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Kreativer Protest kippt niederländische Kultur-Coronamassnahmen

UPDATE 25.01.2022: wie im Beitrag angenommen, wurde der Kultur- und Gastrolockdown am 25.01 in NL offiziell aufgehoben Als sich im Dezember in den Niederlanden wie in ganz Europa die Omikronvariante des Corona-Virus sprunghaft verbreitet, greift die rechts-bürgerliche Regierung Rutte reflexartig zum Lockdown.

UPDATE 25.01.2022: wie im Beitrag angenommen, wurde der Kultur- und Gastrolockdown am 25.01 in NL offiziell aufgehoben

Als sich im Dezember in den Niederlanden wie in ganz Europa die Omikronvariante des Corona-Virus sprunghaft verbreitet, greift die rechts-bürgerliche Regierung Rutte reflexartig zum Lockdown. Anders als in allen europäischen Ländern halten die Herrschenden in Den Haag diese repressivste Massnahme aus dem Coronabaukasten für notwendig. Hintergrund ist nach niederländischen Presseberichten wohl auch der Umstand, dass das niederländische Gesundheitssystem noch deutlich stärker als anderswo neoliberal kaputtgespart wurde und bereits im November 2021 in die Überlastung kam, weshalb PatientInnen teilweise nach Deutschland verlegt werden mussten.
Also wird die niederländische Bevölkerung ab dem 19. Dezember, nachdem das Weihnachtsgeschäft als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden konnte, heruntergeschlossen. Der Effekt ist überschaubar bis nicht sichtbar. Die niederländischen Fallzahlen entwickeln sich ziemlich exakt im Gleichklang mit denen seiner europäischen Nachbarn nach oben, wenn man den damaligen Sonderfall Deutschland ausklammert, wo zu diesem Zeitpunkt die Omikronverbreitung noch geringer war.
Bis zum 6. Januar hält die Wirtschaft die Füsse still. In dieser produktionsarmen Zeit sind die Verluste überschaubar, dann aber verdeutlichten die Bosse ihrem wirtschaftsliberalen Regierungschef, dass nun Schluss mit solchen Hemmnissen der Kapitalakkumulation sein müsse.
Entsprechend wurde der allgemeine Lockdown dann zum 15. Januar wieder aufgehoben Allerdings und hier bewegt sich der Ex-Unilever Manager Rutte ganz im Gleichschritt mit vielen seiner Mitherrschenden in Europa, wurde Gastronomie und Kultur von der Öffnung ausgenommen. Es scheint an der Zeit, dass sich diese beiden Sparten effektivere Lobby-Strukturen schaffen.
Daraufhin kam es zu offenen Widerstand der betroffenen Bereiche, was stark an die Vorgänge im Nachbarland Belgien erinnert (siehe Link unter dem Beitrag). Zahlreiche Restaurantbesitzer kündigen an, entgegen dem Verbot öffnen zu wollen. Zahlreiche BürgermeisterInnen, die als Spitze der lokalen Ordnungbehörden die Einhaltung der Coronamassnahmen in ihrer Verantwortung haben, stellten sich hinter die Rebellierenden. Auch der immer noch geschlossene Kulturbereich beschloss nun in den Widerstand zu gehen und dachte sich hierzu kreative Aktionen aus.
Mehr als 70 Theater und Kultureinrichtungen im ganzen Land beteiligten sich. Beispielhaft sei die Aktion der Kleinen Komödie, einem Theater in Amsterdam, geschildert, dass in einen Friseursalon verwandelt wurde. Es wurden Friseurstühle aufgestellt und der Form halber, war auch ein professioneller Friseur anwesend – denn Friseure dürfen bereits offiziell wieder ihrer Arbeit nachgehen. Im Zuschauerraum warteten, natürlich zufällig, eine grosse Menge an Leuten auf einen Friseurtermin. Um diesen die Wartezeit zu verkürzen, betätigte sich ein Comdian auf der Bühne. Diese kreative Auslegung der Regel hatte den gewünschten Erfolg. Zwar gehörte die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema zu der Minderheit der kommunalen Spitzen, die kein Verständnis für diese Art von Widerstand bekundet hatte, von konkreten Gegenmassnahmen oder Strafen wurde dann aber doch abgesehen.
Gleichermassen kreativ und intelligent sind auch die Ansätze zahlreiche Museen, um den Verboten zu entgehen. Ein Museum in Limburg veranstaltet in den Ausstellungsräumen Yogakurse – Yoga gehört wie Fitness zu den bereits wieder erlaubten Freizeitaktivitäten. Während also einige – sehr, sehr langsame Yogaübungen durchgeführt werden, bewegen sich die BesucherInnen durch die Ausstellungsräume. Ein anderes Museum veranstaltete in seinen Räumen ein Fitness-Training, wobei auch hier die sportliche Aktivität sich in Form einer betrachtenden Fortbewegung durch die Ausstellung gestaltete.
Diese und zahlreiche andere Aktionen waren von durchschlagendem Erfolg. Gesellschaftspsycholiogisch dekonstruieren sie direkt erfahrbar die willkürlichen und autoritären Massnahmen der Herrschenden. Der Effekt stellte sich unmittelbar und sichtbar ein. Die meisten kommunalen Spitzen ordneten die Aktionen als Demonstrationen ein und verzichteten auf repressive Reaktionen. In einem offenen Brief fordern viele BürgeremeisterInnen die Regierung auf, die Massnahmen zu lockern, da es sonst zwischen formaler Rechtsnotwendigkeit und den lokalen Vorgängen zu einer Erosion an Autorität kommen könnte und ausserdem die Forderungen der rebellierenden Institutionen weitgehend nachvollziehbar seien.
In diesem Windschatten konnten auch Restaurants wieder in Form einer ‚Demonstration‘ wieder öffnen, was schliesslich so weit ging, dass Ministerpräsident Rutte in einem Interview am 20.01.2022 ebenfalls äusserte, solche Öffnungen von Gastronomiebetrieben könnten als Demonstration gewertet werden, wenn sie, so Rutte wörtlich, „nur vorrübergehend“ seien. Welchen Zeitraum und Frequenz das ministerpräsidiale ‚vorübergehend‘ denn nun abdeckt, werden wahrscheinlich dann die Gerichte entscheiden müssen. Allerdings dürften sie kaum noch zum Einsatz kommen, denn innerhalb des herrschenden Momentums ist auch der Kultur- und Gastrolockdown so gut wie Geschichte. Um weiterem Macht – und Gesichtsverlust vorzubeugen, hat die Regierung die Überprüfung der Massnahmen für den 25.01.2022 angekündigt. Nahezu alle politischen Beobachter erwarten, dass die Einschränkungen im Kultur- und Gastrobereich aufgehoben werden.
Der Ablauf in unserem Nachbarland zeigt, dass breiter kreativer gesellschaftlicher Protest gegenüber autoritären und willkürlich erscheinenden Massnahmen sehr wirksam sein kann. Inwieweit ein solches Muster auf die deutlich autoritätshörigere und staatsaffirmativere bundesdeutsche Gesellschaft übertragbar ist, muss offen bleiben.

Beitrag von Mel

Dieser Beitrag gibt nicht notwendigerweise die Haltung der aktuellen Redaktion oder von RDL als Gesamtradio wieder

Verweise:

https://www.freie-radios.net/113111

Autor: Mel

Radio: RDL Datum: 24.01.2022

Länge: 06:41 min. Bitrate: 132 kbit/s

Auflösung: Stereo (44100 kHz)