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„Innovation” und „Dynamik” – ein positives Charakteristikum der gegenwärtigen kapitalistischen Ökonomie?

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Ein positives Charakteristikum der gegenwärtigen kapitalistischen Ökonomie? „Innovation” und „Dynamik”

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Wirtschaft

Anhänger der kapitalistischen Marktwirtschaft sprechen viel von den mit ihr verbundenen Fortschritten. Sie beschwören diese geradezu. Innovation gilt als ein Ja-Wort.

Datum 25. Juli 2025
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Es scheint bereits davon zu leben, dass niemand „gestrig” oder gar zurückgeblieben sein möchte. Novitäten gehen leicht mit einer Einschüchterung einher. Bei so viel Suggestion, die im Spiel ist, wenn von Innovation und Dynamik geredet wird, erscheint es angebracht, Fragen zu stellen. Alle reden vom Fortschritt. Gewiss hat es in den letzten Jahrzehnten viele Innovationen gegeben.

In welchem Ausmass finden Innovationen gegenwärtig überhaupt faktisch statt?

„Das Produktivitätsparadox [...] beschreibt den Rückgang des Produktivitätswachstums in allen Industrieländern – trotz der bahnbrechenden Fortschritte in den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). […] Während die Eisenbahnen und die Fernmeldetechnik, neue Medikamente und Elektrizitätswerke früherer industrieller Revolutionen das Wachstum der Weltwirtschaft gleichsam über sich selbst hinaustrieben, sind die Innovationen des internetbasierten Kapitalismus weniger weltbewegend. Daher nimmt das Tempo des Fortschritts ab und daher schrumpft das Produktivitätswachstum” (Stehr, Kornwachs 2024).

In den USA ist die totale Faktorproduktivität (FTP) zwischen 2019 und 2023 um nur 0,5% pro Jahr gestiegen (Riecke 2024). Die TFP berücksichtigt „insbesondere auch den Beitrag des technischen Fortschritts” (Ebd.). Die Investmentbank Goldman Sachs prognostiziert für die nächsten zehn Jahre ein jährlichen Produktivitätswachstum von 1,5 Prozent infolge der weltweiten Einführung von KI. Der US-Amerikanische Ökonom Daron Acemoglu vom MIT hält 0,55% jährlich im den gleichen Zeitraum für realistisch (Ebd.).

Wirkliche Fortschritte unterscheiden sich von peripheren Innovationen und von der Produktdiversifizie¬rung. Letztere fördert häufig vor allem den Absatz, ohne die Lebensbedingungen zu verbessern. So beinhaltet bspw. der grösste Anteil der in den letzten 20 Jahren entwickelten Arzneimittel keinen Fortschritt. „Wir können für die letzten 20 Jahre sagen, dass nur etwa 20 von 100 neuen Arzneimitteln tat¬sächlich einen Fortschritt bedeuten”, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittel¬kommission der deutschen Ärzteschaft, im Deutschlandfunk (Junge Welt 17.5.2013).

Bei den im Jahre 2000 in Deutschland neu zugelassenen 913 Fertigarzneimitteln mit bislang nicht allgemein bekannten Arzneistoffen handelt es sich zumeist um Analogpräparate, und die Zahl der tatsäch¬lich neu in die Therapie eingeführten Wirkstoffe beschränkt sich auf 31 Substanzen. Von diesen wiederum stellen höchstens 13 echte Innovationen mit belegbaren pharmakologischen Vorteilen dar (Bundestagsdrucksache 14,8205, 2002, S. 13f.).
Es kommt häufig vor, dass technische Innovationen überschätzt werden bzw. in der Öffentlichkeit übertriebene Vorstellungen von ihrer schnellen Anwendbarkeit in der Industrie existieren. Holger Görg, Leiter des Forschungszentrums Internationale Arbeitsteilung am Institut für Weltwirtschaft Kiel, weist hin auf „das Beispiel des Adidas-Konzerns, der den 3D-Druck-Versuch mit einem Turnschuhmodell nach kurzer Zeit einstellte. Es habe sich einfach nicht gerechnet. ‚Die Möglichkeiten technologischer Entwicklung sind da, aber beim Ausschöpfen sprechen wir eher von Dekaden', sagt er“ (Pezzei 2020). In der „Wirtschaftswoche” heisst es: „Der 3-D-Druck sollte die Produktion revolutionieren. Über industrielle Spezialanwendungen aber ist er nicht hinausgekommen” (Lange 2021). Der Chemiker Stefan Hecht ist ein Protagonist einer höheren Stufe des 3-D-Druck, der „Xolografie”. Er „spürt inzwischen viel Skepsis, sobald das Wort 3-D-Druck fällt: ‚Wagniskapitalgeber für die Markteinführung solcher INnovationen hat man hierzulande schnell abgeklappert', klagt Hecht” (Ebd.).

Technik kommt in der kapitalistischen Ökonomie nur in dem Masse zum Einsatz, wie sie den Profit steigert. Die Krabbenpulmaschine findet solange keine Verwendung, wie der Hin/Rück-Transport der Krabben nach Nordafrika plus die dortigen Arbeitsleistungen (Auspulen per Hand) für das Kapital profitabler bleiben (vgl. Benz 2012).

Faktisch ist der Zusammenhang von kapitalistischer Marktwirtschaft und Innovation nicht so eng, wie es häufig im Kontext der pauschalen Gleichsetzung von Kapitalismus mit Wachstum behauptet wird. Der Anteil der deutschen Unternehmen, die Innovationen vorgenommen haben („Innovatorenquote“), lag 1992 bei 60%, 2015 bei 36% (Schmidt 2019, 73). Ähnliche Daten finden sich auch für die USA (vgl. Moody 2019, 151-153). Moody nennt als Ursachen für eine die USA betreffende zurückhaltende Investition in teure Robotik („Der Vormarsch der Roboter erlahmt“ (ebd., 137) Produktivitätssteigerungen durch Intensivierung der Arbeit (ebd., 141f.) und grundlegende Entwicklungsprobleme der Robotik.

Dem amerikanischen Ökonomen Robert K. Gordon (2012) zufolge haben wir es in den USA mit einer „stockenden Innovation“ zu tun. „Die Innovationen seit dem Jahr 2000 haben sich auf Entertainment- und Kommunikationstools konzentriert, die kleiner, smarter, multifunktioneller sind als die vorhergehende, aber die auf keine fundamentale Weise die Arbeitsproduktivität oder auch unseren Lebensstandard beeinflussen.“ Eine US-amerikanische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, „dass zwar die Zahl der wissenschaftlichen Artikel wächst, die disruptive Forschung, die mit bekannten Mustern bricht, aber nicht. Das Gros der Wissenschaft folgt eher ausgetretenen Pfaden und optimiert vorhandenes Wissen. Das zeigt sich bereits in den Überschriften vieler Fachartikel, in denen heute öfter Wörter wie ‚improve‛ oder ‚use‛ vorkommen, also Begriffe, die eine Verbesserung oder Anwendung signalisieren“ (Krull 2023).

Eine unmittelbare Ursache dafür liegt darin, dass „die Forschungspolitik möglichst schnelle Ergebnisse erwartet und die Forschungsförderung tendenziell das Vorhersehbare belohnt. Wer sich heute um Drittmittel bewirbt, muss in seinem Antrag genau definieren, was er in welcher Zeit erforschen möchte. Zugespitzt formuliert: Er muss schon wissen, was er im Ergebnis herausfinden möchte. Das funktioniert am besten, wenn er an bekannten Stellen einfach tiefer bohrt. Bei einem solchen Vorgehen entsteht aber kaum grundsätzlich Neues. [...] Alles, was die bisherige Erfolgsspur verlässt, ist begründungsbedürftig und damit aufwendig für alle Seiten“ (Ebd.).

Geht die kapitalistische Ökonomie vom Wachstum zur Stagnation über?

Die im Bundestag vertretenen Parteien haben ganz verschiedene Vorschläge zur Belebung der Wirtschaft. Die Aufmerksamkeit fokussiert sich auf diesen Streit. Das trägt dazu bei, dass ein vorgeordnetes und grundlegenderes Problem nicht ausreichend in den Blick kommt. Bereits Keynes sah die kapitalistische Akkumulationsdynamik des 19. Jahrhunderts als ein ausserordentliches bzw. singuläres Phänomen an. Er prognostizierte für die Zukunft des Kapitalismus eine Stagnation.

Manche bestreiten aus ökologischen Motiven grundlegende Vorbehalte gegen das Wirtschaftswachstum. Hier geht es um eine andere Frage: Inwieweit erlahmt im gegenwärtigen Kapitalismus die Kapitalakkumulation? Seit dreissig Jahren herrschen in den reichen Volkswirtschaften Akkumulationsflaute und Überkapazitäten vor. Viele Unternehmen orientieren sich eher an Marktanteilskonkurrenz statt an Wachstumskonkurrenz. Die Wachstumsschwäche resultiert aus einem „extremen Missverhältnis zwischen Kreditangebot und seriösen Anlagemöglichkeiten.” Dieses Missverhältnis habe sich „als dauerhaft herausgestellt. Es handelt sich also nicht um die herkömmliche konjunkturelle Überersparnis, sondern um ein recht eindeutiges Stagnationssymptom. Politik und herrschende Wirtschaftslehre wehren sich jedoch gegen die Einsicht, dass der Akkumulationsprozess ausläuft“ (Zinn 2015, 42).

Wenn tatsächlich Innovationen stattfinden, handelt es sich um Neuerungen, die befürwortbar sind?

Gewiss lässt sich hier keine gerechte Gewichtung vornehmen, in welchem Anteil begrüssenswerte Innovationen nicht begrüssenswerten gegenüberstehen. Um das Problem zu verdeutlichen, sei auf problematische Innovationen hingewiesen.

Die 1995 in Deutschland verkauften Autos verfügten über durchschnittlich 95 PS. 2013 lag dieser Wert bereits bei 138 PS (Schindler 2014, 161). Das durchschnittliche Gewicht deutscher Autos hat sich innerhalb der letzten 30 Jahre verdoppelt. „Als Argument dient den Herstellern stets das Zauberwort Sicherheit. [...] Airbags, Dämpfer oder abknickende Lenksäulen im Kollisionsfall machten allenfalls 30, 40 Kg Gewicht aus. Der grosse Rest werde in immer mehr Leistung und immer grösseren Komfort gesteckt” (Ebd., 160). Unter den Fahrzeuggattungen haben in den letzten Jahren die SUVs (Sports Utility Vehicles) die grösste Zuwachsrate. In den 1990er Jahren wurden grosse Erwartungen mit der technisch möglichen Einsparung des Benzinver¬brauchs verbunden. Faktisch stieg in der Folgezeit das Gewicht der Autos und damit ihr Treibstoff¬verbrauch. Die Autoindustrie bildet ein markantes Beispiel für eine problematische Richtung der Technikentwicklung bzw. von Innovationen. Einige Einwände gegen die Überschätzung des Werts der KI für das gute Leben finden sich in Creydt 2023.

Problematische Interessen von Privatkunden an Innnovationen

Die technischen Fortschritte in Bezug auf Konsumgüter bestehen zum Teil aus Neuerungen, die nur für diejenigen „interessant” werden, die sich an den Ausstattungsfinessen der neuen Automodelle, der Unterhaltungselektronik oder der smartphones orientieren. Die technischen Angebote stellen eine Menge immanenter Unterschiede zur Verfügung. Häufig handelt es sich um Technik für Technikfreaks und -neards. Sie verwechseln die Unterschiede, die solchen technischen Angeboten immanent sind, mit Unterschieden, die im Leben und für das gute Leben einen Unterschied machen. „Wer kann allen Ernstes glauben, dass wir freier und glücklicher sein werden, weil sich nächstes Jahr das Gewicht unserer MP3-Player halbiert oder ihre Speicherkapazität verdoppelt hat?” (Ferry 2009, 242).
„Der technische Fortschritt von den diversen ‚Smart Devices' und den zugehörigen Apps ist auch nicht mehr viel mehr als eine Mode. Für den normalen Konsumenten dürfte der Unterschied zwischen zwei Generationen des gleichen Smartphones kaum wahrnehmbar sein , mit den beworbenen Leistungskennzahlen kann er ohnehin wenig anfangen“ (Lotz 2023, 40).

Stehen den Vorteilen von Innovationen mit ihnen verbundene Nachteile gegenüber, die die Gleichung „Innovation = Zuwachs an Nutzen für den Verbraucher” infragestellen?

Als die Digitalkamera aufkam, war die Freude gross darüber, nicht länger teure Filme kaufen und auf das Entwickeln der Fotos warten zu müssen. Problemlos liessen sich jetzt mehrere Fotos nacheinander machen und man konnte im nachhinein das vorteilshafteste unter ihnen auswählen. Die Digitalkamera erschien als Vereinfachung, „entpuppt sich aber rückblickend als ein klarer Fall von Antiproduktivität.

Heute sitzen Sie auf einem Berg von 99 Prozent überflüssiger Fotos und Videos, die auszusortieren Sie die Zeit nicht haben, die Sie aber überallhin mitschleppen in den lokalen Backups und in den Clouds, sichtbar und ausbeutbar für die grossen Internetkonzerne. Hinzu kommt der Zeitaufwand für die Bildbearbeitung, ohne die es nicht mehr geht, die komplizierte Software, die nach periodischen Updates ruft, und die aufwendige Migration derselben, wenn Sie sich einen neuen Computer kaufen” (Dobelli 2017, 42f.). Zunächst imponieren bei technologischen Innovationen die durch sie eröffneten Vorteile, erst später wird deutlich, dass das Neue auch andere Wirkungen aufweist und diese wenigstens teilweise unbequem oder gar unerfreulich sind.

Schluss

Der Artikel beansprucht keine vollständige Problemanalyse, sondern lädt zur Diskussion um zwei Fragen ein: In welchem Ausmass finden wirklich substanzielle Innovationen statt und welcher Anteil von ihnen kann als begrüssenswert gelten? Davon hängt ab, was vom sehr weit verbreiteten und häufig fast automatisch erteilten Lob zu halten ist, die jetzige kapitalistische Marktwirtschaft sei innovativ und dynamisch.

Meinhard Creydt

Literatur:

Benz, Ulrike 2012: Sind die falsch gepult? Der Krabben-Irrsinn. In feelgreen, 03.08.2012 http://www.feelgreen.de/sind-die-falsch-gepult-der-krabben-irrsinn/id_51927362/index

Creydt, Meinhard 2023: Kann die „Künstliche Intelligenz” zentrale menschliche Fähigkeiten und Vermögen ersetzen? In: Telepolis, 8. 10. 2023 http://www.meinhard-creydt.de/archives/1658

Dobelli, Rolf 2017: Die Kunst des guten Lebens. München

Ferry, Luc 2009: Leben lernen. Eine philosophische Gebrauchsanweisung. München

Gordon, Robert J. 2012: Is U.S. Economic Groth Over? Dambridge, M. A. http: //www.nber.org/papers/w18315.pdf

Krull, Wilhelm 2023: „Der Raum für Kreativität ist geschrumpft“. In: Die Zeit, H. 3, 12.1. 2023, S. 35

Lange, Edgar 2021: Grüsse vom Holodeck. In: Wirtschaftswoche, H. 20, 14.5. 2021, S. 68

Lotz, Carsten 2023: Renovieren ist das neue Innovieren. In: Wirtschaftswoche 25.8. 2023, S. 40

Moody, Kim 2019: Schnelle Technologie, langsames Wachstum. In: Florian Butollo, Sabine Nuss (Hg.): Marx und die Roboter. Berlin

Pezzei, Kristina 2020: Risse in der Kette. In: Das Parlament, H. 30-32, 20.7.2020, S. 5

Riecke, Torsten 2024: Technischer Fortschritt ist auch im KI-Zeitalter eine Schnecke. In: Handelsblatt, 15.2. 2024 https://www.handelsblatt.com/meinung/kolumnen/globale-trends-technischer-fortschritt-ist-auch-im-ki-zeitalter-eine-schnecke/100037310.html

Schindler, Jörg 2014: Stadt, Land Überfluss. Warum wir weniger brauchen als wir haben. Frankfurt M.