Cornelia Koepsell Die einsame Wölfin

Prosa

Es war einmal eine Wölfin, etwas struppig, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, die zog allein durchs Unterholz, durch die Steppe, durch den Wald.

Die einsame Wölfin.
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Die einsame Wölfin. Foto: Gunnar Ries (CC BY-SA 2.5)

26. November 2013
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Nachts heulte sie den Mond und die Sterne an. Dies waren ihre Weggefährten. Sternschnuppen fielen herunter als Antwort und verglühten im All. Sie heulte auf eine besondere, fast melodische Art. Der Mond versteckte sich hinter einer Wolke, damit niemand sah, wie ihm die Tränen über sein Kratergesicht liefen. Er ist ein schamhafter Kerl - der Mond. Bisher hatte kein Mensch ihn weinen sehen. Selbst vor der Wölfin genierte er sich. Ein richtiger Mann weint nicht - ein Mondmann erst recht nicht.

Die Wölfin wusste, warum er sich verkroch und heulte umso schauerlicher und schöner, denn sie wollte die Tränen sehen, die dem Mond aus den Krateraugen tropften. Dann hätte sie sich weniger einsam gefühlt. Der Mond schluchzte so heftig, dass es zu regnen begann. Die Wölfin verkroch sich ins Unterholz und während das Wasser ihren Pelz nässte, dachte sie über ihr Schicksal nach.

Sie war aus dem Rudel verstossen worden, weil sie nicht mehr jung war, aber auch noch nicht alt. Kleine Wölfe konnte sie nicht mehr werfen, aber sie hatte auch nicht die Altersgrenze erreicht für einen Anspruch auf Wolfspension. Mittelalterliche Wolfsfrauen, die in ihrer Produktivität nachliessen, waren unerwünscht.

Über diesen Gedanken schlief sie ein. Es hatte zu regnen aufgehört. Das Mondlicht schimmerte auf ihrem Fell.

Am nächsten Tag streifte sie durchs Unterholz. Die Sonne schien. Fast fühlte sie sich wohl. Heute ver-misste sie das Rudel nicht. Dort gab es immer das gleiche Geheule. Keine Abwechslung. Kein Abenteuer. Auf einer Lichtung traf sie die Spur eines anderen Wolfes. Sie schnupperte daran. Die umliegenden Bäume markierte sie durch Anpinkeln. Dann trottete sie davon. In den nächsten Tagen kehrte sie an den Ort zurück und roch an den Bäumen. Der andere Wolf hatte die markierten Stellen überpinkelt. Ein Schauer durchlief sie. Zwar war sie nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Die Haut unter ihrem Fell spannte sich, die Augen glühten, fast war sie zu erregt, um die Konzentration für eine erneute Markierung aufzubringen. Irgendwann war es geschafft und sie zog sich zurück.

Als sie nach zwei Tagen zurückkehrte, spürte sie die Gegenwart des anderen Wolfes von weitem. Ihr Fell sträubte sich, ihre Zitzen, die schon viele Kinder gesäugt hatten, verhärteten sich, ihre Läufe zitterten und sie taumelte. Sie begann zu heulen, denn sie wusste: selbst den Mond hat es zu Tränen gerührt.

Der andere Wolf erschien auf der Lichtung. Er war nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Er sah sie an aus braunen Augen mit hellen Lichtpunkten darin. Ihr Heulen erstarb, nur noch ein Krächzen drang aus ihrer Kehle. Einen Schritt ging sie auf ihn zu, dann blieb sie stehen. Sie wusste nicht weiter. Was sollte sie tun? Ein Wolf und eine Wölfin auf einer Lichtung. Das war absurd.

Jetzt begann er zu heulen auf eine Art wie sie noch nie einen Wolf hatte heulen hören. Die Beine unter ihr gaben nach. Er kam auf sie zu. Sie konnte nicht weglaufen, wollte es nicht. Schliesslich war sie nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Was konnte schon passieren?

Stunden später, in denen sie sich liebten wie es nur ein einsamer Wolf und eine einsame Wölfin auf einer Lichtung tun können, konnte sie wieder einen klaren Satz denken und fragte: „Mögen Sie Hesse?“

Cornelia Koepsell