Natürlich schiebt er pflichtschuldig die Forderung hinterher, es müssten danach aber die Banken und Finanzmarktakteure besser kontrolliert werden. Doch ist das eine blosse Floskel, denn die faulen Kredite der Gegenwart können unter den gegebenen Umständen – wenn überhaupt – nur durch zukünftige Finanzmarktgewinne kompensiert werden. Dabei macht es dann keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Finanzmarktakteur staatlich oder privat ist, denn beide unterliegen gleichermassen dem Zwang, “ihr” Kapital gewinnbringend anzulegen und das geht unter den Bedingungen permanenter Überakkumulation nur in der Sphäre des Kredits und der Spekulation[2], weil die Spielräume für eine realökonomisch fundierte Kapitalverwertung beschränkt bleiben. Egal ob man diesen Zusammenhang nun erkennt oder nicht, in der Praxis setzt er sich durch. Deshalb wird den Regierungen und Zentralbanken gar nichts anderes übrig bleiben, als die monetären Schleusen wieder weit zu öffnen. US-Regierung und Fed fahren ja bereits diesen Kurs. [3]
Grundsätzlich gilt natürlich immer, dass Politik in ihrem Handeln durch den Zwang begrenzt wird, die kapitalistische Funktionslogik als solche nicht antasten zu dürfen. Ihrem Wesen nach bleibt jene auf die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten innerhalb dieser Logik beschränkt. Allerdings verändern sich die politischen Spielräume im geschichtlichen Verlauf. Sie werden geprägt und eingeschränkt durch einen historisch je spezifischen Möglichkeitsraum, der seinerseits von der blinden kapitalistischen Entwicklungsdynamik abhängt. Innerhalb dieses Möglichkeitsraums sind politische Entscheidungen und Weichenstellungen nicht determiniert, sondern ergeben sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, wie gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, internationalen Machtkonstellationen oder dem Konkurrenzgefälle am Weltmarkt; der mit dem Möglichkeitsraum gesetzte Rahmen jedoch liegt ausserhalb des Zugriffs der Politik. Das gilt auch für den heute häufig verklärten Fordismus.
Trotz des relativ grossen Regulierungspotentials in dieser Epoche hat die Politik den fordistischen Boom als solchen genauso wenig erzeugt, wie sie in der Lage war, sein Ende zu verhindern. Allerdings konnte sie bis zu einem gewissen Grad seine innere Verlaufsform beeinflussen und die vor allem in den Metropolen vorhandenen Verteilungsspielräume für den Aufbau einer ausgedehnten gesellschaftlichen Infrastruktur nutzen. In der Epoche der krisenkapitalistischen Globalisierung bietet sich ein spiegelverkehrtes Bild. Die Politik kann dem fiktiven Kapital nicht substantiell zu Leibe rücken, denn die beständige Aufblähung der Kredit- und Spekulationsblase ist Voraussetzung für den prekären Krisenaufschub und daher der unhinterfragbare Möglichkeitsraum ihres eigenen Handelns. Daher muss sie alles tun, um diesen Rahmen möglichst lange aufrechtzuerhalten; und dazu gehört neben geldpolitischen Massnahmen auch der fortschreitende Raubbau an den “öffentlichen Gütern”, die ins Feuer der privaten Verwertung geworfen werden, um die kapitalistische Maschine noch eine Weile am Laufen zu halten. [4] Allerdings kann diese Politik die kapitalistische Krisendynamik als solche nicht stoppen. Vielmehr führt sie zu einer beständigen Reproduktion der ihr zugrunde liegenden Widersprüche auf immer höherem Niveau. Während die Masse an fiktivem Kapital, das vor der Entwertung geschützt werden muss, exponentiell anwächst (wie ein Blick auf das Wachstum der Finanzmärkte zeigt), steigt mit jeder Stufe des Krisenaufschubs der Druck auf die Gesellschaft und die grosse Masse der Bevölkerung, die gezwungen ist, sich unter immer prekäreren Bedingungen zu verkaufen. Dementsprechend werden die gesellschaftlichen Kosten einer erneuten Vertagung des grossen Finanzkrachs erheblich sein. Zum einen ist mit einem gehörigen konjunkturellen Einbruch zu rechnen, der im Gegensatz zum aktuellen “Aufschwung” mit Sicherheit “unten ankommen” wird.
Zum anderen wird die Aufblähung der Geldmenge eine zusätzliche Beschleunigung der Inflation und damit eine weitere Entwertung der ohnehin schon ständig schrumpfenden Massenkaufkraft bewirken. Und schliesslich wird sich die nächste Spekulationswelle vermutlich auf Rohstoffe, Nahrungsmittel und Agrartreibstoffe beziehen und deshalb ganz unmittelbar katastrophale Konsequenzen für weite Teile der Weltbevölkerung haben. Schon die horrenden Preissprünge bei Nahrungsmitteln in den letzten beiden Jahren sind zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass immer mehr institutionelle Anleger ihr Kapital in die Warenterminbörsen lenken. Wenn dieser Trend sich fortsetzt, ist eine regelrechte Preisexplosion, die den Hunger in der Welt vervielfacht, unvermeidliche Folge.
Nun wäre zwar auch hier die Aufblähung des fiktiven Kapitals nicht eigentliche Ursache der Katastrophe, doch würde sie (wie schon im Fall der Privatisierungswelle) als Vermittlungsinstanz und Transmissionsriemen des Krisenprozesses und der ihm inhärenten Ausschluss- und Prekarisierungstendenz fungieren. Die Gefahr ist daher gross, dass sich der dadurch erzeugte Unmut wieder nur gegen das Feindbild eines “gierigen” Finanzkapitals richtet, dem die Schuld an der ganzen Misere zugeschoben wird. Umso wichtiger bleibt es, gegen diese invertierte “Kapitalismuskritik” mit ihrer offenen Flanke zum Antisemitismus Position zu beziehen. Das aber setzt neben der notwendigen Ideologiekritik auch eine fundierte Krisenanalyse voraus, die der verkehrten Wahrnehmung des kapitalistischen Funktionszusammenhangs den Boden entzieht. Freilich sollen damit die Finanzmärkte und die Spekulation nicht von der Kritik ausgenommen werden. Doch müssen sie stets als Teilmomente der fundamentalen kapitalistischen Krise verstanden werden, die als Gesamtprozess auf eine breitflächige Zerstörung der sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen hinausläuft.
Diese Kritik ist auch gegen die teils nostalgischen, teils populistischen Konzepte zur Wiederbelegung der keynesianischen Wachstums- und Regulationspolitik zu richten. Im Grunde wissen auch die Propagandisten dieser Konzepte selbst, dass es dafür unter den gegebenen Bedingungen keinerlei reale Spielräume mehr gibt. Denn das beweist sich regelmässig dort, wo “linke” Parteien mit entsprechenden Programmen an die Regierung kommen und dann genau das Gegenteil des Versprochenen in die Tat umsetzen; das gilt für die Berliner Stadtregierung nicht anders als für die verflossene “Mitte-Links-Koalition” in Italien oder etwa die Lula-Regierung in Brasilien. Verrückterweise ist auch das Wählerpublikum grossenteils nicht einfach leichtgläubig und wird “betrogen”, sondern will mangels anderer Perspektiven daran glauben, dass eine Rückkehr zum keynesianischen Sozialstaat der Nachkriegszeit noch einmal möglich sein soll, obwohl es auf einer anderen Bewusstseinsebene durchaus weiss, dass dies nicht mehr geht.
Das macht im Kern die schizophrene Stimmungslage aus, die sich etwa in einer breiten Zustimmung für klassische sozialdemokratische Forderungen (allgemeiner Mindestlohn, keine Bahnprivatisierung etc. ) undhohe Sympathiewerte für die Merkel-Regierung äussert. Das Problematische an dieser Stimmung ist, dass sie in ihrem Schwanken zwischen immanent uneinlösbaren Wünschen und einer unkritischen Akzeptanz der kapitalistischen Strukturlogik, deren Überwindung undenkbar erscheint, höchst anfällig für die Identifikation von Sündenböcken ist, seien es nun die Hedgefonds, die US-Regierung, die Grosskonzerne oder – in letzter wahnhafter Konsequenz – “die Juden”.
Es mag paradox klingen, aber gerade wenn man sich nicht der “Realpolitik” und ihrem Sachzwangcredo ausliefern will, ist es unerlässlich, die Grenzen der Politik in der gegenwärtigen krisenkapitalistischen Periode deutlich zu benennen. Nicht, um sie anzuerkennen, sondern als notwendige Orientierung für soziale Bewegungen und jene Teile der Gewerkschaften, die sich gegen den systematischen sozialen Raubbau, die fortschreitende Inwertsetzung aller Lebensbereiche, die zunehmende Prekarisierung und die damit verbundene Repression zur Wehr setzen. Lassen sie sich auf illusorische politische Perspektiven festlegen und in die Parteipolitik einspannen, bedeutet das nichts anderes als ihre Neutralisierung. [5]
Konzentrieren sie sich hingegen darauf, ihre Gegenwehr über die Grenzen partikularer Interessen, fragmentierter Lebensverhältnisse und diversifizierter Identitäten hinweg zu verbinden und so die durch den Krisendruck vorangetriebene Entsolidarisierung zu überwinden, können sie sich der parteiübergreifend betriebenen Abrisspolitik sehr wohl erfolgreich entgegenstellen.
… oder Weltwirtschaftskrise?
Sollte allerdings die Politik des neuerlichen Krisenaufschubs scheitern, droht eine Weltwirtschaftskrise gewaltigen Ausmasses, in der sich das in dreissig Jahren aufgestaute Krisenpotential entlädt. Massenhafte Unternehmens- und Bankenzusammenbrüche, vermutlich begleitet von einem gewaltigen Inflationsschub, wären die unmittelbare Folge. Es braucht keine grosse Phantasie, um sich die verheerenden Auswirkungen dieser Mega-Stagflation auf Staatsfinanzen, Sozialsysteme und die Lebensbedingungen der grossen Bevölkerungsmehrheit auszumalen.Durchaus wahrscheinlich ist, dass unter diesen Bedingungen die Ideologie einer national-populistischen Krisenverwaltung, wie sie ja schon lange nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums propagiert wird, an Zuspruch gewinnen wird. Wenn etwa der Publizist Jürgen Elsässer (derzeit bei der Zeitung Neues Deutschland) zur “nationalen Volksfront” gegen das globalisierte Kapital und vor allem gegen das Finanzkapital (das er – wen wundert's – vorwiegend in den USA verortet) aufruft, dann mag das momentan noch etwas überdreht klingen. Doch steht es für eine Tendenz, die auf aggressive, nationalistische Abschottung nach aussen und autoritäre Disziplinierung nach innen bei gleichzeitiger Mobilisierung antisemitischer Affekte hinausläuft. Freilich ist selbst unter Aspekten blosser Krisenverwaltung angesichts der ausgeprägten transnationalen Wirtschaftsverflechtungen eine Rückkehr zum weitgehend abgegrenzten Nationalstaat kaum denkbar. Wahrscheinlicher ist ein Zerfall der Weltwirtschaft in kontinentale Blöcke, ein Szenario, das in den politischen Machtapparaten und Think Tanks schon seit längerem durchgespielt wird. Ein starker Triebmechanismus in diese Richtung dürfte der absehbare Absturz des US-Dollars und der damit einhergehende Verlust seiner Weltgeldfunktion sein. [6]
Eine Krisenlösung im eigentlichen Sinne des Wortes stellt ein solches mögliches Szenario allerdings auch nicht dar, sondern nur eine Form der Notstandsverwaltung. Keinesfalls hätte nämlich der Entwertungsschub den Charakter einer “Reinigungskrise”, in der durch das Hinwegfegen von Überkapazitäten und faulen Krediten die Grundlage für einen neuen selbsttragenden Akkumulationsschub geschaffen würde. Denn die eigentliche Ursache der Krise, die Verdrängung lebendiger Arbeitskraft aus der unmittelbaren Produktion durch die Verlagerung der Produktivkraft auf die Ebene des allgemeinen gesellschaftlichen Wissenskomplexes und die damit einhergehende Untergrabung der Wertproduktion, wäre ja nicht beseitigt.
Auch weiterhin müsste jede Produktion auf dem durch die neuen I+K-Technologien gesetzten Produktivitätsniveau ansetzen oder sich an diesem messen lassen, während gleichzeitig der Produktivitätswettlauf weiterginge. Auf niedrigerem Niveau von Wertproduktion würde sich also die Situation permanenter Überakkumulation sofort wiederherstellen, einschliesslich des Zwangs zur erneuten Aufblähung des fiktiven Kapitals. Somit käme es zu einer Reproduktion der Widersprüche des bisherigen Krisenverlaufs unter erheblich verschärften ökonomischen und sozialen Bedingungen. Die entscheidende Frage wird dann sein, ob es gelingt, aus dem Widerstand gegen die Schwerkraft des Krisenprozesses heraus eine emanzipatorische Gegenmacht zu entwickeln, die eine Aneignung des gesellschaftlichen Zusammenhangs jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik zum praktischen Programm erhebt.