Landauer und andere Anarchist*innen und freiheitliche Sozialist*innen entwickelten schon vor weit über 100 Jahren Selbstverwaltungs-Ideen, die sie teils auch versuchten zu praktizieren. Aktuell setzt sich eine Initiative für ein Gustav-Landauer-Denkmal in Berlin ein (Rabe Ralf Oktober 2024, S. 5). Die Genossenschaftsbewegung hat – neben ihren bekannten bürgerlichen Gesichtern Raiffeisen und Schultze-Delitzsch – ebenso Wurzeln in der Arbeiterbewegung. „So gründeten sich die Naturfreunde 1895 nach den drei Grundsätzen aller Genossenschaften: Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung. Sie spiegelten sich im Naturfreundehäuser-Netzwerk wider und materialisierten sich in den Einkaufs- und Konsumgenossenschaften des demokratisch verfassten Verbandes.“ (Hans-Gerd Marian in Rabe Ralf Juni 2023, S. 7).
Nach der Studierendenrevolte 1968 gründeten Aktivist*innen selbstverwaltete Betriebe, zunächst für den eigenen Bedarf. Beispielsweise organisierten Mütter gemeinsam Kinderläden, um politisch mitmischen zu können und das nicht den Männern zu überlassen. Bei Buchladenkollektiven gab es revolutionäre Literatur, die anderswo nicht zu haben war. Manche zogen in Stadtkommunen zusammen, die zu politischen Anlaufstellen wurden, andere gingen aufs Land und bauten Gemüse an.
Alternativökonomie und soziale Bewegungen
Immer mehr Kollektivbetriebe entstanden, eingebettet in vielerlei neue soziale Bewegungen. Wenige Monate nach dem legendären Tunix-Kongress Anfang 1978 an der TU Berlin wurde am Funkturm für ein paar Wochen ein Ökodorf aufgebaut, mit biologischer Ernährung, regenerativen Energien, Naturheilkunde und vielem mehr. Die Aufbruchstimmung dieser Zeit hat der mittlerweile online verfügbare Dokumentarfilm „Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen“ festgehalten. 1980 besetzten Atomkraftgegner*innen in Gorleben einen Bauplatz für ein Zwischenlager und riefen die Republik Freies Wendland aus. Als das Widerstandsdorf nach wenigen Wochen von der Staatsmacht zerstört wurde, blieb die Erfahrung, dass der Traum vom selbstbestimmten Leben nicht nur ein Traum, sondern für eine kurze Zeit Realität geworden war. In dieser Realität gehörten soziale Kämpfe und selbstverwaltete Projekte untrennbar zusammen. In Berlin und anderen Städten besetzten Aktivist*innen Häuser, um sie vor dem Abriss zu bewahren. Wo nicht geräumt wurde, entstanden hunderte selbstverwaltete Hausprojekte für gemeinschaftliches Wohnen, mit Räumen für soziale und kulturelle Projekte.Nach 1989 trat der Kapitalismus seinen Siegeszug an und schien nahezu alternativlos. Eine kleine Ökodorfbewegung sah im Mauerfall jedoch eine Chance für Alternativen. An einer „Ost-West-Begegnung Selbstorganisierte Lebensgemeinschaften – Kommunen, Ökodörfer, spirituelle Gemeinschaften und andere alternative Lebensformen“ im Sommer 1990 in Kleinmachnow nahmen mehr als 400 Leute teil (Rabe Ralf Dezember 2019, S. 3). Nach mehreren grösseren Come-Together-Gemeinschaftstreffen etablierte sich auch in Deutschland das Global Ecovillage Network (GEN). Das Kommuja-Netzwerk politischer Kommunen trat 1996 mit einem ersten „Kommunebuch“ (heute komplett online) ins Licht der Öffentlichkeit.
Heute versuchen Klimaaktivist*innen mit teils monatelangen Besetzungen, Naturzerstörung durch kapitalistische Ausbeutung zu verhindern – beispielsweise im Hambacher und Dannenröder Forst oder vor den Toren von Tesla in Grünheide (Rabe Ralf Dezember 2018, S. 6, Februar 2021, S. 12, Februar 2025, S. 3). Die dabei entstehenden Erfahrungen von gemeinsamem Leben und Kämpfen prägen die Beteiligten nachhaltig.
„Trotz alledem“
Selbstverwaltung heisst, nicht aufzugeben und immer wieder zu sagen: „Trotz alledem!“ – so wie es seit Jahrhunderten diejenigen sagen, die nicht einverstanden sind mit den herrschenden Verhältnissen, die bekanntlich die Verhältnisse der Herrschenden sind, und wie es der Dichter Ferdinand Freiligrath schon 1848 in seinem gleichnamigen Gedicht formulierte.Ein selbstverwalteter Kollektivbetrieb ist etwas anderes als gewerkschaftliche Mitbestimmung in Gremien von Unternehmen, oder als Mitarbeiterbeteiligung, bei der Beschäftigte finanzielle Anteile an dem Betrieb haben, bei dem sie angestellt sind, auf dessen Produktion sie jedoch keinen Einfluss nehmen können. Er ist auch etwas anderes als flache Hierarchien oder auf einzelne Abteilungen begrenzte Selbstverwaltung in grossen Firmen, die letztlich der besseren Ausbeutung der Arbeitskraft dient. Ein selbstverwaltetes Hausprojekt ist etwas anderes, als in einer grossen Genossenschaft zu wohnen, deren Mitglieder nur rudimentäre Rechte haben, aber über die Geschäftspolitik nicht mitentscheiden können (Rabe Ralf April 2025, S. 23).
Mit Selbstverwaltung meine ich, sich wirklich selbst zu verwalten – also Kollektivbetriebe und Hausprojekte in der Hand der Arbeitenden oder Bewohner*innen, die ganze Bandbreite basisdemokratischen Wirtschaftens. Wie die Selbstverwaltung konkret ausgestaltet wird, das entscheiden die jeweils Beteiligten selbst. Nach meinem Verständnis handelt es sich um weitgehend autonome und selbstbestimmte Organisationsformen auf einem Wertefundament, das Menschenwürde und Menschenrechte für alle überall anerkennt (Aufzählungen erspare ich mir, denn „alle“ meint eben ausnahmslos alle). Daran halte ich fest, obwohl diese Werte oft missbraucht und gleichzeitig ignoriert und angegriffen wurden und werden. Gerade in den heutigen Zeiten finde ich es wichtig, das immer wieder laut und deutlich zu sagen.
Solidarische Ökonomien
Den Begriff Solidarische Ökonomien verwende ich – bewusst in der Mehrzahl – als Oberbegriff für verschiedene Formen anderen Wirtschaftens, deren Ziel nicht die Gewinnmaximierung zur privaten Aneignung als Profit ist, sondern die Herstellung des Lebensnotwendigen, um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Was selbstverständlich nicht bedeutet, dass dabei keine Überschüsse erwirtschaftet werden sollen. Die sind notwendig für Rücklagen und Investitionen. Sie sollen aber nicht der persönlichen Bereicherung dienen, die über ein gutes Arbeitsentgelt hinausgeht. Die Gewinnerwirtschaftung soll vor allem nicht der Motor des wirtschaftlichen Handelns sein, denn es ist dieses Gewinnstreben, das Menschen und Natur ausbeutet und vernutzt.All dies ist diskussionswürdig, denn was brauchen Menschen zum Leben, und was ist ein ausreichend gutes Arbeitsentgelt? Greifen wirtschaftliche Prozesse nicht immer in die Natur ein? Was ist zu viel? Klar ist jedoch, dass es um Alternativen zur herrschenden Ausbeutungsökonomie geht. Diese Alternativen umfassen sowohl meist kleinere selbstverwaltete Betriebe und Projekte als auch gesellschaftlich kontrollierte öffentliche – nicht staatliche! – Unternehmen im Sinne einer öffentlichen Versorgungswirtschaft oder Foundational Economy (Rabe Ralf Dezember 2022, S. 18). Neben diesen beiden Säulen gehören als dritte Säule zum solidarischen Wirtschaften auch die Kämpfe gegen Privatisierungen und um die Rekommunalisierung öffentlicher Infrastrukturen, ebenso die Abwehr von Sozialabbau und Prekarisierung. Denn mit den neoliberalen Angriffen auf öffentliche Güter werden einer anderen, nichtkapitalistischen Wirtschaftsweise systematisch die Grundlagen entzogen. Und weil ein gutes Leben für alle überall unerlässlich ist, dürfen Solidarische Ökonomien keinesfalls auf ein Land beschränkt sein – was in einer globalisierten Welt auch kaum möglich wäre –, sondern brauchen als vierte Säule unbedingt eine globale Perspektive (Rabe Ralf Februar 2019, S. 20).
Es gibt vielerlei Theorien, Praxen und Netzwerke dieses anderen Wirtschaftens mit unterschiedlichen Namen. Neben Solidarischer Ökonomie – was ich als Oberbegriff verwende – sind dies beispielsweise Genossenschaften, Soziale Ökonomie, Commons, Feministische Ökonomie und Care, Degrowth und andere. Sie haben jeweils eigene Netzwerke, Verbände etc. Dabei spielt die lokale Ebene als Basis der Produktion und Verteilung eine wesentliche Rolle. Zwar nehmen Online- und Crowdworking-Tätigkeiten zu, aber lebensnotwendige Tätigkeiten der Versorgung und Betreuung lassen sich nicht digitalisieren und brauchen lokale Arbeit (während das Kapital mobil ist und auf der Suche nach profitabler Anlage jederzeit entzogen und anderenorts neu investiert werden kann).
System Change?
Mit vielfachen Krisen und zunehmenden Kriegsgefahren auch hierzulande droht patriarchale Gewalt die Welt zu zerstören (Rabe Ralf August 2025, S. 19). Angesichts des bereits beginnenden Sozialabbaus könnte solidarisches Wirtschaften von einer Option zur Notwendigkeit werden. Über die Selbsthilfe der Beteiligten hinaus können selbstverwaltete Kollektivbetriebe und Hausprojekte vielleicht auch einen Beitrag zur notwendigen Transformation leisten – immerhin wirtschaften sie grundlegend anders als kapitalistische Unternehmen. Aber stellen sie damit das System infrage? Oder stabilisieren sie es vielleicht sogar, indem sie seine übelsten Auswüchse abfedern? Und fehlen nicht diejenigen, die ihren Betrieb am Laufen halten oder sich um ihr Haus kümmern, bei den Protesten auf der Strasse?Vielleicht sind die wichtigsten Fragen die, auf die es keine schnellen Antworten gibt, sondern die immer wieder Anlass zu selbstkritischer Reflexion geben. Denn so vielfältig und widersprüchlich die gewaltvolle Realität mit ihren patriarchalen und rassistischen Macht- und Herrschaftsstrukturen ist, so vielfältig und widersprüchlich sind auch Gegenwehr und Alternativen. Es gibt keine einfachen Lösungen. Auch wenn ich eine tiefe Abneigung gegen Alternativlosigkeiten habe, bin ich doch sicher, dass gesellschaftliche Gewaltverhältnisse – wenn überhaupt – nur gesellschaftlich verändert werden können. Ich glaube jedoch auch, dass selbstverwaltete Projekte dazu beitragen können, wenn sie Teil grösserer Bewegungen sind.
Den Bruch mit dem Bestehenden vollziehen regionale Autonomiebewegungen, indem sie versuchen, Wirtschaft und Gesellschaft ganz anders – herrschaftsfrei und nicht-kapitalistisch – zu organisieren. Die bekanntesten Beispiele sind die Zapatistas im mexikanischen Chiapas und die kommunalistische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (Rojava). Dies Andere ist immer bedroht, durch die Macht des Geldes und der Märkte – und wenn das zur Zerstörung nicht ausreicht, dann durch Repression und mörderische Gewalt. So wie zum Beispiel in Chile, als Präsident Salvador Allende und seine Mitstreiter*innen von der Unidad Popular begannen, mit reformerischen Mitteln die Wirtschaft des Landes sozialistisch umzugestalten. Nach nicht einmal drei Jahren wurde diese Hoffnung im September 1973 von den Pinochet-Faschisten mit Unterstützung der USA weggeputscht.
Den Angriffen widerstehen
Zunehmend wird auch versucht, Alternativen mit rechtlichen Mitteln zu zerstören. So zog sich die juristische Verfolgung von Domenico „Mimmo“ Lucano über quälende Jahre hin, nachdem er als Bürgermeister des süditalienischen Bergdorfs Riace Geflüchtete aufgenommen und sein Dorf damit vor dem Aussterben bewahrt hatte. Mit kleinen solidarökonomischen Projekten und öffentlicher Förderung konnten Einheimische und Zugereiste so ein bescheidenes, aber gutes Leben führen. Mittlerweile sitzt Lucano im EU-Parlament (Rabe Ralf August 2024, S. 21) und kandidiert auch für die Regionalwahl in Kalabrien im Oktober 2025. Er ist jedoch immer wieder Angriffen ausgesetzt.Hierzulande können selbstverwaltete Strukturen ihre Mittel und Möglichkeiten für widerständiges Handeln zur Verfügung stellen und für Marginalisierte wichtige Schutzräume ermöglichen. Als Übungs- und Lernfelder für anderes Wirtschaften und nicht-entfremdete soziale Beziehungen können sie schon heute Keimformen des Morgen sein. Wie dieses Morgen aussehen wird, das werden die jeweils daran Beteiligten entscheiden. Inspirationen für den Weg dorthin gibt beispielsweise der Film „Der laute Frühling“, in dem ein Blick in die Zukunft zeigt, wie in Krisenzeiten immer mehr Menschen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen (Rabe Ralf August 2022, S. 23).
Eine andere, bessere Welt, braucht selbstverwaltete Strukturen ebenso wie andere Menschen- und Weltbilder, im Sinne eines Pluriversums von Vielfalt ohne Beliebigkeit (Rabe Ralf Oktober 2023, S. 21). Selbstverwaltete Kollektivbetriebe und Hausprojekte verstehe ich als Teil dieser vielfältigen Alternativen.