ihnen verlangt. Wenn der Staat sagt, knüppelt die Demonstranten zusammen, die spinnen, dann knüppeln die Bullen die Demonstranten zusammen. Soweit verständlich?“
„Oha, das ist die neue Staatsbürgerkunde! Wer bist du auf einmal? DerZiehsohn des Genossen Lautengässer? Nur andersrum?“

Viehweger liess sich nicht provozieren. „Wer aber ist der Staat, hä? Man kann sagen, wir alle sind der Staat. Ich bin es nicht. Ich glaube, Vera war es zufällig auch grad nicht. Aber die Staatsdiener, die sind gewiss der Staat. Regierung. Ämter. Ministerien. Und die bestehen aus Regierern, Amtierern, Ministrierern … Aus Leuten wie deinem Vater! Und die entscheiden und sie tragen Verantwortung!Schlussfolgerung: Dein Vater ist mit Schuld daran, dass Vera hier liegt. Und du kommst und schenkst ihr einen Ring und erzählst was von Leichtsinn und dass sie töricht gewesen war. Das klingt – wie dein Vater reden würde.“
„He, Jungs“, mischte sich Sylvia ein. „Eines ist mal klar: Vera ist nie im Leben eine Staatsfeindin, und Verprügeln geht gar nicht. Ich glaube auch nicht, dass Gernots Vater ein Verbrecher ist. Und ich glaube auch nicht, dass gebrochene Knochen und ein Hirntrauma besonders viel Spass machen. Ist alles zusammen eine ziemliche Grütze.“
„Du denkst doch sowieso nur an dein eigenes Vergnügen“, blaffte Gernot das Mädchen an. „Falls du überhaupt denkst. Du denkst, du denkst, dann denkste nur, du denkst …“
„Gernot!“, rief Vera. Die Hand, um den Ring geschlossen, liegt auf der Bettdecke wie ein blutleeres Tier; als gehörte die Hand ihr nicht. Und noch mal rief sie: „Gernot!“
„Okay“, sagte Sylvia. Sie machte die paar Schritte, bis sie vor Gernot stand und verschränkte die Arme über der Brust.“Okay! Falls du es nicht bemerkt hast, grösster Bescheidwisser aller Zeiten: Ich wollte den Streit beenden. Ich finde es nicht besonders einfühlsam, vor Vera wilde Sau zu spielen.“

Sylvia atmete tief durch, ein leises Grunzen drang aus dem Mund, sie schaute Gernot in die Augen und fuhr eisig-klar fort:

„Es kann schon sein, dass du mal n echter Obermacker wirst. Wir werden stolz auf dich sein, wenn wir eines Tages deinen Namen in der Zeitung lesen. ‚Schaut', werde ich zu meinen Kindern sagen, ‚mit dem Gernot Klinkermann habe ich früher auf einem Friedhof Wein getrunken, und einmal haben wir sogar geknutscht. Das war, bevor er sich unsterblich in eine gewisse Vera Lotringen verliebte und keine Augen mehr hatte für andere Mädchen.' Und wir werden in der Zeitung lesen, dass du entweder einen Nobelpreispreis gekriegt hast. Oder du wirst zum Botschafter in Mocambique ernannt. Oder du springst als erster Mensch der Welt über zweieinhalb Meter im Hochsprung. Und dann werde ich meinen Kindern sagen: ‚Dieser Klinkermann hatte schon immer einen Hang nach oben. Beziehungsweise einen Drang, alles und jeden von oben zu betrachten. Was an und für sich nicht schlimm ist. ‚Wenn einer was Besonderes ist und was Besonderes kann', werde ich meinen Kindern erzählen, ‚dann hat er auch ein Recht darauf, ein bisschen überheblich zu sein.' Ehrlich, oder? Aber ob so einer Freunde hat?“

Konnten sie mit diesem Quatsch nicht aufhören? Worum ging es überhaupt? Waren sie nicht Freunde? Einer für alle, alle für einen, eine für alle, alle für eine? Galt das nicht mehr? Und wenn es so war, warum war es so? Vera verstand die Welt nicht mehr.

Einiges war passiert, von dem Vera noch nichts erfahren hatte. Ein Schülerrat war gegründet worden, mit den Stimmen etlicher Lehrer, Kotte und Schaffner zum Beispiel, und auch mit der Stimme Eberleins. Die Schüler würden künftig ein Mitspracherecht haben, wenn es um Beurteilungen ging, um Personalentscheidungen, um Bestrafungen und Belobigungen. Der Schülerrat würde mit dem Elternbeirat gleichberechtigt an Lehrerkonferenzen teilnehmen und sich aus erster Hand informieren können und seinerseits aus erster Hand die Lehrer und die Eltern über ihre Vorhaben, Sorgen, Vorschläge unterrichten. Der Knaller war: Zum Schulsprecher war nicht Gernot Klinkermann gewählt worden, - sondern Mark Viehweger.

Von all dem hätten die Freunde Vera berichten sollen; stattdessen zankten sie wie die Kesselflicker. Und wollten nicht aufhören damit, auch wenn Veras Gehör einige Sekunden ausgesetzt hatte und das Geschehen um sie herum ein Stummfilm war, der plötzlich in eine Tonspur fand:

„Wie mein Vater klingt, das weisst du nicht Du hast zu viel Phantasie, Viehweger. Du kannst dir alles Mögliche vorstellen, aber du rasselst haarscharf an der Wirklichkeit vorbei. Schätze ich mal.“
„Bratkartoffeln und Sülze kann ich mir grad noch vorstellen. Als Wirklichkeit. Ich kann mir aber auch eine Wirklichkeit vorstellen, in der es Leute gibt, denen es arschkalt nur darum geht, ihre Macht zu behalten.“
„Und du weisst da Bescheid?“
„Das ganze Volk weiss Bescheid.“
„Oho. Das ganze Volk! Es trümmert und wankt ja, plimplamplum. Das Volk! Das ist eine ganz tolle Mannschaft!“
„Wollte ich dir schon immer mal sagen: Du bist ein arrogantes Arschloch, Klinkermann.“
„Mach' dir einen Vers drauf, Romantiker!“
„Hört auf!“ Auch diesmal hörten die Streithähne Veras Flüstern nicht. Und sahen auch nicht, dass das Gesicht des Mädchens von einem Schweissfilm überzogen wurde. Nur Maria, die sich vom Fenster abgewendet hatte und den Streithammeln belustigt – oderabschätzig – zusah, hatte es gehört. Sie nickte Vera zu. Ja, diese Idioten sollten aufhören. Die ganze Welt sollte aufhören sich zu streiten. Aber das taten die einen wie die andere nicht.

„Du, du gehörst doch zu denen, die Vera als Staatsfeindin titulieren! Du bist im Grunde deines Herzens einverstanden damit, dass Vera verprügelt wurde! Du gehörst doch schon …“
„Bist du meschugge, Viehweger?“ Gernots Gesicht lief rot an. Er holte aus und knallte Viehwege die rechte Faust auf die Nase. Alle schrien auf, nur Maria nicht. Das Mädchen machte ein paar Schritte, setzte sich zu Vera, die die Augen geschlossen hatte und heftig atmete. Maria nahm ein Papiertaschentuch und wischte der Freundin die Stirn trocken.

Mark war auf das zweite, unbelegte Bett geplumpst und sass auf seinem Hintern wie ein Hamster, der Männchen gemacht und das Gleichgewicht verloren hatte. Er fasste mit der Hand an die Nase und starrte verblüfft auf das Blut, das aus ihr floss.

„Spinnt ihr?“ Sylvia Hohbergs Stimme klang schrill und panisch. „Seit wann kloppen wir uns denn? Das ist doch das Letzte!“ Das Mädchen riss von der Papierrolle, die neben dem Waschbecken hing, einen Fetzen ab, tränkte ihn mit Wasser und tupfte in Viehwegers Gesicht herum. „Idioten, echt mal!“
„Ihr könnt mich mal! Ihr könnt mich mal alle! Wer bin ich denn, dass ich mir diesen Mist anhören muss!“

Wieder einmal flog ein Engel durch das Krankenzimmer. Es war ein anderer als der vor einem Monat. Als sie in der Aula sassen und glücklich waren, weil das Programm ein Erfolg gewesen war und sie das Gefühl einer Freundschaft hatten, die nichts und niemand zerspalten könnte. Eine Stille war da gewesen, für einige Momente, die ewig andauern könnte. Dieser Engel jetzt hatte Flügel, die zitterten. Dieser Engel jetzt wollte sich nirgendwo hinsetzen und nirgendwo bleiben. Er sah verwirrt in die Runde, er sah traurig drein. Eine Träne tropfte aus dem Auge, nein, es war ein Wassertropfen, der aus dem Hahn in das Waschbecken fiel. Plitsch. Und Engel gibt es nicht. Platsch.

Gernot keuchte, als er die Stille durchbrach und in den Raum fragte: „Das ist deine Meinung von mir, ja? Das ist eure Meinung von mir?“

Niemand antwortete. Gernot schaute von einem zum anderen. Niemand schaute zurück. Nur Viehweger. Er hielt sich die Nase und nickte.

„Was ist passiert?“, fragte Vera wisperleise.

„Machst du den Fernseher nicht an?“ Peter, als liesse sich die Spannung im Zimmer lösen, indem er losplapperte. „Honni ist weg vom Fenster. Die Partei hat nicht mehr immer Recht. Wir sind die Fans von Egon Krenz“, krähte er.

„Arschloch.“ Dumpf klang es aus dem Munde Marks.

„Du würdest für nen blöden Witz deine Grossmutter schlachten“, ätzte Gernot. Er und Mark guckten sich an; in der Bewertung ihres Kameraden Sandburg waren sie sich einig.

Und der machte weiter; immerhin hatte er diese Begabung: Er konnte Stimmen imitieren und mit winzigen, strichmännchenartigen Gesten Politiker, Künstler, Prominente so nachmachen, dass ein jeder sie erkannte. Manches Mal hatten sich die Freunde am Boden gekringelt, etwa wenn sie auf dem Friedhoflagerten und Peter begann, im Schein des Kerzenlichtes Passagen aus einer politischen Rede vorzutragen. Oder einen Schlager zu singen, der vom Eiapopeia der Liebe handelte. Echt, das konnte Peter Sandburg, und sie wälzten sich vor Lachen zwischen den Grabsteinen. Jetzt tat er, als setzte er sich eine Brille auf, machte einen schmalen Mund und hielt mit überkippender Stimme eine nuschelnde Rede: „Liebe Genossen! Mein ganzes bewusstes Leben habe ich in unverbarer Treue zur rävolutnären Sache der Arbeiterklasse und zu unserer marxtisch-leninstchen Weltanschauung der Errichtung des Szalismus auf deutschem Boden gewidmet. Die Gründung und die erfolgreiche Entwicklung der szalistischen Dtschen Demkrtschen Republik, deren Bilanz wir am vrzgisten Jahrestag gemeinsam gezogen haben, betrachte ich als Krönung des Kmpfes unserer Partei und meines eigenen Wirkens als Kommunist.“

Funktionierte nicht, hier nicht, heute nicht.

„Ich finde das nicht witzig.“ Gernot, glasklar und kalt.

„Und um das noch zu sagen“, Peter fand kein Ende, Pointen zu setzen, das würde er noch lernen müssen, wollte er eines Tages ein erfolgreicher Komödiant sein; Witz ist Pointe, ist Timing.„Frieden, Freundschaft, Solidarität!“
„Was ist daran schlecht?“ Vera sass aufrecht im Bett. Was ist an Frieden, Freundschaft und Solidarität so Übles dran, dass die Wörter ausgesprochen werden dürfen wie Klopapier, Schlagstock und Teppichklopfer?

Nichts hatte sich entspannt, überhaupt nichts. Das Krankenzimmer war ein Käfig geworden, in dem Tiere gefangen sind, die sich gegenseitig belauern, um sich an die Kehlen zu gehen?

War es so schlimm? Warum war es so schlimm geworden?

Vera empfand es so. Sie fühlte sich – gefährdet. Ihr Herz begann zu rasen, sie schwitzte stark am ganzen Körper In ihrem Kopf ging alles drunter und drüber. Die Demonstranten drängten sich zusammen, Hölderlin rezitierte eines seiner Gedichte. Aber der war doch verrückt? Oder war es Albert? Oder die Mutter? ‚Untergang', hörte Vera jemanden schreien, einen Mann, der die Maske eines Harlekins trug und auf einem Akkordeon spielte: ‚Untergang, Müssiggang, Ausgang …' Jemand fragte in Veras Kopf: ‚Glaubst du an Weissagungen?' ‚Niemals', schrie Vera. ‚Ich glaube nicht an den Untergang …' Aber sie sah in die Gesichter der Freunde und dachte: Untergang.

„Kann es sein“, flüsterte Vera, „dass wir … den Beginn eines Endes erleben?“

Stille. Bis Peter meinte: „Leichte Schläge auf den Hinterkopf befördern das Denkvermögen …Aua!“ Sylvia hatte ihm einen solchen Klaps verpasst. Es war an der Zeit, fand sie.

Und auf einmal war jeder für sich. In diesem Raum, acht Stockwerke über Berlin. Als hörten sie Veras Frage nach, die ihrer aller Frage war. Etwas ging zu Ende, bevor sie wissen konnten, was neu anfing. Sie ahnten, dass sich etwas veränderte, um sie herum, in ihnen. Nur was? Gab es das: dass sich alles verändern könnte? Auch ihre Freundschaft oder die Heimat oder – eben alles, was sie bisher für gut und richtig hielten, auch wenn Reparaturen angesagt waren?

„Ich kann das nicht mehr hören!“ Gernot hatte ein Glas mit Wasser gefüllt und trank es mit zwei gierigen Schlucken aus. „Alle meckern, jeder reisst das Maul auf! Untergang! Apokalypse! Das Vaterland ist in Gefahr! Soll denn der Staat in die Tonne getreten werden?“ Er lachte höhnisch auf. „Da wird er sich wehren. Logisch. Das ist seine Pflicht, sich gegen Umstürzler zu wehren!“
„Er könnte auch mit denen reden“, sagte Sylvia.

„Die suchen doch die Konfrontation!“, brüllte Gernot.

„Wer ‚die'? Vera oder wer?“, fragte Maria sanft.

„Es geht doch hier nicht mehr um den einen oder anderen. Es geht um das Ganze. Es geht darum, dass dieser Staat, unser Staat, zum Wanken gebracht wird? Was glaubt ihr denn, was ihr besser wisst? Was glaubt ihr denn, was an seine Stelle treten soll? Irgendein Haufen wild gewordener Weltverbesserer? Ich finde es jedenfalls richtig, dass der Staat und die Regierung sich wehren!“

Stille. Blicke hin und her. Dann sahen alle Gernot an, wie auf ein Kommando.

„Was schaut ihr mich so an? Was wollt ihr denn? Die Regierung stürzen? Den Staat abschaffen? Chaoten in der Volkskammer?“
„Ob er gut küssen kann, weiss ich nicht“, sagte Mark süffisant. „Aber Quatschen kann er, unser Weltmeister!“

Für einen Moment sah es aus, als würde Gernot sich erneut auf Mark stürzen und ihm diesmal die Ohren zerschlagen. Oder die Knie brechen. Aber dann – stand er plötzlich still, sah in die Runde, winkte ab und ging aus dem Zimmer. Er schritt; er beherrschte sich, er würde sich nie die Blösse geben, wegzurennen. Doch dann schlug er die Tür hinter sich zu, dass in den Glasschränken der Krankenstation die Pinzetten, Röhrchen, Spritzen, Näpfe und Gläser hüpften und klirrten. Und die im Zimmer hörten seine stampfenden Rennschritte im Flur.

„Ich hab jetzt grad keine Idee“, sagte Sylvia Hohberg.

„Scheisse!“ sagten Viehweger und Sandburg synchron.

„Ich meine, das war doch nur peinlich!“, sagte Sylvia.

„Und n bisschen blutig“, ergänzte Peter.

„Der Typ ist für mich erledigt.“ Viehwegers Stimme klang dumpf.

„Ich schätze mal“, hub Sandburg zu einer Psychoanalyse aus der Küche an, „ich schätze mal, der war selbst überrascht. Der kriegt sich wieder ein. Der bereut seinen Auftritt jetzt schon, wetten?“
„Da sei dir mal nicht so sicher.“ Maria Breitling hatte Veras Hand gedrückt, war vom Bett aufgestanden und stand jetzt in der Mitte des Zimmers. Sie verwandelte sich, sie war verwandelt, was war geschehen, was geschah mit ihr, jetzt, hier, seit wann?

Marias rote Mähne leuchtete, loderte im Licht der Nachmittagssonne. Da stand ein Mädchen, dass die anderen nicht kannten. Aufrecht, gerade, das Gesicht bleich und ernst. Das war nicht die Maria, die mit nach vorn gezogenen Schultern und trotzigem Gesicht durch die Schule ging, und niemand sollte es wagen, sie von der Seite anzuquatschen. Das war nicht das Mädchen, dass auf der Bühne am Klavier sass und die Musik spielte zu dem Lied: Davon träumt die DDR usw. Die da gesessen hatte, die war eine andere Maria gewesen. Eine in sich gekehrte. Jetzt stand eine Maria da – die ausgestülpt war, umgestülpt, ihr Innerstes nach aussen gekehrt hatte. Und es waren Stolz und Kraft und Selbstbewusstsein auch, eine entpuppte Schöne,

Was hatte sich verändert? Vera lag im Bett, das Kopfkissen aufgeschüttet, ihre Augen gingen von einem zum anderen. Was hat sich mit euch verändert? Mit uns? Mit mir?

Und Maria sagte ruhig: „Ich spüre, es geschieht etwas, das uns auseinander reisst.“
„Was meinst du damit?“, wollte Peter wissen.

„Seit wann versuchst du dich als Wahrsagerin?“ Sylvia presste Viehweger einen nächsten, feuchten Papierstreifen unter die Nase.

„Spürt ihr es nicht? Du spürst es, oder?“ Maria wendete sich an Vera.

Die nickte stumm. Was das war, was sie spürte, wüsste sie nicht zu sagen. Aber etwas geschah mit ihnen, weil etwas ringsum geschah. Klinkermanns Ausraster war nur ein Zeichen. Die Eruption einer Unruhe in ihm. Wie sie in jeder und jedem von ihnen rumorte?

„Ich für meinen Teil gehe jetzt“, sagte Peter leise. „Kommt ihr mit?“
„Das war nicht gerade ein mustergültiger Krankenbesuch, wa?“, sagte Sylvia zu Vera.

„Ich bin mit dem noch nicht fertig!“ schnaubte Mark, und es klang kläglich durch das feuchte Papier unter seiner Nase.

„Jajaja!“ Sylvia schob Viehweger vor sich her und sagte: „Vera, wir kommen wieder! Hoffentlich hat dich der Scheiss nicht zu sehr aufgeregt. Hat er? Bleibst du noch?“

Maria nickte.

„Na dann!“ Und Sylvia, Peter und Mark reichten Vera die Hände und schoben hastig und verlegen ab. Die Tür wurde leise zugezogen.

„Was ist es, was wir spüren.“ Vera fragte es nicht. Sie stellte es fest, und diese Feststellung war eine Selbstbefragung. In die plötzliche Stille des Zimmers.

„Ich habe Angst“, sagte Maria nach einer Weile. Sie hatte sich vor das Fenster gestellt und schaute in die Stadt. Da draussen war alles wie immer. Autos fuhren, eine S-Bahn machte eine elegante Schlangen-Kurve auf ihrer Schiene. Aus dem Bahnhof Friedrichstrasse strömten Menschen. Am Taxistand mussten die Wolga-Autos, kaum, dass sie angehalten hatten, gleich wieder los. Eine laute Welt, die hier im Krankenzimmer stumm ankam.

Ein Andrang von Fahrgästen, von Passanten. Passanten – das war es. Nichts war anders, äusserlich, alle Menschen waren Passanten. Auf Durchreise. Alle befanden sich auf einer Passage von einem A nach einem B. Nur dass sie das A kannten, das B hingegen nicht. So fühlte sich Maria, so fühlte sich auch Vera: Wie auf einer Durchfahrt von einem bekannten Ort zu einem unbekannten Ort.

„Du hast dich verändert“, murmelte Vera.

„Ach, die Punknummer!“ Maria winkte ab. Erledigt, perdu, olle Kamellen. Auch nur eine Passage, mehr nicht. „Waren irgendwie lästig. Auf einmal. Die Ringe im Ohr und die Perle auf der Zunge. Irgendwie albern, fand ich.“
„Meine ich nicht. Du wirkst traurig. Einsam. Komm, setz dich zu mir.“
„Ich habe Angst“, wiederholte Maria, als sie auf der Bettkante sass. Plötzlich nahm sie Veras rechte Hand und hielt sie, als wollte sie die wärmen. Oder sie wollte ihre Hände an Veras Hand wärmen. Ein Hände-Sandwich.

Maria seufzte, ein Schütteln fuhr durch ihren Körper, dann brach es leise und langsam aus ihr heraus. „Es bröckelt. Es schwankt. Ich gehe morgens aus der Wohnung und betrete Planken, die sich bewegen. Das Draussen ist ein Schiff, das unter meinen Füssen schlingert. Und wenn ich aufschaue, sehe ich niemanden, der am Steuer steht. Die Scheibe der Kommandobrücke ist dunkel. Da steht niemand und hält einen Kurs. Es geschieht etwas, und ich weiss nicht, was es ist. Es geschieht etwas, das uns alle verändern wird. Das uns schon jetzt verändert hat.

Ach, das ist doch alles eine pathetische Kacke! Ich weiss nur, dass ich Angst habe! Verdammte Kackangst!“ Maria flüsterte jetzt und wollte ihre Hände lösen. Aber Vera hielt sie fest und streichelte sie.

Als die Krankenschwester eine halbe Stunde später das Zimmer betrat, um das Abendbrot zu servieren, fand sie zwei Mädchen vor, die nebeneinander im Bett lagen und eng umschlungen schliefen. Sie stellte das Tablett auf das Nachtschränkchen, sacht, um niemanden zu wecken.

Auf dem Linoleum blinkte etwas. Ein Ring? Seltsam, ein Ring auf dem Boden, woher der wohl kam? Die Schwester hob ihn auf und legte ihn neben die Seife auf den Rand des Waschbeckens und verliess auf Zehenspitzen das Zimmer.

*

Vera schlief, wachte auf, ass und trank, schlief wieder.

Da draussen, ausserhalb des Krankenhauses, vollzog sich eine Wende. Jedenfalls stand das Wort in den Zeitungen, die voll waren mit Meinungen, Forderungen und Klagen der Menschen. Leserzuschriften, Leserbriefe, Lesermeinungen – es war, als wären plötzlich die Leser die Redakteure. Oder hielten die sich nur zurück, weil sie nicht wussten, wohin der Laden lief?

Da draussen trat Erich Honecker, der Generalsekretär der Regierungspartei, zurück und machte Egon Krenz Platz. Der redete im Fernsehen und versprach – die Wende.Und da draussen schrieben Leser empört, dass die Sauna in der neuen Schwimmhalle im Freizeitforum Marzahn entgegen dem Bericht eines Journalisten doch noch nicht geöffnet hatte. Der Direktor des Freizeitforums meldete sich und versprach – eine Wende.

Da draussen wurden Ausreisegenehmigungen erteilt für diejenigen DDR-Bürger, die in Warschau in die Botschaft der BRD geflüchtet waren – eine Wende war das, auch wenn es noch keine endgültigen, neuen Reisegesetze gab. Und da draussen informierte ein Betrieb in Kakerbeck, der Briefkästen herstellte, dass es künftig Kästen mit kunststoffbeschichteten Blechen geben würde, die eine längere Lebensdauer garantierten – eine Wende für die insgesamt 38.000 Briefkästen in der DDR.

So viel Wende war, dass einem wirbelig werden konnte im Kopf.

Vera wollte davon am liebsten nichts hören und nichts sehen. Mochten die da draussen doch miteinander reden statt Randale zu machen! Miteinander, aneinander vorbei, über einander, gegen einander! Mochten sie Untersuchungen anstellen und versprechen, fortan gäbe es eine Demokratie! Auch wenn niemand so genau wusste, was das war, oder diejenigen, die es wussten, kamen noch nicht richtig zu Wort. Oder warum die bisherige Demokratie keine echte Demokratie gewesen sein soll. Sondern eine Diktatur, die Diktatur des Proletariats – das war nicht rechtens?

Es reden immer erste viele gleichzeitig, dann ein paar nacheinander, und am Ende entschied jemand, der bis dahin noch gar nichts gesagt hat und jetzt lauthals verkündete: „Es muss eine Wende her.“

Warum nicht? Wie es war, konnte es wohl nicht bleiben. Das wurde klar und klarer; und hatten es die Menschen nicht gewusst, schon lange, länger jedenfalls, als es die Regierenden geschnallt hatten?

Eine Wende. Wohin?

Eine Wende zum Besseren? Wenn alle anpacken, wenn niemand mehr geht, sondern alle bleiben und arbeiten mit? Oder, wie es in einem veröffentlichten Gedicht hiess: „Macht was, Leute!“ Macht eine Wende, Leute! Aber vergesst nicht, dass eure Augen vorn im Gesicht bleiben und die Füsse nicht plötzlich umgekehrt angebracht sind?

Montag, 23. Oktober

Vera wachte auf, unterhielt sich mit Sonja, ihrer Lieblingskrankenschwester, über deren Pech in der Liebe. Ausserdem stellte ihr einer der Ärzte nach. „Verheiratet isser, zum dritten Mal! Würdest du dich auf so ein Schlachtross einlassen?

Vera musste lachen. Keine Ahnung. Sie hatte Gernot, von dem Sonja meinte: „Auf den musste uffpassen! Det is'n Schmachtkrümel! Det is'n Schnellboot, wat noch nich in'n Hafen will!“

Ja und? Wer wollte schon mit 16 in den Hafen? Vera doch nicht; Sonja vielleicht, aber die war schon Mitte Zwanzig.

Ja, macht was, Leute, macht Liebe! Zum Reden ist Zeit, wenn wir alt und tatterig sind!

Die Zeitungen türmten sich auf dem Nachtschränkchen, Zeitungen, in denen Vera lustlos blätterte. Sie hatte keine Meinung, und wenn ihre Mutter mal wieder da war und husch, husch wieder abzog, um sich ins Getümmel um das Grosse und Ganze zu stürzen, dann sah Vera sie mit grossen Augen an und hörte schweigend zu. Das Mädchen hatte keine Meinung zu all dem, was draussen vorging. Alles, was sie hatte, waren Kopfschmerzen und – ein Leben wie in Watte. Zwischendurch stand mal das Herz still, die Maschinen fiepten und Vera schwamm durch ein weisses Licht, das war Aufregung genug. Und falls es im Grossen und Ganzen da draussen abwärts oder mit einer Wende gehen sollte, mit ihr ging es im Grossen und Ganzen aufwärts und sie wendete sich nur, um bequemer liegen zu können.

Angenehm lebte es sich im Krankenhaus. Vera musste sich um nichts kümmern. Der Zeitgeist besuchte gewiss auch die Charité. Aber falls er Ärzten und Schwestern, Verwaltungsangestellten und Pflegern erschien und sie zu politischen Aktionen und Diskussionen überredete – den Patienten sollte es an nichts fehlen und sie sollten abgeschirmt gesunden; da war es wichtiger, das Krankenhauspersonal blieb an seinem Platz.

Ausserdem hatte der Vater des Zeitgeistes, der Demiurg, sowieso anderswo zu tun. Für ihn war das zweigeteilte Deutschland nur eine Notiz im Anhang zu seinem Weltenplan, in den er niemanden hineinschauen liess. Nun, vermutlich gab es ihn sowieso nicht, und den Schöpfer der Welt gibt es auch nicht, aber ist die Geschichte nicht ein grandioses Schauspiel? Und musste sie, wenn sie das ist, nicht einen famosen Regisseur haben? Und falls es ihn doch gibt und gab, dann gab und gibt es auch dessen Gattin Klio. Sie flatterte als Muse der Geschichte durch die Welt und tat so, als kennte sie den Weltenplan ihres Gatten. Aber auch sie hatte ihn (den Weltenplan) nie gesehen. Ihre Rolle war es, mit Staatsmännern in Moskau, Washington und Paris zu flirten, die Party, auf der sich alle trafen zu organisieren – und sich heimlich mit Oppositionellen in Warschau, Prag, Leipzig und in Berlin-Treptow in der Wohnung des Dramaturgen Münch und seiner berühmten Schauspielerfrau zu treffen. Ob ihr Gatte, der Oberste Weltenplaner, der Generalsekretär der Geschichte, davon wusste? Sicher, doch, wahrscheinlich doch nicht.

Mittwoch, 25. Oktober

Vera wusste, dass ihre Mutter weiterhin zu den Treffs ging, um den Lauf der Geschichte zu lenken.

Das geht nur, wenn man mit Klio auf Duzfuss steht und sich darauf versteht, ihr zu schmeicheln. Ansonsten ist es eher unwahrscheinlich, dass man den Lauf der Geschichte beeinflussen kann. Sie ist kein Fluss. Und das Tun der Menschen ist kein Staudamm, keine Uferbegradigung, um das Wasser zu bändigen und in eine Richtung zu zwingen, die uns passt. Absonderliche Gedanken können einem Menschen kommen, wenn er tage- und nächtelang im Bett liegt und sich fast ausschliesslich nur mit sich selber beschäftigt und den eigenen Knochen beim Heilen zuhört. Vera wäre nie auf solche Gedanken gekommen, wenn nicht ihre Mutter gewesen wäre.

Victoria Lothringen hatte sich in den Kopf gesetzt, aus ihrer Tochter eine Märtyrerin, Feministin, auferstandene Rosa Luxemburg und mindestens die zukünftige Präsidentin der Welt zu machen. Für diese Rollen musste sie aufgeklärt und erzogen werden.

Die Mutter kam täglich, meistens nur für zehn, fünfzehn Minuten, aber jedes Mal liess sie Stapel von Papieren zurück. Flugblätter, Programme, Appelle. „Lies das!“ Ihre Empfehlungen klangen mehr nach Befehl als nach Angebot. „Du hast die Zeit dafür, hier im Krankenhaus!“ --- „Setze dich damit auseinander und sage mir, was du davon hältst!“ --- „Ist es nicht toll, wie die Sache ins Laufen kommt! Da geht ein Ruck durch das Land, und was für einer!“

Vera beobachtete ihre Mutter, diesen Adrenalin-Junkie. Victoria war auf einer Droge, die Revolution hiess. Victoria schmiss sich die Revolution ein und wollte, dass ihre Tochter verstand, was draussen im Lande vor sich ging. Wobei Vera das Gefühl hatte, dass die Mutter es auch nicht verstand, jedenfalls nicht alles:

„Homosexuelle verstehen sich nicht als Randgruppe“--- „Frauen, bildet Banden!“ --- „Was braucht unsere Gesellschaft, was benötigt unser Land? Wir brauchen Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine tiefgreifende Medienreform. Wir brauchen Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Wir brauchen eine gründliche Reform des Wahlrechts.“ --- „Welche Antworten hat die Geschichte?“ --- „Die Zeit drängt. Das Volk soll jetzt entscheiden. Wir rufen zu einem Volksentscheid 1990 auf“ --- „Das Präsidium des Künstlerverbandes teilt die Empörung über die Politik der Massenmedien, ihre die Widersprüche verschweigende und beschönigende Berichterstattung“ --- „Der Sozialismus ist in seinen Erscheinungsformen vielgestaltig wie das Leben selbst, denn er ist das lebendige Schöpfertum von Millionen Menschen“

Jajaja! Und so weiter und so fort!

Neinneinnein! Und so weiter auf keinen Fall!

Vera schwirrte der Kopf. Neinjaneinja! Wespen summten in ihrem Hirn. Sie las das alles, bis sie das Gefühl hatte, eine Fremde in einem fremden Land zu sein. Das konnte nicht stimmen. Es war doch ihre Heimat, seit sechzehn Jahren? Oder war die DDR etwas ganz anderes, als sie wahrgenommen hatte? Ein schlechter Boden, der umgepflügt werden musste, ganz und gar? Sollte kein Stein mehr auf dem anderen bleiben? Hatte sie in einem Land gelebt, ohne in ihm gelebt zu haben?

„Ihr habt gewiss Recht“, hatte sie lahm und mit trockenem Mund gesagt, als die Mutter wieder einmal hereingestürmt war, ihren Mantel auf den Tisch warf und in Gedanken schon wieder draussen war. Irgendwo in der Revolution. Während Albert, der diesmal mitgekommen war, gemächlich die Zimmertür schloss und Vera ein Geht's dir gut?-Lächeln sendete.

„Wir haben nicht nur gewiss Recht! Wir werden immer mehr! In Leipzig geht die Post ab! Aus den Kreisstädten werden Demos gemeldet! Die oben können nicht mehr, wir unten wollen nicht mehr! Weisst du, was das heisst?“
„Revolutionäre Situation?“, fragte Vera lasch. Eines würden auch diese Revolutionäre dem Staat nicht vorwerfen können: dass er keine willigen Schüler hatte, die durchaus auch was von einem wie Doktor Lautengässer lernen konnten. Wenn die oben nicht mehr können, wie sie wollen, und sie unten nicht mehr wollen, wie sie sollen, dann entsteht eine – revolutionäre Situation; sag ich doch.

Aber warum? fragte sich Vera. Eine revolutionäre Situation ist noch keine Revolution. Wie erkennt man, wenn man Teil dieser Situation ist, dass daraus eine Revolution entstehen kann? Oder muss? Oder soll? Oder sollte?

„Richtig!“ Victoria Lothringen ballte die rechte Hand zur Faust und stiess sie in die Luft. „Wir befinden uns am Anfang einer Revolution!“

Was will diese Revolution? fragte sich Vera weiter. Ist es überhaupt eine?Wie ist es, wenn man Teil einer Revolution ist und während sie stattfindet nicht genau weiss, ist es eine oder ist es keine? Und wer ist in meinem Land oben und wer ist unten? Und wenn das alles umgestürzt wird wie ein Pudding was kommt dann? Wird meine Mutter Präsidentin? Na ich weiss nicht. Ich glaube, nicht mal ich würde sie wählen, weil sie viel zu spontan ist, viel zu leidenschaftlich, viel zu, ach, was weiss ich, ich liebe meine Mutter, aber …

„Die sind in der Klemme! Sie können nicht mehr ohne uns! Wir wollen nicht mehr mit ihnen! Die können tricksen, Gewalt anwenden, die können uns die Instrumente zeigen und Gewalt anwenden, wir werden nicht …!“
„Was denn für Instrumente?“, fragte Vera, leicht gereizt.

„Die werden unsere Bewegung nicht stoppen können! Wir sind viele, wir werden immer mehr!“
„Die steht im Stall und du stehst daneben“, flüsterte Vera. Sie kicherte, kriegte einen Schluckauf. Dieser Spruch!„Die steht im Stall und du stehst daneben“, hatte der Vater zu ihr gesagt, als Vera einmal verächtlich von einem Mädchen sprach. Die hat! Die ist! Die macht!Die.So redet man nicht von einem anderen Menschen!

„Was?“
„Die! Du hast die gesagt. Wer sind denn die?“
„Regierung, Staat, Partei. Liest du denn keine Zeitung? Liest du denn nicht, was ich dir mitbringe?“
„Wer sind die?“
„Systemtreue Journalisten, Abgeordnete! All die Handlanger der Macht, die abgewirtschaftet hat!“

Vera tauchte ab. Sie wurde ein Fisch in einem riesigen Aquarium. Sie sah, wie die Mutter den Mund bewegte, und sie schaute auf Albert. Der hatte ihr ein paar schmale Bücher auf den Nachttisch gelegt und gesagt: „Auch in Zeiten wie diesen ist ein gutes Buch eine Labung der Seele. Nein, ich sollte sagen: grad in Zeiten wie diesen.“Vera sah durch die Scheibe, die den Ton abschnitt: Während das Gesicht der Mutter vor Eifer glühte, lag auf Alberts Gesicht spinnenwebenfein ein Geflecht aus Gutmütigkeit, Staunen und Spott. Albert sah abwechselnd seine Freundin Victoria und den Fisch Vera an. Er zwinkerte mit dem rechten Auge und sein Lächeln sagte: Sie wird sich wieder beruhigen, glaube mir, Vera! Dann wurde der Fisch aus dem Wasser geschleudert und musste wieder hören:

„ … Wir brauchen volle Freizügigkeit für jeden, auch für die Jugend! Unser Verhältnis zu Reisen, Auswanderung und Heimkehr muss vom Kopf auf die Füsse gestellt werden und aus dem Umfeld von Verrat und Verbrechen geholt werden! Wir brauchen den Aufbruch von Erziehung und Volksbildung aus der Erstarrung in Disziplin und Langeweile! Ein Drittel unserer Gesellschaft sind alte Menschen, Kranke und Behinderte. Ihnen muss …“
„Ist gut, Mama“, sagte Vera klar und laut. „Ich mag deine Sprache nicht, Mama.“
„Was ist mit meiner Sprache?“
„Du hörst dich an wie eine Zeitung, Mama.“
„Wie eine Zeitung?“ Victoria Lothringens Mund stand vor Verblüffung offen. Ihr Blick ging zwischen Albert und Vera hin und her. Sie schnappte nach Luft; war sie jetzt ein Fisch, der aufs Trockene geriet?

„Es sind die gleichen Wörter wie in der Zeitung. Nur dass du behauptest, vor deinen Wörtern steht ein Plus und vor den Wörtern der Zeitung steht ein Minus.“
„Was meint sie damit, um Himmels willen, ich verstehe meine Tochter nicht?“ Ist Vera verrückt geworden? Hilf' mir, Albert, sage mir, was sie meint?“ Victoria umfasste mit beiden Händen Alberts rechten Oberarm, als wollte sie sich festhalten, um nicht in einen Strudel gezogen zu werden. Albert legte eine Hand auf die Hände-Klammer der Freundin. Schon gut, immer langsam mit den jungen Pferden!

„Ich vermute“, sagte er bedächtig, „dass du Vera ein bisschen überforderst. Sie braucht Ruhe. Ausserdem …“ Albert löste Victorias Hände von seinem Arm, stand auf und stellte sich mit dem Rücken zum Fenster. Sein Gesicht wurde im Gegenlicht zu einem dunklen Kreis, seine Gestalt zu einer dunkeln Kontur. Was er dann sagte, klang wie von sehr weit her aus einem Raum, der nur von ihm bewohnt war. „Ausserdem sind wir doch alle gleich. Wir sind alle Fleisch vom Fleisch des Landes. Die Funktionäre und die Oppositionellen, die Jungen und die Alten, die Demonstranten und die Opportunisten – wir alle reden die gleiche Sprache. Wir hängen voneinander ab, ich glaube sogar, in jedem von uns stecken der Funktionär und der Oppositionelle, der Junge und der Alte, der Demonstrant und der Opportunist. Das Schwierigste wird werden, uns von uns selber zu trennen und den Trennungsschmerz auszuhalten. Das Schwierigste wird es sein, unterschiedlich sprechen zu lernen und sich doch auf Begriffe zu einigen. Versteht ihr, was ich meine?“

Stille. Albert lachte. „Da werde ich nun zum Prediger! Ich meine, die meisten Diskussionen kranken daran, dass nicht von vorneherein geklärt wird, was ein bestimmter Begriff meint. Und ob die Diskutierenden dasselbe unter dem Begriff verstehen. Wenn die einen unter Freiheit verantwortungsfreie Beliebigkeit verstehen, die anderen aber Verantwortung für andere – ja dann reden sie aneinander vorbei! Wenn die einen den Staat für einen Verwalter halten, die anderen ihn aber ausschliesslich als Scheissgegner empfinden – ja dann kann man kaum miteinander reden! Oder? Und wenn wir Meinungsfreiheit sagen, meinen wir was anderes als die in den Zeitungen. Die reden auch von Meinungsfreiheit. Das ist das Wichtigste für mich: Begriffe klären. Am Anfang jedes Gesprächs. Sonst - entstehen Missverständnisse, falsche Entscheidungen, Feindschaften, was weiss ich. Ach, was rede ich!“

Stille. „He? Lebt ihr noch?“, fragte Albert. Er stiess sich vom Fensterbrett ab. Mit jedem Schritt durch das Zimmer wurde er mehr zu dem bärtigen, etwas molligen Mann mit Schultern, die zum Anlehnen einluden. Ein Mann, der lieber las als redete, ein Mann, der lieber beobachtete als urteilte. Vera mochte Alberts unaufgeregte, bedächtige Art, von der sich die Mutter eine Scheibe abschneiden sollte. Doch bis dahin würde die durch die Gegend laufen wie ein zu schnell tickender Wecker.

„Aber davon reden wir doch die ganze Zeit!“ Victoria Lothringen tigerte durch den Raum. „Albert! Wovon reden wir seit Wochen? Was betreiben wir seit Wochen?“ Vera sah, wie Albert grinste. Er wusste Bescheid. „Eine Zeitung! Eine ganz neue Zeitung werden wir gründen! Sie wird keine Partei vertreten und keine Organisation! Die Vernunft wird ihr Chefredakteur! Die Stimme des Volkes wird ihr Text! Die Öffentlichkeit wird ihr Spiegel sein, sie selbst wird der Öffentlichkeit ein Spiegel sein! Der Mann auf der Strasse, die Frau auf der Strasse – sie sind unsere Leser, sie versorgen uns mit Themen! Sie bestimmen den Inhalt unserer neuen Zeitung!“
„Was ich vom Mann auf der Strasse weiss“, versuchte Albert den Redefluss zu dämmen, „und von der Öffentlichkeit: Ich hätte sie nicht gern bei mir in der Wohnung, wenn sie ein einzelnes menschliches Individuum wäre. Ehrlich nicht! Faul, treulos, nicht in der Lage, sich auszudrücken! Unehrlich, übergewichtig, ohne eigene Meinung! Dazu geboren, sich an andere anzuhängen.“
„So denkst du über das Volk?“ Victoria Lothringen war abrupt stehen geblieben. Vera bekam eine Ahnung, wie die Unterhaltungen zwischen den beiden sonst liefen. Zwei Bälle, die aufeinander prallten, sich abstiessen, aber immer wieder zurücksprangen. Und sich liebten? Vera kicherte wieder. Diesmal nicht still für sich. Albert zwinkert ihr zu

„Viel Glück“, sagte Vera. „Für deine Zeitung, meine ich. Würdet ihr mich jetzt bitte in Ruhe lassen?“

Freitag, 28. Oktober

Zwei Tage später wurde Vera überfallen. Ihre Mutter kam herein, gleich hinter ihr zwängten sich drei Männer durch die Tür. Einer trug auf der Schulter eine Kamera, auf der ein kleiner Scheinwerfer eingeschaltet wurde und mit seinem Licht gleissend das Krankenzimmer füllte. Der zweite stiess mit einem Mikrofon, das an einer langen Stange hing, in das Zimmer. Der dritte schwitzte und hielt ein paar Zettel in der Hand; es schien, als lernte er auf den letzten Metern zu einer Theaterprobe auswendig, Fragen vermutlich.

„Vera, meine Liebe! Wir werden alles dokumentieren!“, rief Victoria.

„Was werdet ihr dokumentieren?“ Vera, völlig verdattert, richtete sich im Bett auf.

„Deinen Fall!“
„Welchen Fall?“, schrie Vera. „Macht die Scheisskamera aus! “Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf und stiess wütend mit den Füssen nach den Eindringlingen.

„Du warst dabei!“, rief Victoria. „Du bist eines der Opfer der Staatsgewalt! Die Demo wird eines Tages ein Teil der Zeitgeschichte sein! Wenn wir nicht jetzt schon die Zeugen befragen und ihre Aussagen festhalten – wann dann?“

Vera bebte vor Zorn. Ihr Körper zitterte unter der Decke. Wenn ihr eine Jeanne d'Arc braucht, nehmt doch meine Mutter! Wenn ihr eine Revolutionärin sucht, nehmt meine Mutter auf! Raus, haut ab, verschwindet! Und Vera riss die Decke vom Gesicht und schrie: „Raus! Verschwindet! Spinnst du, Mutter?“

Der Mann mit den Zetteln in der Hand – ein nervöser, dicklicher Herr mit einer Schiebermütze auf dem Kopf – wich einen Schritt zurück und stiess dabei den Mann mit der Mikrofonstange in den Bauch. Das Mikrofon pendelte, neigte sich zum Tisch und riss eine Vase mit Blumen um. Der Kameramann schaltete die Kamera und das Licht aus und knurrte: „Kann das bitteschön nicht vorher geklärt werden?“
„Vera, Verotschka, reg' dich nicht auf!“ Victoria setzte sich auf das Bett und griff nach der linken Hand ihrer Tochter. Vera fauchte wütend und drehte sich auf die Seite, weg von ihrer Mutter, so weit wie es ging. „Vera, Verotschka!“
„Lass mich in Ruhe! Haut ab!“ Bin ich eine Vorzeigepuppe? Ich bin während deiner so genannten Zeitgeschichte von einem Polizisten verdroschen worden, dem die Angst in den Augen stand wie nur was! Soll ich euch das erzählen? Wollt ihr bestimmt nicht! Ihr wollt eine Heldin! Dann sucht euch eine, aber woanders! Gibt bestimmt welche, die sich gerne als Helden des Widerstand feiern lassen.

„Vera! Liebste! Du bist eine Betroffene!“, versuchte es die Mutter noch mal. Aber Vera hielt sich die Ohren zu. Ich bin deine Tochter, Mutter, und nicht eine Betroffene! Es konnte ja sein, dass das Volk sich wehrt. Es konnte ja sein, dass Kommissionen gebildet wurden, die die Vorgänge um die Demonstration und die Verhaftungen und Prügeleien untersuchten. Es konnte ja sein, dass sich prominente Wissenschaftler, Künstler, Publizisten plötzlich in die Politik einmischten und alles anders werden sollte. Aber ich bin keine Betroffene, ich bin deine Tochter, verdammte Scheisse!

Vera blieb noch lange regungslos liegen, als die Mutter und die drei Fernseh-Heinis längst das Zimmer verlassen hatten und ihre Schritte erst im Krankenhaus und dann in der Weltgeschichte verhallt waren. Ob sie hörte, was der Mann mit der Schiebermütze und mit den Zetteln in der Hand hörte? „Schade“, sagte er zu dem Mann, der seine Kamera mürrisch von der Schultern genommen hatte und in der rechten Hand schlenkerte wie einen Einkaufsbeutel. „Pech gehabt! Die Kleine ist echt telegen.“

Mittwoch, 1. November

Mit ein paar Schritten vom Bett zum Tisch, vom Tisch zum Waschbecken, vom Waschbecken zurück zum Bett hatte Vera vor zwei Tagen begonnen, wieder zu laufen. Ihr wurde schwindlig, als sie das erste Mal wieder stand, neben dem Bett, und sich zwischen die zwei Krücken aus Aluminium spannte. Sie lernte Laufen; sie spazierte durch die Korridore des Krankenhauses.

Sie ging an Zimmern vorüber, in denen Patienten lagen. Schwestern und Ärzte kamen ihr entgegen, hinter der gläsernen Scheibe der Aufnahme sassen ein Krankenpfleger und zwei Krankenschwestern bei Kuchen undKaffee. Wen sie sah, den lächelte Vera an, und wer sie anschaute, der lächelte sie an; sie war beliebt bei allen, wie es stets Menschen in begrenzten Gemeinschaften sind, deren Ausstrahlung von ehrlicher, natürliche Freundlichkeit ist und die magnetisch Sympathie anziehen.

Gestern hatte sich Vera in den Treppenaufgang gewagt, stieg erst zwei Etagen nach unten, dann die zwei Etagen wieder nach oben. Sie stellte fest, dass es noch eine Treppe höher ging, dann kam eine eiserne Leiter, die zu einer Luke führte.

Vera sah einen alten Mann, der einen zerschlissenen Bademantel trug, oben auf der Leiter stand und sich wachsam umsah, bevor er die Luke öffnete und auf dem Dach des Krankenhauses verschwand. Er ächzte und krächzte dabei – ein Rabe im Morgenmantel und in gestreiftem Schlafanzug. Es hörte sich, als sei es sehr beschwerlich für ihn, hinaufzukraxeln.

Neugierde – und Langeweile: Heute stieg Vera über die Leiter aufs Dach. Schnaufend; mit den Krücken war es für sie so anstrengend wie für den Mann mit dem Alter in den Knochen.

Welch ein Blick über Berlin! Obwohl es einer der Novembertage war, die es nur in Berlin gibt! Schniefwetter vom Feinsten, aber vom Allerfeinsten! Der Himmel ist eine Wüste aus Blei, und wenn die Sonne zu sehen ist, dann nur als ein bleiches O wie ein „Olala, mich gibt's auch noch“-Anspruch. Über den Dächern stieg steil der Rauch der Öfen in das windstille, graue Nass des Tages. Vera orientierte sich am Fernsehturm auf dem Alexanderplatz und an einer amerikanischen PANAM-Maschine, die in Richtung Pankow herabstieg, um auf dem Flugplatz Tegel im Westen der Stadt zu landen.

Auf dem Dach zog es, Wind und Feuchte krochen ihr unter den Morgenmantel und auf die Haut. Vera schaute sich um und ging ein paar Schritte zu einem blechernen Kasten, der etwa zwei Meter hochragte und dessen Klappen wie die Klappen von Briefkästen waren, nur dass sie Spalte offen liessen. Sie schepperten, weil die warme Luft aus dem Haus herausdrang und gegen die kalte Luft der Stadt tauschte. Sie stellte sich mit dem Rücken an den Kasten, der Wärme ausstrahlte, und schloss die Augen. Dann schaute sie um die Ecke und entdeckte eine seltsame Szene: Neben einem alten, bleichfleckigen Ledersofa stand ein Teetischchen mit krummen Beinen. Auf dem stand eine angebrochene Flasche Weinbrand und lang eine Schachtel der Marke Karo. Sie erschrak, als sie plötzlich hinter sich eine mürrische Stimme hörte. „Erwischt, oder?“

Vera fuhr herum. Der alte Mann hing halb im Haus und lag halb auf dem Dach. Er stemmte sich durch die Luke und stand auf wackligen Beinen. Aus dem halboffenen Bademantel quoll graues Brusthaar hervor, und er pustete sich eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn, ein Rest von den Haaren, die über den Schädel verteilt schlapp lagen.

„Sie sollten Ihren Mantel zumachen“, sagte Vera verlegen. „Sie holen sich sonst den Tod.“
„Den Tod holen! Mädchen, Mädchen, Spassvögelchen, du! Ich ihn? Er holt mich, und zwar demnächst!“, sagte der Mann und fing an, rasselnd zu kichern. Er krümmte sich und patschte mit den Händen auf die Knie, die dick bandagiert waren. Wieder prasselte und knarrte es aus seinem Brustkorb, der sich irre schnell hob und senkte. Vera bekam Angst. Nicht, dass der Alte umfiel, hier oben über den Dächern Berlins. Und sie müsste erklären, warum sie und er auf dem Dach taten, als wären sie zur Kur in den Bergen, wo es Schnee gibt, einen blauen Himmel und Sonne. Dieses Berliner Wetter war geeignet für einen Tod, dachte sie, ein Satz, den sie gleich wieder wegwischte.

Der alte Mann stellte sich neben Vera. Er roch nach Urin, nach Pfefferminzbonbons und nach einem süsslichen After Shave oder Parfüm. Er wies mit dem Kopf um die Ecke auf das Arrangement einer fragmentarischen Wohnzimmer-Gemütlichkeit. Seine Augen gingen flink hin und her, er hatte in Nullkommanichts die Lage erkannt. Du Patientin, ich Patient, da haben wir was Gemeinsames. „Petzt du?“

Vera lachte. „Petze, Petze ging in'n Laden, wollt fürn Sechser Käse haben!“ Sie gab ihm zu verstehen, dass sie alles Mögliche sein könnte, krank, plemplem vielleicht, eine Art Jeanne d'Arc der neuesten Bürgerbewegung, wenn es nach ihrer Mutter ging – aber eine Petze, eine Petze war sie nicht, nie gewesen und würde sie niemals sein. Petzen ging gar nicht.

„Sechser Käse gab es nicht, Petze, Petze ärgert sich!“, ergänzte der Alte vergnügt.

Und dann riefen sie beide: „Ärgert sich die ganze Nacht, hat vor Angst ins Bett gemacht!“ Sie lachten, bis der Mann trocken sagte: „Müsste ich wohl doch eine Petze sein.“

Und da prusteten und krümmten sie sich erst recht, und dann setzte sich der Alte auf das Sofa und klopfte mit der Hand neben sich. Setz dich, Mädchen.

Er bot Vera einen Schluck aus der Pulle und eine Zigarette aus der Schachtel an. Vera lehnte ab. Wein auf dem Friedhof mit Freunden – das ging. Vielleicht auch eine Zigarette. Aber jetzt so, nein.

Eine Weile sassen sie nebeneinander auf dem Sofa, dessen Leder vom Wetter gegerbt und steinhart war, und sagten kein Wort. Schauten über die Stadt, die sich um sie nicht kümmerte und um die sie sich nicht kümmerten. Bis der Alte zu summen anfing und sich wiegte. Aus dem Summen wurden Wörter, wurde ein Lied, das Vera nicht kannte.

„Sie sind kein kleiner Mann, Sie sind kein grosser Mann,

Sie sind die Mitte.

Doch ab und zu steh'n sie dem Schicksal visavis

mit einer Bitte:

Sie denken so dumm kann ja ich nun auch nicht sein,

ich steig mal in den Karriereaufzug ein.

Dochder Fahrstuhl nach oben ist besetzt,

Sie müssen warten.

Sie können zum Weg nach oben jetzt

erst gar nicht starten.

Die Leute drängeln da rein,

mehr kann da oben nicht sein.

Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt,

Sie müssen warten … „

So plötzlich er angefangen hatte, so abrupt hörte er wieder auf und zündete

sich an der noch brennenden Zigarette eine nächste an.

„Komisches Lied“, sagte Vera.

„Was für ein Lied?“, fragte er.

„Das sie eben gesungen haben.“
„Ich habe ein Lied gesungen? Ich kann gar nicht singen.“

Das stimmte. Ein begnadeter Sänger war er gewiss nicht. Aber wusste er nicht mehr, dass er eben ein Lied gesungen hatte?

„Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt“, wiederholte Vera. „So was haben Sie eben gesungen.“
„Manchmal singe ich Lieder, jaja. Weiss ich. Die kommen aus irgendwelchen Ecken meines Gehirns“, sagte er, und als gäbe es da einen Zusammenhang – nur welchen? fragte sich Vera: „Da hinten liegt Charlottenburg. Komisch.“

Mit der rechten Hand, in der er die Flasche hielt, zeigte er zu einem Stadtviertel, das jenseits der Berliner Mauer lag. Den Namen hatte Vera schon gehört. Wie sie auch wusste, dass lange vor ihrer Geburt die Stadt geteilt wurde, ihre Heimatstadt. Aber was war ihre Heimatstadt? Sie konnte nicht von sich sagen, dass sie jenes Charlottenburg oder das Westberlin da drüben übermässig interessiert hätte. Das war so weit weg wie Timbuktu oder Wladiwostok. Charlottenburg? Und? Sonst so?

„Bin gross geworden da. Erst war ich der kleine Erwin Feldgruber. Dann war ich der Junge Feldgruber, der gut Reck konnte. Jetzt bin ich der alte Erwin Feldgruber, der bald den Arsch hochmacht“, er kicherte, „entschuldige! Wenn das keine Karriere ist! Ohne Fahrstuhl!“ Der Alte nickte sich selbst zu, nahm einen Schluck aus der Pulle, ächzte und räusperte sich und fiel dann in einen Husten, der wie ein Schwarm aufgescheuchter Krähen klang. Er sackte zusammen, der Körper klappte nach vorn, sein Kopf lag zwischen den Knien. O, Gott! dachte Vera. Was mache ich mit einem Toten auf dem Dach? Schliesslich beruhigte er sich und erzählte, als wäre nichts geschehen, als wäre er nicht eben durchgeschüttelt worden: „Meine Mutter wurde verschüttet bei einem der Scheissbombenangriffe. Ich war damals an der Front. Herrjemine, war das eine Scheisse! Aber Unkraut vergeht nicht! Prost!“
„Wenn Sie weiter so rauchen – und trinken. …“
„Ick bin fümnachtzich!“ Der Alte sprang auf und lief aufgeregt hin und her. Fast bis zur Dachkante und wieder zurück. Vera wurde angst und bange zumute. Und einmal ins Berlinische gefallen, schimpfte er weiter. „Is doch ejal, woran eener mit fümnachtzich die Hufe hochmacht, oder? Wenichstens bissken nett will mans zum Ende haben, oder? Operationen, Operationen, ja Hacke, oder? Am Arsch die Räuber, wie?“

Es war unheimlich. Vera fühlte sich bedrückt, aber sie fand den Alten auch komisch, und – sie empfand Respekt vor ihm. Was wusste sie schon von dem langen Leben des fremden, alten Mannes auf dem Dach? Und würde sie etwas davon kapieren, wenn er ihr mehr davon berichtete?

Der Mann erstarrte in einer Pose, kroch in sich zusammen und flüsterte: „‚Ei, wir können nicht alle Herrn sein, nicht jeder Herr kann getreue Diener haben. Seht ihr doch so manchen pflicht'gen, kniegebeugten Schuft, der, ganz verliebt in seine Sklavenfessel, ausharrt, recht wie der Esel seines Herrn, ums Heu, und wird im Alter fortgejagt. – Peitscht mir solch redlich Volk! Dann gibt es andere, die, ausstaffiert mit Blick und Form der Demut, ein Herz bewahren, das nur sich bedenkt; die nur Scheindienste liefern ihren Obern, durch die gedeihn und, wann ihr Pelz gefüttert, sich selbst Gebieter sind.' … Hurra!“, brüllte er dann. Aus der Flasche spritzte der Weinbrand und die glühende Zigarette sprühte Funken, als der Alte die Arme hochriss, als wollte er Berlin umarmen.

„Shakespeare!“, schrie er die Stadt an. „Shakespeare, ihr Saftärsche! Reiche vergehen, Reiche entstehen, der Dreck ist überall und sucht sich seinen Weg! Wanderratten, ein Volk von Wanderratten bewegt sich durch die Röhren der Kanalisation! Berlin, Zärtlichste, meine, du bist so schön im Dreck!“

Starker Tobak, oder? fragte sich Vera, jetzt doch verängstigt. Mit einem Verrückten auf einem Dach?

„Ich gehe jetzt sterben“, sprach der Alte. „Hat mich gefreut, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Du Nichtpetze! Hübsches Kind, guter Charakter, ich spüre das! Und was Feldgruber spürt, das hat Hand und Fuss und Bestand! Scheisse noch mal! Und nicht vergessen: Berlin ist eine Scheissstadt und das Beste was mir passieren konnte! Und vermutlich dir ooch!“

Er schraubte die Flasche Weinbrand zu, ein bisschen Stoff war noch drin, verstaute sie im Polster des Sofas und liess sich auf alle viere fallen. Er kroch zur Luke und bellte theatralisch, und bevor er abtauchte, rief er noch: „Morgen? Gleiche Stelle, gleiche Welle? Gleiche Zeit?“
„Klar“, rief Vera zurück. „Mit dem Sterben, da lassen Sie sich man Zeit, Herr Feldgruber!“
„Feldgruber? Wer ist das denn? Ist hier noch wer? Wau, wau!“ Und er verschwand, Klappe zu, Affe tot.

Donnerstag, 2. November

Vera fand sich wie verabredet ein. Doch der alte Mann kam nicht. Die Flasche Schnaps war so unberührt wie die Schachtel Zigaretten, die in einem Plastikbeutel neben einem schmalen Buch steckten. Shakespeare, Die Tragödie des Othello, las sie. Sie wartete, fast eine Stunde lang, dann zog sie sich in die Wärme des Hauses zurück.

Am Abend, als Krankenschwester Sonja mit dem Abendessen kam, fragte Vera, ob sie einen Herrn Feldgruber kennte. Er sei ein bisschen – seltsam und habe bestimmt was mit den Bronchien.- Ein bisschen seltsam seien hier viele, lachte Sonja, und wenn sie es nicht mit den Bronchien haben, dann mit den Knochen, mit der Leber oder mit dem Magen. Oder so wie du was. - Der Mann, sagte Vera, sei 85 Jahre alt, und etwas – überschwänglich. So mit Zitaten. Shakespeare zum Beispiel. - Aaa, sagte Sonja, der Walter Kempau! Ja, der sei ihr auch schon über den Weg gelaufen. Nicht ihre Station, der lag auf der Ontologischen. Aber der Typ war ein unruhiger Geist. Ist durch das ganze Krankenhaus gelaufen, treppauf, treppab, obwohl er's tatsächlich mit der Lunge hatte. Krebs. Und hat sich gern mal hingestellt und so Art Gedichte aufgesagt. Wie ein Schauspieler. - Lag?, fragte Vera. - Ist heute früh gestorben, sagte Sonja. - Aber wieso Kempau? Feldgruber! – Sonja lachte wieder: Er nannte sich auch Gronau und Halbhuber und weiss ich wie noch. – War er ein Schauspieler? Wollte Vera wissen. – Schuster, soweit ich weiss, war er ein Schuster.

Sonntag, 5. November

Wieder waren die Freunde zu Besuch. Nicht alle, Gernot fehlte.

Sie redeten über alles Mögliche und waren eifrig bemüht,Gernots Abwesenheit nicht zur Sprache zu bringen. Aber natürlich fragte Vera, warum er nicht mitgekommen sei.

Peter und Mark schauten sich an, und Maria blickte zu Boden. Veras Blick wanderte über ihre Gesichter und blieb in Sylvias spöttischem Grinsen stecken. „Gernot kann nicht“, sagte Sylvia.

Vera zog die Augenbrauen hoch, beinahe stiessen sie auf der Stirn zusammen und bildeten ein Dreieck von Fragen. Kann nicht? Wieso nicht? Ist was passiert?

„Er… naja, sondert sich ab. Warum, wissen wir nicht“, antwortete Sylvia.

„Wir dachten, er hätte sich bei dir gemeldet?“ Maria sprach leise.

„Er schreibt an einer neuen Nationalhymne.“ Einsatz Peter. „Die ersten zwei Zeilen hat er schon: ‚Bürger, wenn ihr fleissig seid, liebt der Staat euch allezeit!' Er macht dir Konkurrenz.“

Mark, so von Peter angesprochen, winkte ab. Gernot konnte alles Mögliche. Sport, Charme, Strahlemann und Söhne – aber eines gewiss nicht: Poesie. Und Freundschaft auch nicht. Es konnte sein, dass es nur seine, Marks Auffassung war, dass Gernot zwar glänzend aufzutreten verstand, sein Herz jedoch sich mit niemandem gründlich verband.

„Er nimmt ne Auszeit“, sagte Maria und nahm Veras Hand in ihre Hände. „Ich glaube, sein Vater hat Probleme in seinem Ministerium. Sowas schlägt durch.“
„Wie Durchfall“, ergänzte Peter.

„Ich habe gesehen, wie er und Lautengässer im Tierpark-Café sassen. Muss man sich mal vorstellen!“, wusste Peter. „ Mit L a u t e n g ä s s e rKaffee trinken! Müsste mein Herz ein Affe sein! Eher geht die Welt unter!“
„Ich würde sagen“, warf Maria ein, „es ist seine Angelegenheit, mit wem er Kaffee trinkt und mit wem nicht. Das habe ich dir schon dreimal gesagt! Und mindestens tausendmal habe ich dir schon gesagt, dass Spott und Nihilismus allein aus einem Leben nur Scheisse macht!“
„Dabei könntest du mich heilen“, erwiderte Peter und griente anzüglich.

„Du kannst mich mal!“
„Wann?“
„Wenn ich achtzig bin und du der einzige bist, der aus der Gattung der Schwanzlurche übrig geblieben ist. Und selbst dann nicht, wenn ich's mir recht überlege.“

Das Verhalten der Freunde zueinander hatte sich verändert. Vera spürte es. Da war ein Stachel, wie der kleine Dorn einer Rose, der sich in die Hand bohrt und schwer rauszukriegen ist. Sie blödelten wie immer – aber war der Ton nicht heftiger geworden?Schriller? Etwas war geschehen, von dem Vera ausgeschlossen war. Etwas war ihnen geschehen, von dem ein jeder noch nicht zu sagen wüsste, was. Sie waren unruhiger geworden. Vera fühlte es, und es bereitete ihr eine unbekannte Pein. Sylvia, Maria, Mark, Peter, Gernot und sie selbst – wie sollte Vera es ausdrücken? Waren sie dabei, sich voneinander zu entfernen? Eine Gemeinschaft, die zersprang, die sich atomisierte, die noch nicht ahnte, dass sie zerkrümeln würde wie ein altbackener Kuchen?

Das Krankenhaus war eine Insel in einem Meer, auf das die anderen hinausfuhren und wieder heimkehrten. Aber sie fuhren nicht gemeinsam. Jeder sass in einem eigenen Kahn. Und wenn sie heimkehrten, trafen sie sich zwar; wie früher war es nicht mehr. Wann früher?

Blöder Gedanke. Vera sah von einem zum anderen. Das Krankenhaus war keine Insel. Wenn, dann stand das Krankenhaus inmitten einer Insel, dort, wo das Meer nicht mal zu hören war. Und dass Sylvia, Mark, Maria, Peter und Gernot in Booten hinausfuhren, das war ein albernes Bild für die Gesellschaft, in der sie lebten. Ausserdem konnten Maria und Sylvia nicht mal rudern oder segeln.

Vera lächelte. ‚Es war nicht mehr wie früher' – was für ein blöder Satz! Es ist nie wie früher, und wenn es wie früher wäre, wäre es da besser oder schlechter oder gemütlicher oder strenger? Oder wärmer oder kälter?‚Wir wolln den guten, alten Kaiser Wilhelm wieder ham' – so vielleicht? Na Hilfe!

„Übrigens“, unterbrach Sylvia die Stille. „Eberlein liegt auch im Krankenhaus. Herzinfarkt. Nicht schlimm, aber.“
„Es trümmert und wanket …“, will Peter flachsen.

„Jetzt halt aber mal den Sabbel!“, schimpfte das Mädchen und boxte den Jungen gegen die Brust.

„Das tut mir Leid“, sagte Vera.

Und wieder Peter. „Lautengässer ist kommissarischer Direktor! Damit schliesst sich der Kreis, kapito?“

„Was für ein Kreis?“, fragte Vera.

„Gernot, unser grosser Meister. Lautengässer, unser Direktor. Kaffee zu zweit. Ein Rendezvous der Macht!“
„Rendezvous der Macht – was für eine Scheisse!“ Sylvia wischte mit der flachen Rechten über die Stirn. „Du hast sie ja nicht alle.“
„Na was!“ Peter trumpfte auf. „Worum geht's denn zurzeit? Darum, worum es immer geht: um die Macht! Das ist im Kleinen nicht anders als im Grossen. Im Grossen – da pokern andere. Im Kleinen – da spielen wir Mau-Mau wie die Kindergartenkinder.“
„Können die nicht“, sagte Mark, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte.

„Worauf willst du hinaus?“ fragte Sylvia.

„Mark ist von uns als Schülervertreter gewählt worden. Gernot ist gekränkt. Lautengässer will nicht die Demokratie, von der wir grad alle schwätzen. Nebenbei“, Peter wendete sich an Vera, „ich hab' keine Ahnung, von welcher Demokratie überall geschwätzt wird, ehrlich. Mir geht das Gerede von Freiheit und Demokratie mächtig auf den Zeiger. Jeder plärrt ‚Freiheit und Demokratie'! Egal, ob du Faschist bist, Funktionär, Schlagersänger, Hosenscheisser oder Museumswächter! Egal ob du Aktivist der sozialistischen Arbeit oder Rettungsschwimmer oder plemplem bist – alle plärren ‚Demokratie und Freiheit'! Muss so eine Art bunter Weihnachtsteller sein. Süsses für jedermann. Oder wie Kotte sagen würde: Zuckererbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen.“
„Und weiter?“, fuhr ihm Sylvia kalt in die Parade.

„Gernot und Lautengässer gehen ein Bündnis ein. Gernot wird Lautengässers Partner. Mark ist Neese. Wir sind Neese! Lautengässers Wille geschehe, wie im Himmel so in der Schule. Eberlein hat's entschärft. Die Schaffner und Kotte halten sich raus. Oder habt ihrsie irgendwo für irgendwas engagiert gesehen?“
„Ich schon“, sagte Vera; aber grad hörte niemand auf sie.

„Mann, die lieben sich! Die verstecken sich nicht mehr! Die haben erst mal mit sich selber zu tun!“
„Die Liebe, die Liebe! Ist eine Himmelsmacht!

„Du bist widerlich!“ Sylvia schüttelte sich.

Genüsslich fuhr Peter fort: „Und Gernot, unser aller Liebling Gernot spielt fünfte Kolonne!“
„Fünfte Kolonne, fünfte Kolonne!“ Sylvia kriegte sich nicht mehr ein. „So viel Einfluss hat Gernot nicht!“
„Vielleicht auf dich nicht! Die Mädels von Klasse acht bis Klasse elf liegen ihm zu Füssen! Entschuldige, Vera! Aber so isses doch. Die Jungs – die steckt er mit links in die Tasche! Er hat den Bogen raus. Er weiss, wie man mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitet. Oder mit Zuckererbsen aus dem Intershop.“
„Du bist ja verrückt!“ Sylvia schaute die anderen an. „He, warum sagt ihr denn nichts?“

Mark zuckte mit den Schultern wie jemand, der Peters Theorie schon kannte und sie durchaus einleuchtend fand. Maria lächelte hilflos und flüsterte: „Ich mag diese Spielchen nicht.“
„Lauter!“, forderte Sylvia die Freundin auf.

„Ich mag auch nicht laut sein“, erwiderte Maria und hielt Sylvias zornigem Blick stand. „Ich mag Intrigen nicht. Ich weiss nicht, worum es geht. Ich will es auch nicht wissen.“
„Was willst du dann? Klavier spielen? Chopin! bis es Peng macht? Und du Mark?“
„Peter … könnte Recht haben“, sagte er, verstummte und zog ein grüblerisches Gesicht. Etwas übertrieben, fand Vera, die die Szene aufmerksam und mit klopfendem Herzen verfolgte. Wie eine Knallcharge von Schauspieler sich einen Mann vorstellte, der Verantwortung trug und sich fragte, ob er der gewachsen wäre, so trat Mark auf. Und noch immer steckte der Rosendorn in ihrem Handballen.

Aber dann fing er an, von der letzten monatlichen, erweiterten Lehrerversammlung, in der es unter anderem um den Schulstoff der neunten Klasse ging, zu berichten. Beispielsweise um den so genannten Rapollo-Vertrag vom 16. April 1922 und überhaupt um das Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion nach dem ersten Weltkrieg und nach der Oktoberrevolution in Russland und der Novemberrevolution in Deutschland. Dass es eine militärische Zusammenarbeit gab, ja dass deutsche Offiziere sowjetische Offiziere ausbildeten, dass es Manöver gab, an denen sowjetische und deutsche Truppen gemeinsam teilnahmen. Und wie es mit der Geschichte weiterging. Dass zu einseitig die Kommunisten Deutschlands als Patrioten geschildert wurden und später dann, das sind schon die dreissiger Jahre so gar nichts von den Säuberungen unter Stalin erzählt und auch der Spanische Bürgerkrieg von 1936-1939 zu simpel erläutert würde – wie es überhaupt dem Geschichtsunterricht an Vielfältigkeit und Tiefe mangele, und wenn schon die Geschichte wie ein Märchen verkündet würde, wäre doch auch an den Inhalten des Faches Staatsbürgerkunde zu zweifeln. Es könne ja angesichts der aktuellen Entwicklungen und auch der Enthüllungen der letzten Wochen nicht mehr reinen Gewissens ein Stoff gelehrt werden, der beinahe ausschliesslich eine Lobhudelei auf die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands als Vorhut der Arbeiterklasse und auf die Diktatur des Proletariats und die SED sei. – Jedenfalls, schloss Mark den Bericht, sei es zu einer Abstimmung gekommen und die meisten, die allermeisten Versammlungsteilnehmer, schlugen sich dann doch auf die Seite Lautengässers. Der habe zur Mässigung geraten und gemeint, man könne nicht von einem Tag auf den anderen alles verwerfen, was bis dahin Geltung hatte. „'Die historische Wahrheit ist ein heiliges Gut'“, zitierte Mark mit Bitterkeit in der Stimme die Meinung des verhassten Lehrers, „'Welcher Schüler könnte es wagen, die Erkenntnisse hunderter, ja tausender Historiker und Ökonomen, die sich in den Schulbüchern niederschlagen, über Nacht in Frage zu stellen?!'“

Mark verstummte, knirschte mit den Zähnen und guckte wild um sich. Als erwartete er, dass Lautengässer aus einer Ecke des Krankenzimmer gesprungen käme. Hier, im Kreis der Kameraden, würde er dem Ersatz-Direktor aber die Meinung geigen!

„Und was hat Gernot damit zu tun?“, fragte Maria sanft.

„Er sass dabei. Wie ihr wisst, haben wir durchgesetzt, dass aus jeder Klasse drei Leute dabei sein können, wenn die Grosse Runde tagt. Und Gernot hat“, Mark schüttelte, noch immer fassungslos und empört, den Kopf, „Lautengässer applaudiert und andere aufgefordert, es ebenfalls so zu halten wie er!“
„Und die Schaffner? Kotte?“
„Die Liiiebe, die Liiiebe!“, patzte Peter dazwischen.

„Fehlten. Ich hatte nur ein paar Verbündete aus der Neunten. Die brachten ja das Thema ein. Und – die knickten auch ganz schnell ein“, ergänzte Mark. Wieder chargierte er. War ein Mensch, den plötzlich alle Kräfte verliessen und der in sich zusammenfiel wie eine Marionette, die der Puppenspieler an einen Nagel hängte.

Was Mark passiert war, schmerzte ihn. Nicht so sehr die Niederlage in der Sache nagte an ihm. Mark ärgerte sich über das Verhalten der anderen Schülerinnen und Schüler. Wie hatten sie sich aufgeregt, wie sehr hatten sie gewollt, dass der Unterricht wahrhaftiger wurde. Und wie Mäuschen verkrochen sie sich, als Lautengässer kraft seiner Wassersuppe auftrumpfte! Feiglinge, fand Mark, Opportunisten!

Ausserdem wurmte Mark, dass Gernot wieder Mal obenauf gewesen war. Immer wieder das gleiche Spielchen.

Vera schauderte es. Ihre Füsse, Hände und das Gesicht wurden kalt. Da war der Engel, diesmal als Wind, der zwischen die Freunde gefahren war, eben im Zimmer angekommen.

„Ich …“, fing Vera an. Aber was sollte sie sagen?

In dem Augenblick klopfte es an der Tür, die sich gleich darauf einen Spalt weit öffnete, und ein rabenschwarzer Schopf erschien. Der gehörte einem Jungen, den niemand von ihnen hier erwartete: Gadji. Die Augen weit aufgerissen, die Nasenflügel bebten, und das verlegene Gesicht fragte: Störe ich? Dann gab sich der Junge einen Ruck, stiess die Tür auf und trat ein. Selbstverständlich, als sei er der Oberarzt, schritt er ans Bett. Gadji trug eine Nelke vor sich her, die er auf die Bettdecke legte. „Gute Besserung, Vera!“, sagte er, ehe er in die Runde grüsste: „Hallo!“
„Ich will dich nicht entschuldigen, mein sowjetischer Bruder“, zerstörte Peter die plötzliche Stille, „aber Nelken sind was für den ersten Mai und andere Aufmärsche.“
„Schnauze!“, sagte Sylvia. „Was kann die Nelke dafür?“
„Ich hab mal gelesen, dass irgendwo Nelken in Gewehrläufe gesteckt wurden. Portugal, glaube ich, ja Portugal“, sagte Mark

„Holland“, meinte Peter, „bestimmt Holland.“
„Wittstock an der Dosse“, sagte Sylvia, „wir wär's damit?“
„Was für ein Stock in welcher Dose?“, fragte Peter.

Vera musste grinsen. Der Dorn der Rose war verschwunden wie der Engel mit dem kalten Atem.

„Gibt es hier eine Vase?“, fragte Gadji.

„Lass sie liegen“, sagte Vera. „Danke. Ich mach das nachher.“
„Ich wusste nicht, dass du“, er zeigte auf den Verband um ihren Kopf und auf den bandagierten linken Unterschenkel, der auf der auf der Bettdecke lag. „Hat mir erst gestern Sylvia erzählt. Sonst wäre ich schon früher gekommen.“

War Gadji errötet; klar kriegte er einen roten Kopf. Peter stiess Sylvia an und griente, Sylvia stiess Mark an griente, Mark stiess Maria an und griente, und Maria stiess Peter an und griente; so schloss sich der Grinse-Kreis. Und als Peter sagte: „Ich bin echt froh, dass Gernot nicht da ist“, da schüttelten alle entrüstet den Kopf, weil jetzt diese Verknüpfung zwischen Vera und Gernot und Gadji – also Peter, auf welche Gedanken kommst du denn?! Doch Mark – wie wenig einfühlsam können junge Poeten sein? – sagte: „Schätze mal, dass uns ein Problem erspart geblieben ist.“

Zuspiel für Peter, wie ein gelungener Pass beim Volleyball: „Wiederum befinden wir uns in einem Krankenhaus. An der Quelle für Heilung von Wunden und Verletzungen jeder Art.“
„Du meinst“, nahm Mark den Ball auf, „das erspart dem Staat ne Menge Geld. Polizei, Krankentransport …“
„Ihr Affen haltet Deutsch für eine schwere Sprache“, stieg Gadji gutmütig ein, „so schwer, dass sie niemand ausser euch versteht? Ihr seid deutsche … sadnizuije … Löcher. Und deutsche schopuji sind die grössten!“
„He, du asiatischer Lümmel! Hier wird Deutsch gesprochen, und ich möchte auf Deutsch beschimpft werden, wenn denn. Zweitens: Wir können ja mal Gernot erzählen, dass du seine Freundin anmachst. Äh, podruga, verstehst? Wir können uns auch gleich und konjeschno schlagen.“
„Würde der Staat noch mehr sparen“, grinste Gadji. „Weil: Müsste nur einer versorgt werden.“
„Ob das mal echte Männer werden?“ Sylvia verdrehte die Augen.

Und dann reden sie doch noch über ein paar Sachen, die sie beschäftigten. Vera berichtete, dass es ihr soweit ganz gut geht, und wenn es weiter so gut geht, kommt sie in drei Tagen raus. Sie erzählt auch von dem alten Mann, Kempau, den sie kennengelernt hat und der gestorben ist. Die Clique erzählt, dass Eberlein einen Herzinfarkt bekommen hat, jedenfalls geht das Gerücht um, dass Lautengässer der kommissarische Direktor geworden ist – und während sie sich unterhalten vermeiden sie den Namen Gernot.

Und während sie plappern, schweigt Gadji. Erst als Sylvia sagt, dass Eberlein vielleicht hier im Krankenhaus liegt, vielleicht eine Etage höher oder tiefer, und als Vera entgegnet, warum erkundigt ihr euch nicht – erst da mischt sich Gadji ein: „Eberlein liegt nicht hier. Er liegt im Waldstädter Krankenhaus.“

Verblüfft fragt Sylvia: „Woher weisst du das?“
„Ich war da. Bei ihm.“

Vera faltete ihre Hände um die Nelke auf der Bettdecke. Die anderen blickten sich verdutzt an.

„Du bist zwei Monate an der Schule und wagst es, meinen Direktor zu besuchen“, muss Peter reingrätschen. „Womöglich liegt er da halbnackt rum!?“
„Du bist nicht hingegangen“, sagt Gadji ruhig.

„Mann, ich wäre aber, hättest du was gesagt“, entgegnete Peter lahm.

„Ach, ihr habt, glaube ich, genug Probleme mit euch selber.“

Vera betrachtete das Gesicht des Jungen. Ein Indianergesicht, denkt sie, nein, das Gesicht eines rätselhafte, schönen Jungen, nein, denkt sie, es ist das Gesicht von Gadji, brauner als irgendeines der anderen Gesichter, zwei schwarze Augen darin, ein bläulicher Bartschatten um den Mund. Ich muss sofort, wenn sie alle weg sind, der Nelke Wasser geben.

„Welche Probleme denn?“, fragte Maria.

„Euer Land“, sagte Gadji; gelassen wie ein Robbe, die gefüttert wird, „ja dumaju, es kracht und klemmt.“
„Guck dir mal dein Land an“, sagte Peter, „wie es da kracht und klemmt!“
„Ich glaube, Gadji hat recht“, sagte Maria leise und wechselte einen Blick mit Vera.

„Irrtum, mein deutscher Arschlochfreund“, sagte Gadji, gelassen wie eine Robbe, die gefüttert wird und ihren Pelz an einem Stein wetzt, „in meinem Land, Aserbaidschan, da ist es viel schlimmer. Es explodiert!“
„Wie geht es ihm?“, fragte Vera plötzlich; sie meinte den Schuldirektor.

„Er sagte, dass er sich nicht wundert über sein Herz“, antwortet Gadji. Es war, als wären nur er und Vera im Zimmer. „Er sagt: Strafe muss sein. Nakasanuije njeobchodimo.“
„Wofür? Für welches Verbrechen?“
„Ich weiss nicht. Ich habe gehört, seine Tochter ist in Westdeutschland?“
„Er tut mir Leid.“
„Mir auch, aber“, sucht Gadji nach Worten, „nikakaja potrebnostj ne moschet buitj udowletworena sljesami … Mit Tränen lässt sich keine Not stillen.“
„Ei, der Teufel! Sind die Russen alle Poeten?“, murmelte Peter.

„Irgendwie ist alles verrückt“, flüsterte Maria. „Früher, als ich viele Puppen hatte – manchmal, wenn ich eine Zeit lang nicht mit ihnen spielte … Wenn sie mir dann wieder einfielen und ich dachte: Sie haben es nicht verdient, von mir so achtlos behandelt zu werden … bin ich mit Herzklopfen in mein Zimmer gegangen und habe mich vor sie gestellt. Und gedacht: Was werden sie mit mir machen? Sie werden mich nicht mehr gern haben. Sie werden es mich spüren lassen, dass ich sie nicht beachtet habe. Und dann hatte ich eine Furcht, die war so ähnlich – wie die Furcht jetzt.“
„Was willst du damit sagen?“, fragte Peter. „Heute sind alle Puppen – Politbüromitglieder und tanzen nach der Pfeife des Volkes.“
„Und was willst du damit sagen?“, fragte Sylvia.

„Still“, sagte Vera. „Es war lieb von dir, dass du Eberlein besucht hast.“

Peter räusperte sich: „Ich glaube, ich geh jetzt.“
„Tischtennis? Kino? Bierchen?“, fragte Mark.

„Das war wirklich lieb von dir“, sagte Sylvia zu Gadji, und zu Peter und Mark: „Ihr kommt mir nach Hause! Was für Pfeifen!“
„Du findest doch den Weg nach Hause?“, fragte Peter Gadji, der den Kopf schüttelte und entgegnete: „Schkura prodaschnaja!“

Sie schoben und schubsten sich gegenseitig aus dem Zimmer. Nur Maria hielt inne, liesse ihren Blick von Vera zu Gadji wandern. Vielleicht wollte sie noch bleiben, wiederum nicht. Drei waren im Moment eine zu viele im Raum, und als sie durch das Fenster schaute, bevor auch sie ging, erblickte sie einen Regenbogen. Wahr und wahrhaftig – ein Regenbogen spannte sich über Berlin, zum Greifen nah. Und als sie Vera und Gadji ansah – auch sie schauten den Regenbogen an. Bis Vera nach einer Weile der Stille sagte: „Danke für die Nelke.“
„Ich war traurig, als ich davon hörte“, sagte er.

Traurig? Alle waren sie inzwischen gekommen. Die Mutter, ihr Freunde, Kotte und Schaffner, die Freunde mit Gernot – niemand von ihnen hatte gesagt, sie seien traurig. Sie waren zornig, sie witzelten, sie überspielten ihre Betroffenheit, sie stritten sich – und vielleicht waren sie auch traurig, gesagt hatten sie es nicht.

„Musst du nicht auch gehen?“, fragte Vera.

„Muss ich?“, fragte Gadji lächelnd. „Kann sein, kann nicht sein. Du wirst sagen, wenn ich zu viel bin. Wenn ich gehen soll.“

Bestimmt nicht. Ich werde nicht sagen: Geh. Ich werde auch nicht sagen: Bleib. Ich kann das alles nicht sagen, weil ich überhaupt nicht weiss, was ich sagen soll. „Warum setzt du dich nicht zu mir?“

Gadji setzte sich auf die Bettkante.

„Du hast noch nie von deiner Familie erzählt?“

O Gott! Aus welchem Film war das denn? Stehen zwei sticksteif mit einem Drink in der Hand, und einer sagt zum anderen: Aus welcher Familie stammen sie? Kann nicht schaden, das zu wissen, und ob man einen zweiten Drink zusammen nimmt?

„Niemand fragt mich danach“, sagte Gadji ruhig.

„Möchtest du gefragt werden?“
„Nein“, sagte er.

Baku ist unendlich weit weg. Wenn die Welt ein All ist, dann sind Berlin und Baku zwei Sterne, die nicht mal um sich kreisen. Und die Nachrichten aus Baku kommen spärlich; die Briefe brauchen drei, vier Wochen, ehe sie ankommen. Die Grossmutter schrieb, dass es Schiessereien gibt. Drei, vier Wochen. Wer weiss, ob sie noch lebt. Wer weiss, wer überhaupt nach lebt. Saur, Gadjis bester Freund, schreibt, dass er Sehnsucht nach ihm hat. Gadji werde gebraucht. Wozu schreibt Saur nicht. Muss er nicht. Gadji weiss es auch so. Gemeinsam hatten sie ein Versteck für Gewehre angelegt, gemeinsam hatten sie das Schiessen in einer Schlucht geübt. Verrostete, ausgemusterte Ölpumpen waren ihre Ziele gewesen; Schwarze Mönchen wurden die genannt, ihres unaufhörlichen Nickens wegen, auf den Hügeln um Baku, sie verneigten sich und richteten sich auf, sie verneigten sich und richteten sich auf. Ausgedientes Gestänge jetzt. Nur noch tauglich, um auf sie zu schiessen. Niemand räumte den Schrott weg. Drei, vier Wochen. Einmal im Monat ein Brief.

„Ich lebe allein mit meiner Mutter“, sagte Vera. „Ich habe leider keinen Bruder und auch keine Schwester.“ Und sie wunderte sich, dass sie so schnell und einfach preisgab, was sie gewiss nicht jedem gleich auf die Nase binden würde. Und sie wunderte sich vor allem darüber, dass Gadji davon nichts wusste, als müsste nicht jeder und jede in ihrer Klasse die Familiensituation der Lothringen-Tochterkennen.

„Ich habe“, sagte Gadji eifrig. „Kleine Schwester. Nesgir. Sie ist ein – tschjort.“
„Tschojort?“
„Kleiner Mann mit Hörnern und Schwanz. Riecht nach Schwefel?“
„Teufel!“
„Kleiner Teufel, genau.“

Stille. Dann fragte Vera: „Kann ich dich besuchen? Daheim, meine ich. Wenn ich hier raus bin?“
„Wenn du das willst“, sagte Gadji; hörte Vera einen leisen Zweifel, eine sachte Unsicherheit?

Wo er wohnte, waren sie unter sich. Offiziere der Roten Armee und ihre Familien. Es gab kaum Begegnungen zwischen ihnen und den Deutschen ringsum. Manche kamen, um in dem Laden, der russische Produkte führte, einzukaufen. Kaviar, Pelmeni, Wodka, Konserven mit Borschtsch – alles original aus der Heimat. Gadji hatte noch nie erlebt, dass ein deutsches Mädchen, zu Besuch gekommen war. Es kamen auch keine deutschen Jungs zu den Nachbarn. Er wusste nicht genau, warum das so war. Es gab keine Verbote, keine Grenzen, keine Ausweispflicht. Es war eben so, es war eine eigene kleine Stadt, und die Grenzen waren so unsichtbar wie – unüberwindlich. Ausserdem: Gadji hätte auch die Namen der Nachbarfamilien in seinem achtgeschossigen Hochhaus nicht nennen könne; sie standen nicht auf dem Klingelbrett im Eingang des Hauses, dessen Tür nicht schloss; auf dem standen nur Zahlen. Warum war das so? Nje snaju. Nje chotschu snjatj.

„Besuchst du mich?“, fragte Vera jetzt. „Zuhause?“

Gadji nickte.

Mittwoch, 8. November

Vera sass am Tisch und wartete. Sie hatte ihre Reisetasche gepackt, das Bett war abgezogen, die zwei Krücken, die sie zum Gehen brauchte, standen gelehnt an die Wand neben ihr. Es war verabredet, dass ihre Mutter und Albert sie abholen würden, um zehn Uhr am Vormittag, aber jetzt war es gleich zwölf Uhr. Vera war stinksauer.

Natürlich konnte etwas dazwischenkommen. Immer konnte etwas dazwischenkommen. Ein Vater rutscht auf der Strasse aus, fällt auf die Nase, bricht sich ein Bein – und seine Familie fragt sich genervt, wo er denn bleibt. Der Wecker funktioniert nicht, schon kommt ein Herr Wichtig zu einem wichtigen Termin mit einem anderen Herrn Wichtig zu spät; was schade ist, weilWichtig Nr. 2 fort ist und dann eben das Geschäft mit Herrn Wichtig Nr. 3 einfädelt. Konnte alles passieren. Aber das Victoria und Albert Vera hängen liessen, das war äusserst empörend; endlich das Krankenhaus hinter sich zu lassen – wer, zum Teufel, verstünde das nicht?

„Möchtest du nicht doch einen Teller Erbsensuppe?“, fragte Krankenschwester Sonja. Sie hatte die Tür einen Spalt weit geöffnet und ihren Kopf hereingesteckt. Vera und sie hatten sich schon voneinander verabschiedet, auf der Liste der Mittagsessenden stand der Name Lothringen nicht mehr, und sie hatten Stein und Bein geschworen, sich sehr bald zu treffen. Ausserhalb des Krankenhauses, in einem Café vielleicht. „Nie wieder Krankenhaus!“, hatte Vera pathetisch gerufen. – „Kann ich nicht sagen“, hatte Sonja gelacht. „Ist mein Brötchengeber. Jeden Tag.“ – „Nie wieder so mit gebrochenen Knochen.“ – „Nie wieder is keene Vokabel fürn Krankenhaus. Jeht uff keene Kuhhaut, wat du hier erleben kannst! Und die meisten sagen: Nie wieder springe ick vom Drei-Meter-Brett in ein Becken ohne Wasser! Und drei Wochen später sind sie wieder da. Weil: Et is ooch kenne jute Idee, von einem Ein-Meter-Brett in ein Becken ohne Wasser zu springen.“ Und dann hatten sie sich scheckig gelacht, bis sie kaum noch Luft bekamen und bis Vera meinte: „Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass mich gleich wieder ein Polizist verdrischt?“ Und schon wieder hatten sie sich gekrümmt und waren vor Lachen aufs Bett gefallen, wo sie nebeneinander auf dem Rücken lagen, bis sie sich anschauten und die eine sagte zur anderen: „Bist ne Jute!“, und die andere sagte zur einen: „Selber, du!“

Jetzt hatte Vera statt Appetit auf Erbsen einen dicken Hals. „Danke“, sagte sie. Als Sonja nickte und sich zurückziehen wollte, sagte Vera schnell: „Warte mal! Ich muss noch mal kurz weg. Fünfzehn Minuten, höchstens. Könntest du, wenn meine Mutter und ihr Lover kommen ….“
„Nimm dir Zeit und nicht das Leben“, dozierte Sonja hochdeutsch. „Wenn die kommen, sage ich, dass du noch ein bisschen Zeit brauchst, um dich von deinem Liebsten zu verabschieden.“
„Iiiii“, machte Vera. „Von den Typen in Badelatschen und Bademänteln doch nicht, brrr!“
„Naja“, sagte Sonja, „gibt sone. Die haben Katheter in der Blase und halten sich für Casanova und fragen mich, ob ich bei ihnen mal Fieber messen könnte.“
„Boah“, machte Vera, „und von denen soll also einer mein Liebster sein?“

Und wieder mussten sie lachen und lachen. Wenn ich Männer nicht so gern hätte, hatte Sonja mal gesagt – als sie Nachtschicht hatte und auf ein halbes Stündchen zum Schwatzen gekommen war –, dann würde ich sie hier hassen lernen. Typen, denen es Spass macht, wenn sie kurz vor der Blinddarmoperation von einer Schwesterschülerin das Schamhaar rasiert bekamen. Oder welche, denen der Morgenmantel aufklappte und die sagten: ‚Ooh, da habe ich heute meine Schlafanzughose vergessen.' Gittigitt! Und die meisten von denen hatten Übergewicht und einen grauen Haarpelz auf den Schultern. Gorillas, die schnarchten und sabberten. Und wenn Sonja solche Geschichten erzählte, war sie viel, viel älter und erfahrener als die fünf Jahre, die sie älter war als Vera.

Vera fuhr in die dritte Etage hinunter, humpelte zwischen den Krücken bis zu der Tür, neben der ein Namensschild angebracht war: Dr. Katrin Natschinski, Fachärztin Unfallchirurgie. Sie wollte grade anklopfen, als die Tür aufging und die Ärztin, die Vera über die Wochen behandelt und betreut hatte, vor ihr stand.

„Wie? Noch immer da?“, fragte sie, und Vera war wie seit Wochen schon – verzaubert, wenn sie der Ärztin begegnete. Vierzig Jahre alt, Mutter zweier Kinder, hatte sie einen Arzt, der auch Arzt in diesem Krankenhaus war, zum Mann. Frau Natschinski wirkte, als wäre sie stets in Eile, liess sich aber auf jeden ein, der sie ansprach; und dann schien sie nur Zeit für die Patientin oder den Patienten zu haben. Hörte aufmerksam zu und redet mit ihrer tiefen, warmen Stimme beruhigend auf sie ein. Jetzt schaute sie Vera von oben bis unten an, sah ihr in die Augen und sagte lächelnd: „Scheint wieder alles zusammenzupassen. Die Knochen wenigstens. Wie ist es mit der Seele?“
„Will fliegen“, sagte Vera.

„Das Herz?“
„Ist schon vorausgeflogen.“
„Warum fliegst du nicht hinterher?“
„Mach ich gleich“, sagte Vera. „Ich wollte nur noch mal danke sagen.“

Frau Natschinski nahm das Mädchen in die Arme, drückte sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Pass auf dich auf. Ich will dich nie wieder hier sehen. Höchstens zur Blinddarmoperation.“ Steht im Eid des Hippokrates, dass sich Ärztin und Patientin nicht umarmen dürfen? Steht da nicht.

Inzwischen war Albert eingetroffen. Vera fand ihn, als sie das Zimmer betrat, in angeregter Unterhaltung mit der Krankenschwester; ja, Sonja hatte rote Ohren und rote Wangen und lauschte hingerissen den Sätzen des – alten Sacks? Albert, du Idiot, poussierst du hier rum? Sonja, du Idiotin, knöpf dir lieber den obersten Knopf deines Kittels zu! Überhaupt: Verspätet sich um Stunden und schäkert mit der Krankenschwester, geht gar nicht.

„Schön, dass du es hierher geschafft hast“, blaffte Vera ihn an. „Reifenpanne oder was?“

Sonja sprang von ihrem Stuhl auf, zwinkerte Vera zu und flüsterte beim Vorbei- und Hinausgehen: „Tschüss, Vera. Wir sehen uns. Und: nicht alle Männer sind Idioten.“ Vera versuchte grimmig zu schauen; es gelang ihr nicht, und sie hielt Sonja fest, umarmte sie, alle Welt sollte umarmt sein heute. Auch wenn in ihr noch immer ein Vulkan grollte.

Albert hatte Veras Tasche geschultert und ächzte: „Hast du hier ne Bombe drin? Oder Wackersteine?“
„Warum ist meiner Mutter nicht mit?“, wollte Vera wissen; sie strengte sich an, erzürnt zu sein.

„Die Revolution frisst ihre Kinder“, sagte Albert mit gespieltem Ernst. „Glaub mir, ich sehe sie auch nur noch für Stunden.“

Aha, und deshalb musst du mit der Krankenschwester flirten? Oder lässt dich von ihr becircen? Mann!

Und Vera fragte: „Und wenn die Kinder verdaut sind?“
„Den Weg aller Nahrung“, sagte Albert gemütlich. Sie warteten auf den Fahrstuhl, und Vera sagte: „Prost Mahlzeit.“

Der Lift kam, sie betraten ihn, und plötzlich ging Vera das Lied durch den Kopf. Das der alte Kempau gesungen hatte. Grad erst, vor ein paar Tagen, damals? Walter Kempau, der alte Schuster. Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt,/Sie müssen warten./Sie können zum Weg nach oben jetzt/erst gar nicht starten./Die Leute drängeln da rein,/mehr kann da oben nicht sein./Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt … „Singst du was?“ fragte Albert.

„Kannst du dir vorstellen“, fragte Vera, „du bist gestorben, aber niemand kümmert sich um dich. So als Leiche.“ Sie hatte nach Walter Kempau gefragt. Jemand sagte ihr, dass er weder Familienangehörige, keine Freunde, noch Bekannte hatte. Seine Tasche war von den Schwestern gepackt worden, und der Mann vom Bestattungswesen hatte sie mitgenommen.

„Brrr!“, machte Albert – die Etagenleuchten blinkten, sechste, fünfte, vierte –, „Du bist etwas sprunghaft mit deinen Fragen. Alles in Ordnung?“
„Also: Wo ist meine Mutter?“
„Bis zu 60 Zentimeter Neuschnee haben in den italienischen Alpen zu Verkehrsbehinderungen bis vor Berlin geführt“, versuchte es Albert erneut aufs Alberne.

„Hahaha!“, machte Vera, lahmer Witz, und verdrehte die Augen. „Ist sie im Schnee steckengeblieben?“ Obwohl der Lift mit einem sanften Ruck hielt, wäre Vera beinahe hingefallen; Albert hielt sie und sagte: „Ist nicht leicht, laufen, Vera.“ – „Scheisse ist's!“

Im Foyer herrschte ein reges Kommen und Gehen. Patienten in Bademänteln, Besucher in Strassenkleidung und mit Taschen in den Händen. Am Zeitungskiosk standen Leute an, die Tür zum Café gleich neben dem Stand, ging unaufhörlich auf und zu. In den Sesselgruppen vor den riesigen Frontscheiben, sassen die Menschen, hielten sich bei den Händen, redeten ernst miteinander oder lachten; die Gesunden trafen sich mit den Kranken, und wenn es gelang, mit ein bisschen Heiterkeit und Alltäglichkeit das Leiden zu lindern – wunderbar, fand Vera. Und durch die Geräusche-Wand aus Schritten, Lauten, Wörtern, Klappern drangen, wenn sich die Drehtüren zur Stadt bewegten, die akustischen Signale des Strassenverkehrs, das Draussen.

Vera lief langsam. Nicht nur der Krücken wegen. Als wollte sie doch noch nicht endgültig hinaus, als könnte sie sich noch nicht lösen von dem Haus, in dem sie fünf Wochen gelebt hatte. Auch, als fürchtete sie sich ein wenig vor dem Draussen?

Am Empfangstresen stand ein Mann, der ausser sich war. Mit hochrotem Kopf schrie er auf die diensthabende Schwester ein, dass es wohl das Letzte sei, was hier mit seiner Frau veranstaltet würde. „Kein Wunder, dass der Sozialismus im Eimer ist und alles den Bach runtergeht! Überall, wohin man kiekt – Mangel, Ausreden, Flickschusterei! Und nie trägt irgendwer für irgendwas irgendwann die Verantwortung. Konkrete Verantwortung, verstehste, Mädchen?!“ Seine Wut speiste sich, soviel verstand jeder, der zuhören musste – und die Adressatin seines Wut-Schwalles war jung und verschüchtert und wusste nichts zu entgegnen; was konnte sie schon erwidern? – aus Erfahrungen und Beobachtungen, die wahrscheinlich gar nichts mit dem Anlass seines Ausbruchs im Krankenhaus zu tun hatte? Da war ein Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen brachte?

Eine ältere Frau, sie trug einen seidig glänzenden Morgenmantel, auf dem grosse, farbige Blüten gestickt waren, sagte bestimmt und laut: „Hören Sie, junger Mann! Ich bin vermutlich 20 Jahre älter als Sie. Der Sozialismus wurde schon hunderte Male totgesagt, aber er lebt immer noch. Ich glaube nicht, dass es Ihnen in diesem Sozialismus schlecht ergangen ist.“ Sie musterte ihn von oben bis unten, schätzte seinen beigefarbenen Trenchcoat ab, seinen Körper, der den Mantel stramm füllte.

„Was quatschen Sie mich von der Seite an!“, schrie der Mann. Er wendete sich zu der Dame; die Schwester hinter dem Tresen griff nach einem Telefon, deckte mit der Rechten die Sprechmuschel ab und flüsterte etwas hinein.

Der Mann drehte einen Borsalino-Hut – wie ihn Vera schon auf Fotos mit Humphrey Bogart und Frank Sinatra gesehen hatte – in den Händen: ein Lenkrad auf der Tour seiner Erregung; er sass in einem Fahrzeug, raste im Kreis, und es war ihm egal, was und wer unter die Räder seines unsichtbaren, rücksichtslosen Gefährtes geriet. „Sie sehen auch nicht grade aus, als ginge es Ihnen im Leben dreckig, Madame!“, höhnte er.

Plötzlich war es still im Foyer.

Nebenbei und gelassen, als wischte sie eine Daunenfeder von ihrem Morgenmantel, sagte die Dame: „Ich habe sechs Kinder grossgezogen. Ich habe Krebs. Halbes Jahr noch, vielleicht noch, sagen die Ärzte.

„Tut mir Leid“, sagte der Mann. „Echt. Ich hab nichts gegen Sie persönlich. Kann mir vorstellen, dass Sie mal als Trümmerfrau angefangen haben, wie?“ Er griente; er nahm wohl an, mit etwas wie einem Kompliment geschmeichelt zu haben.

„Ich war Pianistin“, blieb die Frau in ihrer Haltung. „Ich habe in meinem ganzen Leben nur die Tasten von Klavieren und die Seiten von Partituren angefasst.“ Sie lächelte: „Und meinen Mann. Und die Windeln meiner Kinder. Wahrscheinlich regt es Sie auf, dass die Schwester nicht auf Anhieb wusste, in welchem Zimmer ihre Frau liegt.“
„Eine Künstlerin!“, knurrte er.

„Oder es nervt Sie, weil nicht jeder gleich losspringt, wenn Sie was haben wollen?“
„Ich sag Ihnen, was mein Problem ist. Mein Problem ist, dass in diesem Land niemand weiss, in welchem Zimmer was liegt. Und warum. Und wofür. Dass niemand tut, was er tun soll, und jeder tut so tut, als täte er was. Verstehen Sie das, Genossin Pianistin?!“
„Lass uns gehen!“ Albert zog Vera leicht am Arm.

„Ich will das hören“, sagte Vera hart.

„Sie gehören zu den Menschen, die Künstler hassen? Weil Sie meinen, denen geht es sowieso besser als allen anderen Menschen hier? Im Übrigen: Ich war und bin keine Genossin, Kollege Mensch!“

Albert schnaufte ungeduldig. Wozu sich mit dem Gezänk der Beiden aufhalten? Wollte Vera nicht so schnell wie möglich weg, raus hier, in ihren Alltag zurück? Doch Vera hörte wie gebannt zu. Dieser Streit kam ihr wie eine Verhandlung vor, eine Verhandlung von Ansichten, die sich nicht vereinbaren liessen; oder doch?

„Ich gehöre zu den Menschen“, der Mann liess nicht nach, „die der Meinung sind, dass nicht effektiv genug gearbeitet wird. Weil es an allem Möglichen fehlt und nicht zu verstehen ist, warum es fehlt. Ich gehöre zu den Menschen, die der Meinung sind, dass das einzige, was in diesem Land blüht – die Propaganda ist.“ Sein Gesicht war rot angelaufen, er war ausser sich, doch jetzt bremste er sich. Es ging nicht darum, ob eine blutjunge Krankenschwester eine Karteikarte nicht fand oder ein Fieberthermometer fallen liess. „Ich bin Klempner, eigener Laden. Ich weiss, wovon ich rede. Keine Leute, kein Material, Pfusch überall. Oder es kommt einer mit Westgeld. Oder mit einer Kiste Wein. Schlamperei! Mauschelei! Ich will arbeiten, verstehen Sie? Ich bin ein deutscher Handwerker, der arbeiten will und dafür Leute, Material und Werkzeug braucht. Ich will arbeiten und was von meiner Arbeit haben. Und ich will mit Respekt behandelt werden. Wie Sie, oder nicht?“

Die Klavierspielerin nickte: „Das verstehe ich. Aber, wissen Sie, was kann die Schwester dafür? Sie arbeitet auch. Ich weiss, wie hart die hier arbeiten. Wenn Sie die Zeit haben, lassen sie uns einen Kaffee zusammentrinken. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, falls Sie die Geduld dazu haben …“
„Bitte“, sagte Albert, „lass uns gehen!“ Vera gab nach und sie verliessen das Krankenhaus. Bevor sie in Alberts Skoda stieg, hielt sie sich am Dach des Autos fest und schaute an der Fassade des Gebäudes hoch; es wuchs in den nebligen, grauen, trüben Himmel hinein, hunderte Fenster, hinter einem hatte sie gelegen, hinter einem anderen Kempau. Er war gestorben, sie nicht. Und hinter einem der Fenster hatte die Pianistin ein Bett, hinter einem anderen die Frau des Handwerkers. Auf einmal schien das Haus auf Vera zu kippen. Ihr wurde schwindlig, sie legte ihren Kopf auf die Hand auf dem Autodach.

„Vera! Is was?“, rief Albert, der ihre Tasche und die Krücken verstaut hatte und dabei war, sich hinter das Lenkrad zu klemmen. Nein, nein. Nichts. Obwohl, es war was, nur was?

Durch die Frontscheiben des Krankenhaus-Eingangs sah sie die beiden: Unter den ausladenden Blättern eines Gummibaumes, der bestimmt vier Meter hoch gewachsen war, sassen sich die Pianistin und der Klempner gegenüber. Der Borsalino-Hut des Mannes lag zwischen ihnen wie – ein Friedensangebot oder mindestens ein Antrag auf Waffenruhe?

Am liebsten würde Vera umkehren. Zurück ins Krankenhaus, in ihr Zimmer, in das Bett. Es zog sie – ein Ziehen in die klare Rollenverteilung, sie als Patientin, alle anderen kümmerten sich um sie, eine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Klarheit. Albert startete den Motor.

Sie schwiegen. Die Fahrt ging durch die Wilhelm-Pieck-Strasse. Rechts und links der Strasse standen die grauen Häuser mit ihren löchrigen Fassaden und mit dem abblätternden Putz. Eine grosszügige Kreuzung, rechts konnte Vera bis zum Alexanderplatz mit dem Hochhaus des „Berolina“-Hotels und zum Fernsehturm schauen. Dann kamen sie am Gebäudes der Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes vorbei, geradeaus, weiter hinein die in Mollstrasse mit den Wohnhäusern, Plattenbauten, zehn Stockwerke hoch in den Himmel über Berlin, und der Salvador-Allende-Bibliothek, nachdem der Wagen die Greifswalder Strasse gekreuzt hatte.

Die Leninallee. Links, hinter den hohen Häusern, erstreckt sich der VolksparkFriedrichshain. Der Mont Klamott. „Mitten in der Cilty zwischen Staub und Strassenlärm/wächst ne grüne Beule aus dem Stadtgedärm …“, fielen Vera die Zeilen eines Songs ein. Sie musste grinsen. Ostrock, das allerletzte! Waren sie sich einig, sie und Sabrina, die Tochter des konspirativen Theatermannes Münch! Huhu, wir sind im Widerstand! Ach, lass uns Guns 'n Roses hören, Vera! Lass unsere Alten die Revolution planen, Sabrina! November Rain. Sometimes I need some time on my own/Sometimes I need some time all alone/Ooh, everybody needs some time on their own/Ooh, don't you know you need some time all alone. Genauso ist es: Manchmal brauche ich ein wenig Zeit für mich alleine. Jeder braucht ein wenig Zeit für sich. Gut, Silly geht noch. Ne grüne Beule aus dem Stadtgedärm – stimmt irgendwie. Wenn's denn unbedingt wieder die ganze Weltgeschichte und die Gesellschaft und die Zukunft und die Vergangenheit in drei, vier Minuten sein muss …

Da steht Lenin. Rötlich, vom Regen heute Morgen eingedunkelt. Eckig, riesig. Hat die eine Hand am Revers seines Manteks, die andere Hand weist in die Zukunft. Irgendwohin, wo die Zukunft liegt, in der jeder Mensch eines anderen Menschen Freund ist.

Sometimes I need some time all alone?

Zeigt er nach Westen?, fragte sich Vera, als sie schon am Denkmal vorüber waren , immer weiter nach Osten. Und wenn wir immer weiter nach Osten fahren, kämen wir dann – in Gadjis Heimat? Plötzliche Gedanke, woher, warum Gadji? Wegen Lenin doch nicht. Wie weit müssten wir fahren? Fast um die halbe Erde, fast bis ans Ende der Welt. Dort wo der Regenbogen eine der zwei Wurzeln aus Sonne und Regen hat? Vera zog ihre Schultern zusammen; Gadji, ihr Schulkamerad, Gernot ihr Freund …

„Hast du Schmerzen?“, fragte Albert der Aufmerksame.

„Geht so.“
„Ich kann langsamer fahren.“
„Schneller nicht?“

Wieder schwiegen sie. Ho-Chin-Minh-Strasse, Jaques-Duclos-Strasse. Namen, Geschichte. Vera presste die Stirn an die Fensterscheibe und starrte hinaus: ihre Stadt, ihre Heimat, ihr Leben – aber sie fühlte sich als Gast, als Besucherin, als hätte sie die Strassen noch nie gesehen …

„Was wirst du tun?“, fragte Albert.

„Wann?“
„Wenn du zu Hause bist.“
„Darf ich dich was fragen?“
„Klar. Wenn du nicht nach meinem Gewicht fragst.“
„Liebst du meine Mutter?“
„Voila! Ja.“
„Warum?“
„Warum?“
„Ja, warum.“
„Schön. Intelligent. Engagiert. Weiblich, fraulich.“
„Warum sollte mich einer lieben?“
„Dich?“ Albert stöhnte kurz; es ist nicht leicht, sich auf den Verkehr zu konzentrieren und auf solche Fragen zu antworten.

„Ja, mich! Ausgerechnet mich?“
„Ungefähr aus den gleichen Gründen. Schön. Intelligent …“
„Und wer?“, fragte Vera.

„Wie wer?“
„Wer, Mensch, sollte mich lieben?“
„Vikki hat mir von einem Gernot erzählt …“
„Vikki?“
„Na deine Mutter, Vik …“
„Vikki!? Ich glaub, ich muss kotzen!“

Schweigen und Ampeln. Lichtenberg, über die Brücker, die Strasse der Befreiung. Linkerhand der Komplex der Hauptzentrale des Ministeriums für Sicherheit, rechterhand ein Neubaugebiet. Sie fahren die Strecke, auf der im Mai 1945 die Rote Armee in Berlin einrückte, als am Rande des Weges kein Stein auf dem anderen blieb, weil der Krieg, wie man sagte, dahin zurückkehrte, von wo er ausgegangen war. Als wäre er ein Wandergeselle, der in die Fremde zieht und irgendwann heimkehrt.

„Wollt ihr heiraten?“, fragte Vera.

„Was denn jetzt?“
„Sie ist nicht geschieden.“
„Angst vor Bigamie?“ Albert lachte, auch nur kurz, immer noch Strassenverkehr und Obacht.

„Ich glaube, mein Vater liebt sie auch. Die – Vikki.“
„Ich hingegen glaube, sie ihn nicht mehr.“
„Es ist kompliziert, oder?“
„Was?“
„Die Liebe. Mutter. Vater. Ich. Vielleicht – meine Liebe? Alles.“
„Nö. Willst du Musik hören?“
„Nö.“
„Auf dem Rücksitz liegen ein paar Zeitungen.“
„Ach du Scheisse! Bestimmt nicht.“

Die Strasse am Tierpark entlang. Wie lange war es her, als Gernot und Vera im Café sassen? Ein paar Wochen; eine Ewigkeit. Was gleich geblieben ist: auf der anderen Seite der Strasse der Nebeneingang zum Tierpark und die Braunbären in ihrem Felsengehege, die hin- und hertappernund sich einbilden, sie seien in den Rocky Mountains unterwegs. So wie wir uns einbilden – wir liebten und werden geliebt? Die Bären täuschten sich ganz gewiss; täuschen wir Menschen uns auch, wenn wir glauben, wir sind in der Liebe?

„Wir sind gleich da“, sagte Albert.

„Ich hab zwar was auf die Birne gekriegt“, sagte Vera, „aber wo ich wohne, weiss ich noch.

„Ich habe in der ganzen Zeit nur einmal gehört: Ich bin traurig, Vera, dass du hier liegst“, sagte sie plötzlich.

„Was sagtest du?“
„Die ganze Zeit über. Im Krankenhaus. Alle waren – nett. Aufmerksam und mitleidig. Aber nur einer sagte, dass er traurig sei. Einfach nur traurig.“
„Kluger Bursche, schätze ich. Dein Gernot?“

Mein Gernot. Nein, der eben nicht. Der hat mir einen Ring geschenkt und gemeint, dass ich nicht ganz schuldlos sei an meiner Misere. Nee, nicht Gernot.

„Und einmal habe ich gehört: Ich habe Angst.“
„Bestimmt nicht Gernot?“
„Nee. Auch nicht. Hast du Angst?“
„Ich weiss, was du meinst. Das alles so. Ja, hab ich“, sagte Albert; er presste die Lippen fest zusammen und nickte mehrmals.

„Du? Du doch nicht. Ihr seid doch Helden! Du und – Vikki!“
„Quasselmatsch“, sagte Albert und hielt den Wagen an.

Vera hatte Alberst Angebot, sie in die Wohnung im zweiten Stock zu begleiten, abgelehnt. Sie wollte allein sein, allein ankommen. Alberst bestand nicht darauf, ja er schien erleichtert zu sein, sich einer Aufgabe entledigt zu haben und sich sogleich einer nächsten Aufgabe zuwenden zu können; worin immer die bestand, eine Rekonvaleszentin heimzubringen war sehr human, noch humaner war es wahrscheinlich, ab sofort sich wieder auf die Revolution zu konzentrieren. Albert hupte, winkte aus dem heruntergekurbelten Fenster – und fort war er in der Weltgeschichte.

Turnschuhe und Parka und ein Vollbart! Vera musste grinsen. Fertig ist der Marxlumumbacheguevara! Plus Umsturz, plus ein zehn Jahre altes Auto, plus schlaue Bücher – ein Mann geht seinen Weg, wenn er erkannt hat, wolang er will! Passt schon zusammen, wie auch die beiden zusammenpassen: Victoriavikki und Albertbart. Ausserdem haben wir November, und November in Berlin ist was zum Frösteln, Imbettbleiben, Gedanken haben, die grauer und trüber und niesliger sind als der Himmel über der Stadt. Das Jahr geht zur Neige. Wer jetzt keine Revolution macht, der macht keine mehr und muss dann weinen, wenn der Weihnachtsmann kommt, wenn zu Silvester die Raketen zerplatzen und prasselnd ihre Funken versprühen und die Tischfeuerwerke die Stuben in Brand setzen. Und muss hoffen, dass es kommendes Jahr mit der Revolution klappt, ja, fahr dahin, Alberto, und pass auf, dass du kein Ampel-Rot überfährst.

Die Tasche über die Schulter gehängt mühte sich Vera die Treppen hoch.

Die Wohnung kam ihr fremd vor. In den Spiegel hatte die Mutter mit einem Lippenstift, blau und profan, geschrieben: „Herzlich Willkommen, Kleines! Kuck in die Küche! Bis bald, V.“

Vera hatte es nicht eilig, in die Küche zu kommen. Sie liess die Tasche fallen, stellte die Krücken an die Wand und wankte über den Flur zu ihrem Zimmer. Bestimmt hatte die Mutter Linsensuppe gekocht, das Lieblingsessen Veras, einen grossen Topf voll, gleich für mehrere Tage; aber die Suppe konnte warten, erst wollte sie ihr Zimmer begrüssen.

Als sie auf der Schwelle stand, wurde ihr schwarz vor Augen, sie ging in die Knie und fiel um. Das andauernde Läuten des Telefons hörte sie nicht.

*

Der Skoda bog von der Schönhauser Allee in die Oderberger Strasse ein und hielt vor der Hausnummer 44. Albert parkte den Wagen zwischen einer überquellenden Mülltonne und einem schiefen Lichtmast, dessen Laternen-Gehäuse geborsten war. Ergrinste; da musste einer zugange gewesen sein, der sein Auto nicht so beherrschte wie er oder über die Kräfte eines betrunkenen Herkules verfügte.

Die Strasse sah aus, als sei der Krieg erst gestern beendet worden, und die Bewohner hatten noch nicht die Zeit gefunden, nach den Einschusslöchern und nach den putzzerfetzten Stellen in den Häuserfassaden zu schauen. Ja, sie hatten noch nicht mal genug Zutrauen in die plötzliche Stille nach dem Krachen der Gewehre und Kanonen und Bomben. Und es war besser, man blieb in den muffigen, nach Kohlegriess und keimenden Kartoffeln riechenden Kellern und wartete ab, ob das Waffenschweigen tatsächlich der Beginn eines Friedens sein würde.

Der Himmel hing niedrig, eine graue Decke, die auf den Dächern lag. Seine Nässe drückte den Rauch der Schornsteine zurück in die Stuben. Es roch nach verbrannter Braunkohle und muffigen Matratzen.

Doch Albert war nicht gekommen, um sich als Reisender, der aus schöneren Gefilden der Erde kam, am Verfall der Strasse zu ergötzen, die an der Schönhauser Allee begann und an der Mauer endete. Eben fuhr auf dem Hochgleis eine bananengelbe U-Bahn vorbei, die zwischen Pankow und der Stadtmitte verkehrte und kurz vor dem Senefelder Platz in den Untergrund Berlins abtauchte.

Seine Blicke gingen hin und her. Er wusste wie die Bewohner der Strasse, dass es Dutzende Augen gab, die ihn beobachteten, Dutzende Ohren, die seinen Schritten lauschten. Daran hatte sich in den letzten Wochen nichts geändert. Auch wenn der Staat, an Durchfall, Ausfall und Überfall litt und zu schwanken schien – die Organe des Leviathans funktionierten.

Albert überquerte die Strasse und öffnete ein Tor, ein dunkler, panzerbreiter Hausdurchgang, ein Hof, wieder ein Hausdurchgang und der nächste Hof.So waren die Mietskasernen vor einem Jahrhundert gebaut worden. Wohnungen auf engstem Raum für die vielen Menschen, die es (vor allem) aus dem Osten Europas nach Berlin zog und die ein Quartier brauchten. An jeder Ecke eine Kneipe, kleine Betriebe und Werkstätten installierten sich in den Erdgeschossen. Ein Sammelsurium aus Wohn- und Arbeitsräumen, beieinander, übereinander, miteinander, gegeneinander. Die Räume waren geblieben, die Mieter hatten gewechselt; neben den Alten waren die meisten Studenten, Künstler und junge Leute, die nicht unbedingt auf eine amtlich genehmigte Wohnung warten wollten. Standen genug leer, diese Buden, die sich vier, fünf Stockwerke hoch türmten.

Auf dem Beton des Hofes sprang ein Mädchen über ein Seil. Sie kreuzte die Arme vor der Brust, liess das Seil unter den Füssen sausen, breitete die Arme aus und nahm es über den Kopf wieder nach vorn. Immer und immer wieder. Albert blieb einen Moment lang stehen, um zuzuschauen.

„Is wat?“ fragte die Kleine, ohne innezuhalten.

„Kannste gut“, sagte Albert.

„Is keene Kunst“, sagte das Mädchen. „Det mach ick schon jahrelang so.“

Jahrelang. Jahrelang. Jahrelang springe ich über das Seil, das ich mir selbst hinhalte. Jahrelang hüpfe ich auf der gleichen Stelle. „Jahrelang“, flüsterte Albert jetzt. „Jahrelang.“
„Haste n Problem?“, fragte die Kleene; Ohren wie ein Luchs. „Oder fuffzich Pfennich für ein Eis?“ Albert musste lachen und fischte eine Fünfziger-Münze aus der Hosentasche.

Während er die Treppen hinaufstieg, dachte er: jahrelang, jahrelang. Das musste sich ändern, oder es änderte sich nichts mehr. Das würde sich jetzt ändern. Obwohl. Albert hatte viele Bücher gelesen, so viele Bücher, dass er aus ihnen gelernt hatte zu fragen und – zu zweifeln. Der stärkste Zweifel war der Selbstzweifel, ein tausendstimmiger Chor, der raunte: Was glaubst du, was du bist, was glaubst du, bist du besonderes als wir, was glaubst du, kannst du ausrichten ohne die Gemeinschaft des Volkes?

Es änderte sich nichts, nur weil ein paar tausend Menschen es wünschten. Es änderte sich selbst dann noch nichts, wenn es Millionen Menschen waren. Und wenn sich dann was änderte, war nicht klar, wohin es sich veränderte. Die Menschen glauben gern, dass sie die Geschichte beherrschen, um eines Tages in einem Bett aufzuwachen, von dem sie nicht mehr wissen, ob sie sich selber hineingelegt hatten oder ob sie jemand hineingelegt hatte. Reingelegt vielleicht sogar. Es hiess zwar, offiziell gelehrt sogar, dass der Mensch das Subjekt der Geschichte ist. Die meisten aber, wusste Albert, sind eine Masse, die vielleicht kurz aufbegehrte und das Glück der Anarchie genoss, gleich aber wieder zusammensank wie ein Soufflé, das zu wenig Luft bekam. Nein. Albert hatte kein Vertrauen in die Menge, ob sie Demonstranten, Parteimitglieder, Bürger hiess. Andererseits: Wer sonst könnte was ändern?

Albert zögerte zu klingeln. Hinter der Tür sassen sie beisammen und glaubten daran, die Welt verändern zu können. Wenn nicht die Welt, dann das Land. Sie glaubten nicht nur daran, sie arbeiteten daran. Sie wollten eine Zeitung gründen, eine unabhängige Zeitung, von niemandem beeinflusst, von keiner Partei vereinnahmt, nur der Vernunft verpflichtet, der Aufklärung, der Wahrheit. Eine Tribüne der Freiheit, einer Freiheit, die es ihrer Meinung nach auch im Westen nicht gab. Da regierten auch nur Interessen und Lobbyisten und die Journalisten hängten ihre Mäntelchen in die wechselnden Winde des warmen Meinungs-Golfstroms. Aber immerhin konnte jeder seine Meinung sagen … Und allen voran stürmte und träumte Victoria, seine Victoria.

Hinter der Tür, wusste er, sassen zwei Dutzend Menschen, die für einen Sozialismus glühten, wie es ihn noch niemals gegeben hatte. Und Albert selbst? Albert selbst – war traurig. Spürte eine Traurigkeit, die vielleicht jene Traurigkeit war, von der Vera vorhin im Auto erzählt hatte. Als sie von jemandem berichtete, der als einziger gesagt hatte: Ich bin traurig. Der nicht euphorisch war, der nicht verbiestert war, der nicht aktiv war, der nicht gleich wieder Träume verwirklichen wollte, der einfach nur sagte: Ich bin traurig.

(Zwei Jahre später wird Albert scheitern: mit dem Versuch, einer Traurigkeit, die zunahm, auf den Grund zu kommen. In einem Essay „Über die euphorische Zeit“ wird er schreiben: „Es ist leicht, eine Regierung zu stürzen, die am Boden liegt. Es ist leicht, Köpfe zu fordern, wenn es Holzköpfe sind. Und es ist der gleiche neue alte Opportunismus, der massenhaft aus den Gräbern der Totgelachten steigt. Aus den Startlöchern kamen flugs jene, die maulend und duckmäuserisch die Jahrzehnte überstanden hatten. Sie setzten sich in die Sessel der von ihnen höhnisch verjagten Vorgesetzten. Und sie hatten nicht mal eine Ahnung davon, dass es ihnen genau so ergehen würde wie denjenigen, die sie in die Wüste der Geschichtslosigkeit schickten. Sie hatten keine Ahnung davon, dass die Kritik der Bewegung die Selbstkritik an der Bewegung braucht. Dieses Mass hat noch keine Opposition gefunden: Alle Blumen blühen zu lassen UND darauf zu achten, dass das langsam wachsende Gras der Vernunft nicht niedergetrampelt wird. Insofern – entstand neuer Opportunismus. Opportunisten sind nicht selbstkritisch. Sie können als begeisterte Revolutionäre anfangen, um als bornierte – Opportunisten neue Machthaber zu werden. So war es. Wir merkten nicht, dass wir aus dem gleichen Holz waren. Und warum auch nicht? Ich folge dem Gedanken, dass der Opportunismus eine gewaltige Produktivkraft ist. Wenn das Herrschende vernünftig ist, werden auch seine Apparate ‚vernünftig' sein. Der Opportunismus der Vernunft kann die Vernunft des Opportunismus erzeugen. Allerdings, scheint mit, fliesst der Essig der Geistlosigkeit – der Bruder des Opportunismus – in jeden Apparat. Und nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben. Es gibt keine Herrschaft des Vernünftigen …“ Usw. usf. – Albert ahnte, in der dritten Etage des Aufstiegs zur Konspiration nach Atem ringend, dass er sich auf ein Spiel einliess, dessen Regeln er nicht kannte und in dem er keine Rolle hatte. Trotzdem. Soweit war er noch nicht, dass er endgültig resignierte; und auch als er resignierte, ging sein Leben weiter. Und dass er sich seines Essays der Aufgeblasenheit wegen schämen würde – auch diese Zeit lag vor ihm.)

Albert seufzte, klingelte, hörte das fröhliche: „Herein, wenn's nicht die Stasi ist!“ und trat ein.

Warum bin ich so traurig? dachte er noch, ehe er seinem Gesicht ein vergnügtes heiteres Aussehen gab und Victoria zur Begrüssung küsste und einen nach dem anderen im Raum kurz umarmte.

*

Der Deutschlehrer Werner Kotte stand, bis auf den Schlüpfer nackt, am Fenster und rauchte die Zigarette danach. Seine Freundin Christa war vom Bett unter die Dusche und anschliessend in die Küche gegangen. Sex machte sie hungrig, komischer Reflex, aber so war es eben. Sie musste essen. Danach. Eine Angewohnheit. Es gäbe schliesslich, hatte sie am Anfang ihrer Affäre erklärt, verwunderlichere Angewohnheiten. Etwa Gedichte zu lesen, zu popeln oder jeden Tag Zeitung zu lesen. Essen nach dem Sex wäre in dieser Reihe nicht das Übelste.

Kotte sog an der Zigarette, sie glühte im Spiegel des Fensterglases auf und erleuchtete sein Gesicht. Optisch ein interessantes Phänomen: Er konnte sich betrachten und zugleich in die Stadt hinein schauen, die Antenne des Fernsehturms am Alexanderplatz blinkte weit hinten. Christas Wohnung, Neubau, drei Zimmer, lag im zehnten Stockwerk.

Die Lenin-Allee war eine breite Schneise und bot ausreichend Platz für die Autos, die stadtein- und stadtauswärts fuhren. Es war kurz nach 19 Uhr, der Verkehr erlahmte. Vor wenigen Stunden war ein, zwei Kilometer von hier entfernt, Vera Lothringen in einem Auto nach Hause gefahren worden. (Wovon Kotte und Christa nichts wissen konnten.)

„Zwei oder drei Spiegeleier?“, rief Christa aus der Küche.

„Eines“, antwortete er.

Es schepperte und klirrte in der Küche. Die Geliebte polterte durch den Raum, der eine Durchreiche zur Stube hat, und schimpfte vor sich hin. „Eines! Nimm ein Ei mehr, Mann, sonst fällst du mir völlig vom Fleische! Da bietest du ihm an, zwei, drei Eier zu essen, auch zur Stärkung der Manneskraft, aber nee. Der Herr wünscht sich ein Ei. Ein Ei! Wofür geben sich die Hühner die Mühe, Eier zu legen! Millionen mal Millionen Eier – und niemand isst sie!“ Kotte betrachtete sein zufriedenes Grinsen. „Den Weisswein machst du auf!“ rief Christa. Es würde die zweite Flasche sein.

Er fuhr zusammen, weil sie lautlos hinter ihn getreten war und ihm die kalte Flasche an den Hintern hielt. „Jemineh!“ sagte sie. „Nur Haut und Knochen der Mann! Während unsereins genau da zulegt …“
„Wo denn?“ fragte Werner, nahm sie in die Arme und wollte sie küssen.

„Schttt!“ machte die Frau. „Die Eier!“

Er folgte ihr in die Küche, setzte sich auf einen Hocker und entkorkte die Flasche. Er goss zwei Gläser halbvoll und schob eines über den Tisch:

„Es gibt eine Stelle, da schreibt Hyperion an Bellarmin, dass er zu einem Ausflug eingeladen wurde. Sozusagen Wochenende im Grünen. Hyperion, reichlich depressiv, folgt der Einladung und geniesst das Meer, das Gebirge, die Insel.“
„Was denn nun? Meer, Gebirge oder Insel? Oder bastelt dein Hölderlin sich eine Welt zusammen, wie er sie sich wünscht? Pippi Langstrumpf mit Pimmelchen! Poeten, ach du Gott!“
„ ‚Und die Menschen gingen aus ihren Türen heraus und fühlten wunderbar das geistige Wehe, wie es leise die zarten Haare über der Stirne bewegte, wie es den Lichtstrahl kühlte, und lösten freundlich ihre Gewänder, um es aufzunehmen an ihre Brust, atmeten süsser, berührten zärtlicher das leichte klare schmeichelnde Meer, in dem sie lebten und webten ,,,'“
„Anders gesagt: Sie badeten“, sagte Christa. „Prost!“ Sie hob ihr Glas und nippte vom Wein.

„Geistiges Wehen! Die Menschen gingen aus ihren Türen heraus und fühlten wunderbar das geistige Wehen … Sie blieben nicht in ihren Häusern. Sie gingen hinaus, um den Nachbarn zu erkennen. Um die Liebe zu spüren. Um eine Gemeinschaft zu bilden, die sein soll – wie das schmeichelnde, klare Meer. Das Meer – eine Metapher!“
„Das Meer eine Metaphér!“ äffte Christa mit falscher Betonung. Reimte sich plötzlich, man wusste nur falsch betonen. „Und?“

„Ist es das, was derzeit im Lande geschieht?“ fragte er.

„Was?“
„Das Rausgehen. Das Aufeinanderzugehen. Das Solidarischsein. Das Sichverständigen über eine Gegenwart, die ihnen nicht mehr genügt. Über eine Zukunft, die …“
„Willst du eine Antwort? Wirklich?“ Christa Schaffner unterbrach ihn nüchtern und kühl, eine Brise Wind, die in Grönland gestartet und über das Meer geweht ist. „Es ist November. Es ist kalt und ungemütlich da draussen. Die baden nicht in einem Meer, auch nicht in einem metaphorischen. Die gehen auf die Strasse, weil sie die Schnauze voll haben. Und“, sie machte eine Pause: „Weisst du, was ich glaube? Am meisten nehmen sie es sich selbst übel, dass sie den Bonzen zugejubelt haben. Sie hassen sich selbst, sie wissen es nur noch nicht. Weil sie immer einen Wehrlosen brauchen, den sie in der Wut über ihre eigene Mutlosigkeit hängen wollen. “
„Ich decke den Tisch.“ Werner Kotte wich aus. Manchmal hatte Christa eine Art, dass er von ihr dachte: Die Schaffner hat eine Art! So eine direkte, derbe, quasi naturwissenschaftlich-faktische; die Schaffner ist eine starke Frau! „Ich mach' den Fernseher an“, sagte er.

„Sei nicht sauer“, antwortete sie, „wenn die grad nix von Hölderlin senden!“

Mit ihrer Signal-Musik begann die „Aktuelle Kamera“. Die abendliche Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens stand nicht im Ruf, sonderlich informativ oder wahrhaftig zu sein. Die Berichte aus der Arbeitswelt waren stets voller Optimismus, Schaffensfreude und Zuversicht. Die Kommentare waren in einer Sprache gehalten, die der Poesieliebhaber Kotte„Parteichinesisch“ nannte; ihm kräuselten sich davon die Zehennägel, und wenn es einen Preis fürs Fremdschämen gegeben hätte, Werner hätte ihn erhalten müssen.

Neuerdings aber, seit wenigen Tagen, kamen die Genossen Redakteure nicht umhin, der Bewegung, dem Grummeln, der Aufgeregtheitim Land Beachtung zu schenken und von ihr zu berichten. Der Druck im Kessel war grösser als der Druck auf den Deckel. Noch immer im Ton der Partei, die immer recht hat. Noch immer wurde den kritischen Bemerkungen das Schwänzchen des Das-kriegen-wir-gemeinsam-in-den-Griff angeklebt. Aber. Immerhin. Der Ton hatte sich nicht geändert, die Musik schon. Und gerade … Was war das?

„Christa, du musst kommen! Schnell! Die Wolf spricht!“
„Meine Namensvetterin, aja.“

Kotte traute seinen Ohren nicht, als die Schriftstellerin Christa Wolf auf dem Bildschirm erschien und eine Erklärung verlas. „Fassen Sie Vertrauen“, bat sie die Landsleute, die gern ausreisen wollten: „Wir sehen die Tausende, die täglich unser Land verlassen. Wir wissen, dass eine verfehlte Politik bis in die letzten Tage hinein ihr Misstrauen in die Erneuerung dieses Gemeinwesens bestärkt hat. Wir sind uns der Ohnmacht der Worte gegenüber Massenbewegungen bewusst, aber wir haben kein anderes Mittel als unsere Worte. Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung. Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns!

Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an grossen Veränderungen. Wir wollen einstehen für Demokratisierung, freie Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit. Unübersehbar ist: Jahrzehntealte Verkrustungen sind in Wochen aufgebrochen worden. Wir stehen erst am Anfang des grundlegenden Wandels in unserem Land. …“
„Zu spät“, flüsterte Christa, die Lehrerin.
„ … Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, dass er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hierbleiben wollen, Vertrauen."
„Hast du das gehört! Toll!“ Werner war begeistert, als die Schriftstellerin ihren Appell beendete.
„Träumt weiter!“, sagte Christa barsch. Sie drehte sich um und ging in die Küche zurück.
„Wieso sprichst du im Plural?“ rief Werner ihr hinterher.

„Weil die Wolf denkt wie so viele: hoffnungslos romantisch und idealistisch! So wie du auch, mein Holder! Der Sozialismus, den könnt ihr nennen, wie ihr wollt, ist gelaufen. Seit Jahren schon.“

Kotte spürte die Verärgerung in sich aufsteigen. Ein Sodbrennen der Seele. Eine Verwirrung, eine Haltlosigkeit, ein wütendes Wünschen.

„Was ist denn falsch daran, hier zu bleiben und zu vertrauen? Endlich ein Gemeinwesen zu schaffen, das …“
„Jetzt reicht's mir!“ rief Christa. Etwas ging in Scherben. Und sie schrie: „Wo ein Körper ist, kann kein anderer sein, Physik, kapierst du das? Wo keine Körper sind, können andere hin, kapierst du das? Die Leere kann gefüllt werden, aber wenn niemand da ist, der sie füllen möchte? Wenn niemand da ist, weil jeder wegläuft? Und warum? Weil er genau diesen Käse seit Jahren hört: Die redet doch auch nur, was die Bonzen seit Jahrzehnten reden, verstehst du? Vertrauen! Ich mach' mir in die Buchs! Ein Traum, der nicht wieder im Keim erstickt werden soll! Hilfe, ich krieg' gleich einen Lachanfall! Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an grossen Veränderungen! Gleich platzt mir der Kopf, Kotte! Vertröstungen auf eine Zukunft – von Anfang an. Da hören die Leute auf zu träumen, irgendwann … Alle Träume sind erstickt! Da sind keine Träume mehr! Höchstens der Traum vom paradiesischen Westen! Träume? Ja Schiet aufn Mast! Banane, mein Lieber, alles Banane, weil nichts Banane ist! Wo kein Traum mehr ist, da ist kein Traum mehr! Meine Physik. Verbrannt zur Asche! Es ist eine Asche, aus der kein Phoenix mehr steigt, kapierst du das, Werner Kotte, Liebster, du vollidiotischer Mieter meines Herzens?“

Eckhard Mieder