Anekdote über einen unangemeldeten Besucher Kinderspirituosen, Kotze und Handfeuerwaffen

Prosa

Sommer 1995. Es sind Schulferien. Meine Familie ist verreist. Im Haus meiner Eltern geniesse ich erstmals über einen längeren Zeitraum die Vorzüge einer sturmfreien Bude.

Kinderspirituosen, Kotze und Handfeuerwaffen.
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Kinderspirituosen, Kotze und Handfeuerwaffen. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

21. Dezember 2017
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Selbstverständlich nutze ich das aus und schmeisse eine Party. Der Andrang ist enorm. Sämtliche Altersgenossen der Kleinstadt sind gekommen. Darunter auch Gäste ohne Einladung. Letzteres hat zur Folge, dass ich im Anschluss an die Party den Keller neu streichen muss. Die zahlreichen Fussabdrücke an den Wänden lassen sich nur schwer ignorieren. Auch die Sauna wurde verwüstet. Der Gestank der noch heissen Kohlen lässt auf einen Aufguss mit Apfelkorn und anderen aromatisierten Kinderspirituosen schliessen. Ausserdem ist alles voller Kotze. Kotze, welche das hölzerne Sitzmobiliar der Sauna aufgeweicht hat. Als Wiedergutmachung verkauft mir einer der dafür Verantwortlichen noch in derselben Nacht seine Gaspistole. Kinderschnaps und eine neue Handfeuerwaffe – das Haushaltsgeld, welches mir Mami und Papi zur Selbstversorgung hinterlassen haben, investiere ich mit Bedacht.

Nachdem ich die Kellerwände gestrichen habe und die Sauna am liebsten weggesprengt hätte, treffe ich mich mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft. Einem Mädchen, welches über die Ferien zu Besuch bei der Oma ist. Selbiges Mädchen hat einen älteren Freund. Ihrer Aussage nach würde mit diesem Freund jedoch nichts Ernstzunehmendes laufen. Besagter Freund wäre bloss ein dummer, versoffener, gewaltbereiter Dorftrottel. Sie nutze ihn nur aus, weil er ein Auto habe und ihr auf Kommando gehorchen würde. So könne sie sich jederzeit bequem durch die Gegend kutschieren lassen, ihre Oma besuchen und auf Abruf wieder nach Hause, wann immer sie möchte.

Wenige Tage später erfährt der dumme, versoffene, gewaltbereite Dorftrottel dann schliesslich, dass sich die kleine Prinzessin – für die er sich tagtäglich als Chauffeur ins Zeug schmeisst – mit mir getroffen habe. Daraufhin überkommt ihn das dringende Bedürfnis, mich mit einem unangemeldeten Besuch zu überraschen.

Als er eines Nachmittags an der Haustür klingelt, gehe ich bereits davon aus, dass diese Begegnung nicht auf eine Einladung zum Kaffeetrinken oder zu einer Spritztour in seinem Dienstleistungsgefährt hinauslaufen wird. Ich bin verängstigt. Aus diesem Grund stecke ich mir zur Sicherheit mein neu erworbenes Schiesseisen hinten in den Hosenbund.

Nachdem ich die Tür geöffnet habe, bestätigt der Anblick des Besuchers meine schlimmsten Befürchtungen. Der Typ ist nicht nur fünf Jahre älter, sondern auch genauso viele Köpfe grösser als ich. Seine Ausstrahlung lässt keinerlei Zweifel aufkommen, dass hier jemand nicht nur dumm und versoffen ist, sondern er scheint auch garantiert so manche Kirmesboxerei erfolgreich hinter sich gebracht zu haben. Da hat mir seine Prinzessin nicht zu viel versprochen. Ich richte meinen Kopf im Dreissig-Grad-Winkel nach oben, um meinen unangemeldeten Besucher begrüssen zu können. Der Riese blickt zu mir herab und informiert mich darüber, dass er gekommen sei, um ein Kartenspiel abzuholen, welches seine Prinzessin bei mir vergessen habe. Er lässt mich wissen, dass dieses Kartenspiel ihrer Oma gehöre. Letztere habe ihn geschickt, um das Kartenspiel einzutreiben. Kurz angebunden antworte ich schüchtern: „Kein Problem, ich hole es sofort. Einen Moment bitte.“

Während ich das Kartenspiel hole, grinse ich kurz in mich hinein, bei dem Gedanken, dass dieser Primat anscheinend nicht nur seiner Prinzessin hörig ist, sondern offensichtlich auch ihrer Oma.

Danach überreiche ich ihm das Kartenspiel, zusammen mit der unbeholfenen Verlegenheitsfoskel, er möge der Oma seiner Prinzessin schöne Grüsse ausrichten. Anschliessend versuche ich vorsichtig, die Tür zu schliessen – doch es gelingt mir nicht. Er scheint noch nicht fertig mit mir zu sein und lehnt sich gegen die Tür. Danach beugt er sich zu mir runter und flüstert mir folgende Worte ins Ohr: „Hör gut zu ... ich gebe dir hier und jetzt mal einen Tipp ... einen guten Tipp ... einen verdammt guten Tipp: Pass gut auf dich auf und lass die Finger von meinem Mädchen!“ Während er mir diesen Tipp mit auf meinen Lebensweg gibt, riecht es nach Kinderschnaps aus seinem Maul.

Der dumme, versoffene, zweieinhalb Meter grosse Kirmesboxer wird zum Zuhälter. Ich fühle mich bedroht. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken. Meine Knie zittern. Ich erinnere mich an das, was ich hinten in meinem Hosenbund versteckt habe, und denke kurz darüber nach, für grossen Trubel in der Nachbarschaft zu sorgen. Nichtsdestotrotz siegt die Vernunft, auch dank der Einsicht, dass bei einem Schuss in Richtung Höhe seiner Visage die Ladung Reizgas hinterher wie ein saurer Regen auf mich niederprasseln würde.

Also entscheide ich mich für den diplomatischen Weg. Ich antworte: „Kein Problem, wir haben bloss Karten gespielt. Ich werde mich in Zukunft von ihr fernhalten.“ Zum Abschied hinterlässt er mir noch ein letztes Mal die Worte: „Denk an meinen Tipp ... !“

Danach wendet er sich von mir ab und verschwindet in der Ewigkeit. Zusammen mit seiner Prinzessin und dem Kartenspiel, von dem ich ihn in dem Glauben lasse, dass damit lediglich ein paar Runden Mau-Mau gespielt wurden.

Ich schliesse die Tür, drehe den Schlüssel im Schloss so oft um wie nur möglich und pinkle mir zu guter Letzt vor Angst und Erleichterung in die Hose. Die Hose, in deren Bund nach wie vor meine entsicherte Knarre steckt.

Vier Jahre später: Ich befinde mich in einer Nervenheilanstalt. Während ich aus der Gummizelle auf eine offene Station verlegt werde, kursieren im entfernten Bekanntenkreis Gerüchte, dass ich mich stattdessen in Untersuchungshaft befinden würde. Klatsch und Tratsch ohne Kenntnis der Fakten.

Um mich zu überraschen, beschliessen einige der besser Informierten, mich unangemeldet im Irrenhaus zu besuchen. Darunter Saufkumpane, Drogendealer und Waffenhändler. Vermutlich wollen sie überprüfen, ob ich sie in Zwangsjacke empfange, meinen eigenen Namen noch aussprechen kann oder mich inzwischen tagtäglich mit Scheisse einreibe. Mit quietschenden Reifen fahren sie auf den Parkplatz des Klinikgeländes. Grölend, gut gelaunt, mit lauter Musik aus den Boxen und zwei Kästen Bier im Kofferraum. Mit einem erzwungenen Lächeln geselle ich mich dazu. Ich begrüsse jeden Einzelnen mit Handschlag und reisse mich zusammen, bei dem Versuch weder durch Verlegenheit noch durch Verrücktheit ungewöhnlich unangenehm aufzufallen. Währenddessen spüre ich die skeptischen Blicke des Pflegepersonals, welches mich aus einem Fenster der Station beobachtet. Und obwohl ich das zugekiffte, auf diesem Klinikgelände völlig ungeniert Bier saufende Rappelpack, das mich soeben umgarnt, nicht angefordert habe, verspüre ich ein schlechtes Gewissen.

Während andere Patienten an diesem Tag von besorgten Familienangehörigen besucht werden, hat mir Satan seine Jünger vorbeigeschickt.

Vermutlich werden sich die Schwestern, Pfleger und Ärzte denken: „Aha, nun klärt sich alles auf, das sind also die Kreise, in denen sich der Herr Gräbeldinger für gewöhnlich bewegt. Nicht weiter verwunderlich, dass er es in die Klapsmühle geschafft hat.“

Nachdem ich mich eine Stunde später vom Pöbel und Gesocks auf dem Parkplatz der psychiatrischen Klink verabschiedet habe, begebe ich mich zurück zur Station. Dort komme ich dann schliesslich zu der Ehre, mich einer Leibesvisitation unterziehen zu müssen. Anschliessend folge ich der Aufforderung, in ein Promillemessgerät zu pusten. Und zu guter Letzt habe ich – zwecks Drogenscreening – das exhibitionistische Vergnügen, vor den Augen des Pfegepersonals in einen Kunststoffbecher pinkeln zu dürfen. Dennoch, ich erweise mich an diesem Tag als braver Patient. Trotz des schlechten Umgangs mit den Jüngern Satans lässt sich mir nichts Unsittliches vorwerfen – weder Alkohol noch Drogen. Zudem trage ich nicht einmal eine Schusswaffe bei mir. Die Schusswaffe, die damals meine Eltern konfiszierten, nachdem ich die Knarre erstmals innerhalb der eigenen vier Wände abgefeuert hatte.

Nämlich als Trotzreaktion, weil es mir im Anschluss an meine Party nicht gelingen wollte, den Gestank von frischer Farbe, Kotze und Kinderspirituosen im Keller und der Sauna zu verheimlichen.

Abschliessend stelle ich fest: Im direkten Vergleich zu meinen Eltern, den Jüngern Satans und dem Klinikpersonal liess sich der dumme, versoffene, zweieinhalb Meter grosse Kirmesboxer mit Zuhälterambitionen doch sehr viel leichter abwimmeln. Denn dass es sich bei erwähntem Kartenspiel nicht um Mau-Mau, sondern um Strip-Poker gehandelt hatte, konnte ich ihm für immer verschweigen.

Ebenso wie die Tatsache, dass seine Prinzessin und ich im Anschluss daran noch fickten.

Alex Gräbeldinger

Auszug aus „Bald ist Weltuntergang, bitte weitersagen! – Anleitung zur Selbstdemontage“, Kopfnuss Verlag, ISBN 978-3-9812772-2-7