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Die mexikanische Reifenkooperative TRADOC

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Die mexikanische Reifenkooperative TRADOC „Mensch, das gehört jetzt uns!“

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Wirtschaft

1998 kaufte die Continental AG aus Hannover das Reifenwerk Euzkadi in der mexikanischen Stadt El Salto in der Nähe der Metropole Guadalajara. Nachdem das Unternehmen 2001 gegen die dortige Gewerkschaft damit gescheitert war, ein Produktivitätspaket durchzusetzen, schloss die Unternehmensleitung kurzerhand das Werk.

Continental Schriftzug an Firmengebäude.
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Continental Schriftzug an Firmengebäude. Foto: Axel Hindemith (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 28. Juni 2012
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KorrekturKorrektur
Den
Reifenarbeitern und ihren Familien
war die Existenzgrundlage entzogen,
sie standen vor dem materiellen
Nichts. Sie haben über drei
Jahre gestreikt, um die Schliessung
des Betriebes zu verhindern
und ihre ‚Würde' zu bewahren.
Dabei kämpften sie zusammen mit
ihren Ehefrauen und Familien auf allen
Ebenen und mit allen Mitteln: vor dem
Werkstor, auf Demonstrationen, im Gerichtssaal,
im HannoverCongressCentrum
bei der Aktionärsversammlung der Conti
oder einfach nur beim Verkauf von Doughnuts
auf dem Markt, um sich während des
Streiks irgendwie über Wasser halten
zu können. 2005 sah sich die Continental
schliesslich angesichts des massiven
Drucks gezwungen, den Streik juristisch
anzuerkennen und die ausstehenden Löhne
auszuzahlen. „Ohne die Möglichkeit, ein
für das Unternehmen vorteilhaftes Unterordnungsverhältnis
durchzusetzen, entledigte
es sich der rebellischen Arbeiter,
die mittlerweile zu einem Klotz am Bein
geworden waren.“ (Stubbe 2009: 166)

Die
Continental überliess den Arbeitern statt
den Löhnen die Hälfte der Fabrik, die
andere Hälfte ging an die mexikanische
Reifenvertriebsgesellschaft Llanti Systems.
Die Fabrikhalle, das Gelände und
die Maschinen waren nun kollektives Eigentum
der dort Arbeitenden, das sie organisatorisch
in die Kooperative TRADOC
(Trabajadores Democraticos de Occidente/
Demokratische Arbeiter des Westens)
überführten. Heute besitzen sie die
Produktionsmittel, produzieren die Reifen
in Eigenregie, zahlen sich relativ
hohe Löhne, arbeiten ohne hierarchische
Entscheidungsstrukturen und unterstützen
Arbeitskämpfe in ganz Mexiko.

Ein kleines Detail, wie beispielsweise
die besondere Sauberkeit und Luftverträglichkeit
in der Fabrik spiegeln ein
verändertes Verhältnis zur eigenen Arbeit
wider, eine andere Art der Verantwortlichkeit
gegenüber dem eigenen Tun:
„Denn natürlich fühlen wir uns nicht als
Bosse, wir sind Mitbesitzer einer Fabrik
und merken, dass das eine doppelte
Verantwortung ist. Heute müssen wir
einerseits eine Fabrik verwalten, andererseits
nicht nur Mexiko, sondern der
ganzen Welt zeigen, dass wir das können.
Ich bestehe darauf: Eines Tages werden
wir die Gesellschaft verwalten. [...],
heute ist es unsere Fabrik, und daher
müssen wir heute arbeiten, mehr, selbstverständlich
mehr. Aber wir schultern
auch die enorme Verantwortung dafür,
dass wir es nicht übertreiben und uns
selbst ausbeuten.“ (Torres 2009: 146)
Obwohl niemals vor den konjunturellen
Schwankungen des Marktes geschützt, hat
sich TRADOC mit einem glücklichen Händchen
bei der Wahl der Geschäftspartner
und mit einem derzeit gefragten Nischenprodukt
auf dem mexikanischen und USamerikanischen
Markt festsetzen können.
Diese Strategie, wirtschaftlich zu bestehen,
und, wie geplant, in Zukunft zu
expandieren, steht in einem widersprüchlichen
Verhältnis mit dem Bemühen, ein
„soziales Unternehmen“ zu schaffen. Für
die Kooperative gilt, das widersprüchliche
Gemisch aus wirtschaftlichen Zwängen
und solidarischen Beziehungen in ein
händelbares Gleichgewicht zu bringen.
Für eine solche Form alternativen Wirtschaftens
hat sich TRADOC einen möglichst
grossen Spielraum freigeschaufelt.
Dieser Spielraum fusst auf der Erfahrung
des Streiks, in der die Streikenden das
Prinzip der Solidarität kennenlernten,
solidarische Beziehungen aufbauten und
ein kollektives Bewusstsein für ihre
Interessen entwickelten.

Diese Erfahrung
und dieses Bewusstsein wurden in
die Kooperative hinübergetragen. Auf
dieser Grundlage hat sich die Kooperative
einen ‚solidarischen und demokratischen
Handlungskorridor' geschaffen, in dem gute Arbeitsbedingungen, ökologische
Massnahmen, eine flache, demokratische
Entscheidungsstruktur und die
engagierte Unterstützung sozialer und
gewerkschaftlicher Kämpfe durchgesetzt
werden konnten. Dies ist im Fall von
TRADOC die konkrete Antwort darauf, was
möglich wird, wenn die Arbeitenden sich
die Mittel ihrer Arbeit aneignen, über
sie verfügen und bestimmen. Obwohl niemals
befreit von wirtschaftlichen Zwängen,
stellt die Kooperative für mich den
lokalen Versuch dar, eine reale, lebbare
Alternative zu der Arbeit in einer hierarchisch
organisierten, kapitalistischen
Fabrik zu erschaffen. Die Möglichkeit,
betriebliche Handlungen an dem Prinzip
der Solidarität auszurichten und Entscheidungen
demokratisch zu fällen, ist
für mich Ausdruck dieser Alternative.

Die ArbeiterInnen von TRADOC verneinen
die Alleinherrschaft des äquivalenten
Tausches, indem sie ihre lokale, ökologische
und gemeinschaftliche Verantwortung
anerkennen und versuchen, ihr mit
den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln
gerecht zu werden. Damit emanzipiert
sich TRADOC von der herrschenden
Logik des Marktes, nämlich der privaten
Aneignung von gesellschaftlicher Arbeit,
dem daraus hervorgehenden Profit und der
Konkurrenz unter den Beschäftigten. Eine
kollektive Logik der Solidarität und
eine Logik der Demokratie lassen Handlungen
in dem Betrieb sinnvoll werden,
die in einem normalkapitalistischen Betrieb
nicht denkbar, sogar in hohem Masse
unvernünftig wären. Die eigene Lebensqualität,
die materielle Sicherheit des
eigenen Arbeitsplatzes, die Unterstützung
anderer Kämpfe, die umweltbewusste
Gestaltung des Arbeitsplatzes und eine
möglichst langfristige Perspektive des
Zusammenbleibens- und arbeitens können
ausschlaggebende Argumente bei Entscheidungen
sein. Ein solidarökonomischer
Betrieb wie TRADOC lässt somit andere
Handlungsrationalitäten als die der Gewinnmaximierung
zu.

Die globalisierte Ökonomie funktioniert
dagegen verselbstständigt. Wie die Continental
AG in El Salto entzieht sie
sich ihrer Einbettung in lokale, soziale
und ökologische Zusammenhänge, bürdet
diesen aber die von ihr verursachten
Kosten auf. Diese Zusammenhänge werden
der Verwertungslogik untergeordnet
und somit einer permanenten Unsicherheit
und Existenzgefahr ausgesetzt. Das
wirtschaftliche Interesse ist scheinbar
aus gesellschaftlichen Zusammenhängen
entbettet, es funktioniert anscheinend
losgelöst vom jeweiligen Kontext. Die
Streikenden von Euzkadi haben gezeigt,
dass dem nicht so ist, dass das Durchsetzen
des ökonomischen Interesses der
Continental enorme soziale, persönliche
und ökologische Konsequenzen mit sich
bringt. Heute zeigen die Kooperativisten
mit ihrer Praxis, dass es anders geht,
dass gemeinsames, ‚eingebettetes' Wirtschaften
sehr vernünftig ist, mit Beteiligung
aller gut funktioniert und die
gemeinsame Versorgung sicherer
gestaltet.

Welche Lehren für die politische Praxis
lassen sich aus dem Beispiel der Euzkadi-
Arbeiter ziehen? Ist das Vorgehen der
Streikenden verallgemeinerbar für Konflikte
solcher Art? Sind solidarökonomische
Unternehmungen ein sicherer
Ausweg aus den permanenten Krisen, die
der Kapitalismus ständig auf allen Ebenen
hervorruft? Eine allgemeine Antwort
auf diese Fragen kann es nicht geben,
denn die Versuche Solidarischer Ökonomie
gestalten sich in ihrem Zustandekommen
als ziemlich alternativlos, da es um das
Überleben und die Versorgung vieler Menschen
geht, und eben nicht um die Umsetzung
abstrakter, allgemeiner Prinzipien.
In diesem Fall die Kooperative oder den
Willen, eine andere Wirtschaftsform zu
errichten, als Ziel des Streiks auszugeben,
wäre fatal. Eine Fabrik, die den
ArbeiterInnen gehören würde, war zu dem
Zeitpunkt der Betriebsschliessung weder
denk- noch absehbar. Es ging nicht
um universale Werte oder Ziele, sondern
sehr konkret um alles oder nichts: „Unsere
Familien und unser Leben als Arbeiter
stehen auf dem Spiel. Wenn wir
gewinnen, dann bekommen wir unsere Arbeit
zurück, aber wenn wir verlieren,
verlieren wir alles.“ (Torres 2009: 22)

Die Intention, gegen einen riesigen Konzern
wie die Continental Widerstand zu
leisten, war also die Verteidigung des
eigenen Lebens und der sozialen Gemeinschaft.
Dass die Streikenden die Continental
besiegt haben, nun einen eigenen
Betrieb besitzen und diesen gemeinschaftlich
und demokratisch organisieren,
scheint somit ein noch grösseres
Wunder. Doch dieser Sieg einer lokalen
Gemeinschaft gegen einen transnationalen Konzern hat dennoch ein bestimmtes
Muster gezeigt, wie sich Beschäftigte
erfolgreich gegen global agierende Unternehmen
durchsetzen können. Indem sie
nämlich durch internationale Vernetzung
und internationale Solidarität auch global
vorgehen. In diesem Sinne haben die
ArbeiterInnen mit ihrer Strategie auch
eine arbeitskämpferische Alternative zu
einer nationalistischen, standortorientierten
Gewerkschaftspolitik aufgezeigt.
Welche theoretischen Schlussfolgerungen
lassen sich nun aus diesen Befunden
ziehen?

Ist TRADOC lediglich als ein Versuch der
ArbeiterInnen einzuordnen, der wirtschaftlichen
Marginalität zu entkommen?
Wenn dem so wäre, liesse sich dann
nicht kritisieren, „dass die solidarische
Ökonomie gerade mal eine spontane
Widerstandsform der durch die Wettbewerbslogik
des Marktes ausgeschlossenen
Arbeiter darstellt“ (Stubbe 2009: 166)?
Einem solchen systemischen Pessimismus
muss ich nach meinen Befunden deutlich
widersprechen. Denn ohne eine allgemeine
Lösung der Krise des Kapitalismus zu beanspruchen,
entstehen in den derzeitigen
solidarökonomischen Alternativen „wirklich
neue Formen der ökonomischen Tätigkeit
und der sozialen Organisation von
unten nach oben“ (Singer 2008: 154). Ein
solcher Pessimismus verkennt lokale Möglichkeiten
des Anders-Machens, und lässt
das, was zwischen Menschen passiert und
neu organisiert wird, ausser Acht. Er
führt meines Erachtens in theoretische
wie praktische Hilf- und Ratlosigkeit.

Dagegen sind die meisten Projekte Solidarischer
Ökonomie gut organisiert,
untereinander vernetzt und demokratisch
und möglichst hierarchiefrei strukturiert.
In diesen Betrieben machen die
Menschen also heute schon etwas anders,
ohne dabei vor Fehlern oder Widersprüchen
gefeit zu sein. Was sich bei TRADOC
beobachten beobachten lässt, sind
neue, kooperative Beziehungen zwischen
den arbeitenden Menschen. Es geht hier
ganz konkret um eine Umstrukturierung
der Produktion, die an den Bedingungen
und Bedürfnissen der arbeitenden Menschen
selbst ansetzt und sich damit als
gesellschaftlich sinnvoller, tragfähiger
und stabiler erweist.

ein Freund der Selbstorganisation

Literatur:

Mechthild Dortmund, (Hg.): Einen Tag länger als die Continental. Der Sieg der Arbeiter von Euzkadi/ Mexiko über einen internationalen Konzern.

Gregor Maass / Lars Stubbe (Hg.): Contra Continental. Der Widerstand der mexikanischen Euzkadi-Arbeiter gegen den deutschen Reifenkonzern.