Seit über dreissig Jahren reformiert die kommunistische Partei Chinas die chinesische Ökonomie China: Das Ende des eisernen Reistopfs

Wirtschaft

Der chinesische Kommunismus, genauer: der »Maoismus« war in den siebziger Jahren unter linken Kommunist_innen in Deutschland sehr beliebt. Mao schien all das vermeiden zu können, was den Realsozialismus im sowjetischen Umkreis bereits vor seinem wirtschaftlichen Zusammenbruch so hässlich machte: Bürokratie, Herrschaft, unbewegliche gesellschaftliche Strukturen.

Metro-Station in Peking, China.
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Metro-Station in Peking, China. Foto: 颐园新居 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

14. September 2013
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Zumindest zu Beginn der Kulturrevolution, also von Mitte der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre, schien sich hier für den milden europäisch-linken Blick ein Modell kommunistischer Vergesellschaftung abzuzeichnen, in dem ernst gemacht wurde mit einer »permanenten Revolution«, das »die Massen« ins Zentrum der Strategie stellte und der eigenen Bürokratie den Kampf ansagte. China ist inzwischen weit vorangekommen auf dem Weg in den Kapitalismus – unter Führung der ehemals maoistischen Kommunistischen Partei. Folgende Fragenkomplexe sollen dazu beleuchtet werden: Welche besonderen Bedingungen haben zu dieser besonderen Form der Auflösung »realsozialistischer« Vergesellschaftung geführt? War China bei dieser »Transformation« erfolgreicher als die realsozialistischen Länder Osteuropas? Und wenn ja: warum?

Die Anfangsphase 1949–1957

Wie auch das zaristische Russland, war China, das nach mehreren Revolutionen, von einem Krieg gegen die japanische Armee und einem langen Bürgerkrieg von der Kommunistischen Partei beherrscht wurde, weit von dem entfernt, was die Marxist_innen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unter »reif für den Kommunismus« verstanden hatten. Überwiegend agrarisch, war das chinesische Wirtschaftsleben in weiten Teilen von auf Subsistenzniveau wirtschaftenden Gemeinschaften geprägt; China galt damals als das ärmste Land der Welt.

Die Mehrheit der KP-Führung hatte ursprünglich vor, nichtkommunistische Kräfte einzubinden und mittelfristig an gemischten Wirtschaftsformen (kollektiv/privat) festzuhalten. Mao und die Parteilinke traten dagegen für eine schnellere Kollektivierung ein, was umstritten blieb, solange es keine Produktionsmittel gab, deren gemeinschaftliche Nutzung Sinn ergeben hätte. Mitte der fünfziger Jahre entschied man sich schliesslich für eine Kollektivierung der Landwirtschaft in der Hoffnung, die Modernisierung dadurch zu beschleunigen. Von nun an bildeten die Familien eines Dorfes eine grosse Kooperative, deren Boden zwar noch in Privatbesitz war, die aber Zugtiere, Geräte und Saatgut gemeinsam nutzen sollten. Schon diese Grundform der Sozialisierung stiess in weiten Teilen der Bauernschaft auf wenig Begeisterung: Millionen Bauern zogen in die Städte, um dort Arbeit zu suchen. Auch Industrie und Handel, beide mit sehr viel weniger Beschäftigten als die Landwirtschaft, wurden ab 1955 kollektiviert.

Die Kollektivierungsform orientierte sich stark am Modell der Sowjetunion mit einer zentralen Planungsbehörde und Branchenministerien in Peking, die dieser faktisch unterstellt waren. 1953 trat der erste Fünfjahrplan in Kraft, der 1957 tatsächlich mit einem Zuwachs der industriellen Produktion von 15 Prozent beendet werden konnte. Der Plan umfasste allerdings sehr viel weniger Produkte als die Pläne in den Staaten des Rates gegenseitiger Wirtschaftshilfe (RGW). Die Geldwirtschaft wurde beibehalten, wobei für die meisten verteilten Güter Preise festgesetzt waren, so dass nicht von Geld im engeren Sinne gesprochen werden kann.

Im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft wurde die gesamte Bevölkerung eingeteilt in Agrar- und Nichtagrarbevölkerung. Der jeweilige Status war verbunden mit bestimmten Rechten und Pflichten und wurde mit einem Hukuo, einer Art Aufenthaltsgenehmigung, verbrieft. Die Stadtbevölkerung erhielt ein Recht auf Lebensmittelkarten und Sozialleistungen durch die Staatsbetriebe, während sich die Dörfer selber versorgen mussten. Der bäuerlichen Bevölkerung war es damit nicht mehr möglich, während der Wintermonate ausserhalb ihrer Region auf legale Weise Lohnarbeit anzunehmen, Märkte aufzusuchen oder bei Nahrungsengpässen in Regionen mit besseren Ernteerträgen abzuwandern. Das Hukuo-System bedeutete, dass der miserable Lebensstandard auf dem Land nicht in dem Masse zu einer Landflucht führte wie in anderen Gesellschaften während der Industrialisierungsphase.

Nicht nur Binnenmigration und Slum-Bildung wurde damit verhindert: Um den Aufbau der Schwerindustrie zu finanzieren, zwang der Staat die Bäuerinnen und Bauern ab 1953, Getreide und andere Agrarprodukte zu Minimalpreisen an ihn zu verkaufen. Im Gegenzug konnten Löhne der Arbeiter_innen in den Städten niedrig gehalten werden. Auch dieser Umverteilung konnten Bäuerinnen und Bauern nicht ausweichen.

Der Grosse Sprung nach vorn

Die ersten Kollektivierungsbestrebungen führten auf Grund grösserer Parzellen und intensiverer Nutzung von landwirtschaftlichen Geräten zu höheren landwirtschaftlichen Erträgen. Die Industrialisierung allerdings verlor Mitte der fünfziger Jahre an Tempo. Es bestand ein ähnliches Problem wie in der Sowjetunion 35 Jahre zuvor: Ohne Importe von Technologie würde es keinen raschen Fortschritt in diesem Bereich geben; Devisen waren nur über landwirtschaftliche Importe zu bekommen, aber in der Landwirtschaft wurden Produktionsmittel gebraucht, um produktiver zu werden. Die prekäre Versorgungslage gab zudem genügend Anlass, eine Produktivitätssteigerung zu forcieren, eine Verschärfung ergab sich mit der Eisenhower-Doktrin, die im Januar 1957 ausgegeben wurde. Sie beinhaltete, dass die USA militärisch jedes westliche Regime gegen kommunistischen Umsturz verteidigen werde. Auch hatte der Aufstand 1956 in Ungarn gezeigt, dass die realsozialistische Herrschaft auf sozialer Ebene mitunter auf unsicheren Füssen stand, zumindest in denjenigen Ländern, die erst nach 1945 die sozialistische Umgestaltung begonnen hatten.

Die Kampagne, die das Aufholen gegenüber den kapitalistischen Ländern ermöglichen sollte, wurde »Der Grosse Sprung nach vorn« genannt und war für die Jahre von 1958 bis 1963 geplant. Sie fiel in einen Zeitraum zunehmender politischer Spannungen zwischen China und der Sowjetunion und hatte für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) auch die Funktion, grössere Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu erlangen. In Abgrenzung zum Moskauer Kurs hatte die Parteiführung etwa eine Konzentration auf den Aufbau der Schwerindustrie verworfen. Zum einen waren die ökonomischen Probleme der Sowjetunion unübersehbar, zum anderen war die landwirtschaftliche Grundlage der chinesischen Reproduktion stark dezentral ausgerichtet, was eine Entsprechung in der Infrastruktur hatte – keine gute Voraussetzung, um mit wenigen spezialisierten Kombinaten das ganze Land mit Industriegütern zu versorgen.

Ausgangspunkt der neuen Kampagne bildeten Infrastrukturprojekte wie der Ausbau der Verkehrswege und der Elektrizitätsversorgung. Die dazu benötigten Arbeitskräfte sollten durch Effizienzsteigerung in der Landwirtschaft freigesetzt werden. Die von den Industrieministerien zentral geführten Unternehmen wurden Regionen zugeordnet. Die bisher aus mehreren Familien bestehenden landwirtschaftlichen Genossenschaften wurden zu Volkskommunen mit je etwa 20.000 Mitgliedern zusammengefasst. Sie sollten die Betreuung von Kindern und Alten, die medizinische Versorgung und die Organisation kulturellen Lebens leisten, alles, auch die Verpflegung, sollte gemeinschaftlich erfolgen. Der gesamte Familienbesitz sollte in den Volkskommunen aufgehen, der Beitritt war zwingend. Die Begeisterung hielt sich jedoch in Grenzen. Wie auch bei den Zwangskollektivierungen in Osteuropa schlachteten viele Bäuerinnen und Bauern vor der Kollektivierung ihre Tiere, so dass in der Folge Chinas Viehbestände kollabierten.

Mit Blick auf das sowjetische Modell hatte die linke Mao-Begeisterung der späten sechziger Jahre einen nachvollziehbaren Grund – hier sollte tatsächlich Kommunismus entstehen, was die Sowjets in dieser Zeit längst aufgegeben hatten. Doch abgesehen von den revolutionsfeindlichen Bedingungen im arg rückständigen China hatte diese Kollektivierung einen zugleich notwendigen und fragwürdigen Aspekt. Sie gründete auf Zwang und war deshalb auf Gewalt als Mittel angewiesen. So war etwa die Gemeinschaftsverpflegung ein Instrument, widerspenstige Kollektivmitglieder unmittelbar von der Versorgung ausschliessen und so disziplinieren zu können.

Zur Verdopplung der Stahlproduktion wurden überall auf dem Land einfache »Hinterhofhochöfen« gebaut, die von den Bauern selbst bedient wurden. Wie im sowjetischen Einflussbereich gab der zentrale Plan nur abstrakte Zielgrössen für bestimmte Regionen und Produktgruppen vor. Erfolge wurden an Bruttoergebnissen in Tonnen Stahl, Eisen, Getreide, Weizen oder Reis gemessen und eine Übererfüllung der vorgegebenen Ziele mit Parteitreue gleichgesetzt. Eine Überprüfung der gemeldeten Zahlen erfolgte kaum, weil die verschiedenen Regionen mühsam bereist werden mussten und bei den meisten Produkten nur Überschüsse gehandelt wurden. Insofern war zwar ungefähr festzustellen, wieviel Getreide beispielsweise eine Region in den interregionalen Austausch gab – damit war aber, wie sich bald herausstellen sollte, gar nicht gesagt, dass es sich tatsächlich um einen Überschuss handelte. Doch vorerst überboten sich die Regionen mit Rekordmeldungen bezüglich Ernte und Produktion.

Die Volkskommunen meldeten zum Teil irrwitzige Hektarerträge an Getreide, um ihren revolutionären Eifer zu bekunden. Doch es zeichnete sich ab, dass dem kein realer Zuwachs entsprach. Auch das Ergebnis der Eisen- und Stahloffensive war ernüchternd. Ein grosser Teil des gewonnenen Metalls war aufgrund mangelnder Qualität nicht zu verwenden. Bereits 1959 wurde die Initiative deswegen aufgegeben. Funktionäre berichteten später, allein in der Region Henan seien 1958 mehr als 140.000 Tonnen landwirtschaftliche Geräte in die Hochöfen gewandert, um die Metallquoten zu übertreffen.[1] Gleichzeitig kamen erste Gerüchte über Mangelernährung in mehreren Provinzen auf. Anscheinend hatten regionale Leitungen Getreide als »Überschuss« gemeldet, das eigentlich zur Versorgung der örtlichen Bevölkerung hätte dienen müssen, während gleichzeitig in riesigem Ausmass bäuerliche Arbeitskräfte in die Metallproduktion und Infrastrukturprojekte geschickt worden waren.

Es gab allerdings auch tatsächliche Erfolge: Zwischen 1957 und 1960 stiegen unter anderem die Stromproduktion, die Telefonnutzung auf dem Land sowie die Nahrungsmittelproduktion,[2] das riesige Stadt-Land-Gefälle in Bezug auf Nahrungsmittel und Konsumgüter milderte sich etwas ab. Schon im März 1958 wurden auf einer Parteikonferenz Bedenken geäussert, dass die Beschäftigung der ländlichen Bevölkerung in den grossen Wasserbauprojekten zu Nahrungsengpässen führen könnte. Ein Indiz dafür war auch die erhebliche Binnenmigration, bei der mehr als 15 Millionen Bäuerinnen und Bauern trotz des Verbotes in die Städte zogen. Noch schlimmer wurde es in den folgenden Jahren: Die KPCh hatte eine der grössten Hungersnöte der Menschheitsgeschichte hervorgerufen. Schätzungen gehen von 15 bis 45 Millionen Toten aus. Nur mühsam und durch kreditfinanzierte Einfuhr von Getreide (und Hilfslieferungen aus dem kapitalistischen Ausland) konnte die Not überwunden werden.

Ähnlich wie in Bezug auf die sowjetische Entwicklung findet man hier eine fatale Verbindung von drei Faktoren: schlechteste materielle Ausgangsbedingungen für einen Aufbau von Kommunismus, eine nur in der Minderheit aus Kommunist_innen bestehende Bevölkerung sowie konzeptionelle Fehler. Eine erfolgreiche Planung, von so etwas wie »Befreiung« einmal ganz abgesehen, verträgt sich nicht mit Befehl und Gehorsam unter der Bedingung existenzieller Not. Massenmobilisierung im Sinne maoistischer Kampagnenpolitik kann kein Ersatz sein für langsam gewachsene Strukturen einer revolutionären Organisation, die nach einer Revolution auch Aufgaben der Planung übernehmen könnten – oder jedenfalls kein Ersatz, den man wollen kann.

Praktisch bedeutete das Scheitern des Grossen Sprungs, dass Mao sich Anfang der sechziger Jahre aus der täglichen politischen Arbeit zunehmend zurückzog, vor allem in den ökonomischen Bereichen. Er überliess die Ausgestaltung der Wirtschaft von nun an weitgehend der Parteirechten um Deng Xiaoping. Da er gleichzeitig aber publizistisch sehr präsent blieb, ergab sich in China bis zu Maos Tod 1976 eine ganz eigene Kombination aus marktkommunistischen Reformen und linkskommunistischer Propaganda.

Nach dem Grossen Sprung

1959 wurden die Danweis, soziale Einheiten, die von einem Dorf, einer Fabrik oder auch einer Universität gebildet wurden, gegenüber der Volkskommune wieder gestärkt. Danweis waren für fast alle Bereiche des sozialen Lebens verantwortlich. Damit wurde eine vormoderne Organisationsform wiederbelebt, die gerade auf dem Land für soziale Belange zuständig war und in der etwa auch Ehen ausgehandelt wurden. Es wurden Akkordlöhne und materielle Prämien eingeführt, auf dem Land aufgebaute Wirtschaftsbetriebe geschlossen, wenn sie zu unrentabel waren, und Gesundheits- und Bildungseinrichtungen aufgelöst. Das Stadt-Land-Gefälle wurde wieder grösser; das Hukuo-System allein konnte die anschwellende Binnenmigration nicht mehr eindämmen. Im Januar 1961 wurde den Familien neben dem gemeinschaftlich bearbeiteten Land, dessen Ertrag zu festen Preisen an den Staat verkauft werden musste, eine bestimmte Fläche (vorerst ca. 5 Prozent) zur freien privaten Nutzung überlassen. Das hier gewonnene Produkt konnte frei gehandelt werden. Zudem wurde reicheren Bäuerinnen und Bauern wieder erlaubt, Landarbeiter_innen einzustellen. Durch die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion wurden mehrere Millionen Binnenmigrant_innen dazu bewegt, auf dem Land zu arbeiten.

Es ist ein auffälliger Unterschied zur Geschichte der Sowjetunion, dass der Streit um die »linke« Linie Maos und den Grossen Sprung bzw. die revisionistische Politik nach 1962 unter Führung von Deng und Liu Shaoqui längere Zeit nicht zu einem Ergebnis führte. Mao vertrat, dass der Klassenkampf während des gesamten Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus vorherrsche – also auch im nachrevolutionären China. Er kritisierte, dass privilegierte Partei- und Staatsfunktionäre eine neue herrschende Klasse bildeten, die ein materielles Interesse an einer auf Ungleichheit in Einkommen und Macht zielenden Wirtschaftspolitik hätten. Auf dem 10. Plenum des 8. Zentralkomitees (ZK) der KPCh im September 1962 wurden diese Auffassungen Maos zum Klassenkampf noch knapp angenommen. Da auch er nach dem Scheitern des Grossen Sprungs über kein stringentes Konzept einer sozialistischen Ökonomie verfügte, wurde die Politik privater Nischenökonomie trotz dieses Etappensieges weitergeführt. 1965 stellte Mao im ZK den Antrag, den Klassenkampf wieder zu verschärfen. Diesmal wurde der Antrag zurückgewiesen.

Mao zog sich nach Shanghai zurück und startete eine publizistische Kampagne gegen die ZK-Mehrheit – Auftakt zur Kulturrevolution, die einen Grossteil der Politbüro- und ZK-Mitglieder aus ihren Ämtern fegte und die Gesellschaft Chinas für zehn Jahre in dauernder Umwälzung hielt. Jetzt aber wurden die »Massen«, vor allem Jugendliche, gezielt gegen die eigenen Kader der KP oder gegen sonstige Honoratioren, Professoren usw. ins Feld geführt. Sie wurden zum Teil mit demütigenden Schildern durch die Städte getrieben und misshandelt, bevor man sie ins Gefängnis oder zur Feldarbeit schickte. Tausende Menschen starben.

Marktwirtschaftliche Reformen ab dem Ende der siebziger Jahre

Reformen in marktwirtschaftlicher Richtung wurden in China nicht erst 1978/79 begonnen. Nach Maos Tod und der Ausschaltung des linken Parteiflügels wurden Tempo und Umfang der Reformen stark erhöht. 1978 wurden fast 7.000 industrielle Komplettanlagen in Betrieb genommen, allerdings mit der Folge eines Handelsbilanzdefizits von 390 Millionen Dollar, was für eines der damals ärmsten Länder der Welt eine riesige Summe war. Eine weitere Ausrichtung auf Deviseneinnahmen war auf dieser Grundlage unausweichlich. In den Regionen wurden unterschiedliche Reformversuche gestartet, die Ausgangspunkt für steile politische und wirtschaftliche Karrieren in den Achtzigern waren. Zhao Ziyang, schon 1971 Parteisekretär in Sichuan, erhöhte den Anteil des Privatlandes auf 15 Prozent und erzielte so zwischen 1976 und 1979 einen Ertragszuwachs von 24 Prozent. Den (noch staatlichen) Betrieben liess er freie Hand bei der Finanzplanung im Zusammenhang mit der Einführung von Prämien und Akkordlöhnen. Er erreichte so eine Steigerung der Produktion um 80 Prozent.[3] So ist es kein Wunder, dass Zhao ab 1980 als geeigneter Kandidat für den Posten des Premierministers angesehen wurde.

Die Entwicklung zeigt natürlich keine grundsätzliche Überlegenheit der Privatwirtschaft. Die herrschaftliche Organisation der Kollektivproduktion machte sie für die jedoch für die Arbeitenden unattraktiv. Zudem tat die Führung einiges, um die Privatproduktion leistungsfähiger zu machen. 1978 beschloss das 3. ZK-Plenum, dass die »Nebenerwerbszweige« gestärkt werden sollten – gemeint war damit das privat zu bearbeitende Land. Die festgesetzten Abnahmepreise wurden erhöht, für das noch kollektivierte Land um ein Fünftel, für das auf Privatland angebaute Überschussgetreide aber sogar um die Hälfte.

1979 wurden vier Sonderwirtschaftszonen eingerichtet. Benachbart mit dem portugiesischen Macao, mit Hongkong und Taiwan sollten sie zugleich Exporttor und regionale Entwicklungsmotoren sein. Kapitalist_innen aus dem Ausland wurde das Angebot gemacht, Fabrikanlagen nach ihren Plänen zu bauen, angebunden an eine neu ausgebaute Infrastruktur, passende Arbeitskräfte zu stellen und den (extrem niedrigen) Lohn staatlich zu garantieren. Produziert wurde zu sehr günstigen Steuersätzen.

Zwar konnte die Entwicklung so tatsächlich beschleunigt werden, aber es entstanden weit höhere Kosten für Baumassnahmen als geplant und weitreichende soziale Probleme: Schwarzmärkte, Korruption usw. Eine grosse Gruppe im Politbüro setzte sich deshalb für eine Drosselung des Reformtempos ein, konnte sich aber nicht durchsetzen. 1984 erhielten weitere 14 Hafenstädte einen Sonderstatus, der dem der Sonderwirtschaftszonen glich. 1982 wurden die ersten Preise freigegeben. Neben die Staatsbetriebe im herkömmlichen Sinn traten mit Reformen 1988 und 1993 Privatbetriebe, die vorerst noch eng an Staat und Partei angegliedert waren, sowie kleine Betriebsstätten in Genossenschaftsbesitz. Zunehmend wichtiger wurden Joint Ventures mit ausländischen Kapital- und Knowhow-Geber_innen. Deren Anteil an der Industrieproduktion lag schon Mitte der neunziger Jahre bei über 15 Prozent der Industrieproduktion.

Ende der neunziger Jahre trugen die Staatsbetriebe noch über ein Viertel zum Bruttoinlandsprodukt bei und beschäftigten einen noch weit grösseren Anteil der Arbeiter_innen. Der Plan war aber zu dieser Zeit schon der Marktkoordination gewichen, ergänzt durch einzelne Eingriffe des Staates durch Kreditvergabe, Steuerpolitik usw.

Sinn und Folge der Reformen war die radikale Umorganisation der Arbeitsbeziehungen. Bis dahin hatte für die städtische Bevölkerung das Prinzip des »eisernen Reistopfs« gegolten. Das bedeutete ein vertragsloses Dauerarbeitsverhältnis mit durch den Betrieb garantiertem Wohnen und garantierter Sozialversorgung. Heute dagegen können die meisten Unternehmen selbständig Arbeitskräfte einstellen und gegebenenfalls entlassen, der überwiegende Teil der Arbeitnehmer muss sich selbst Jobs suchen und ist für seine Reproduktion selbst verantwortlich; die (inoffizielle) Arbeitslosigkeit stieg in den letzten Jahren enorm.

Die Auflösung des Hukuo-Systems und die Auswirkungen auf die Bevölkerung

Die Beschränkungen für die Landbevölkerung wurden schrittweise abgebaut, bestehen aber in Resten weiter. Die gesellschaftliche Funktion des Hukuo-Systems besteht darin, eine industrielle Reservearmee zur Verfügung zu haben im Umfang von über 200 Millionen Menschen,[4] die in den Städten arbeitet, auf dem Dorf aber noch über eine Subsistenzgrundlage verfügt, was eine weitere soziale Absicherung für den Staat entbehrlich macht.

Obwohl dieses System also Vorteile für einen Übergang zum kapitalistischen Wirtschaftssystem hatte, birgt es in dieser Hinsicht auch Nachteile. Insbesondere ist es schwer, der dynamischen Wirtschaft Arbeitskräfte immer dort zur Verfügung zu stellen, wo sie gerade gebraucht werden. Ab 2010 unternahmen deshalb verschiedene Städte Reformen des Hukuo-Systems. So wurde etwa in der Provinz Guangdong ein Punktesystem entwickelt, das Wanderarbeiter_innen einen Hukuo verheisst, wenn sie aufgrund ihrer Ausbildung oder aufgrund von sozialem Einsatz (z. B. Blutspende) ihr Punktekonto auffüllen. Ende Februar 2011 erliess die chinesische Regierung dann eine Richtlinie zur grundsätzlichen Reform und kündigte an, Stadtbewohner_innen ohne ständige Aufenthaltsgenehmigung ebenfalls Zugang zu staatlichen Leistungen zu gewährleisten. Es ist allerdings anzunehmen, dass die Lockerung des Hukuo-Systems auf der einen Seite (Lockerung der Aufenthaltsverbote) auch zu einer Lockerung auf der anderen Seite führen wird (Einschränkung der Nutzungsrechte von Ackerland).

Schon jetzt verlieren?illionen Dorfbewohner_innen?hren?oden im Zuge von Industrieprojekten, obwohl jede Bäuerin und jeder Bauer ein privates Nutzungsrecht auf ein Stück Boden hat. Die Vergabe von Immobilienprojekten einschliesslich Vertreibung der Landbevölkerung verspricht grosse Profite und ist deshalb Anlass für lokale Kader, bestechlich zu sein. Dem Gesetz nach könnte dagegen geklagt werden, de facto ist das aber auf dem Land kein realistischer Weg. Lokale Bauernunruhen sind die Folge, die aber bisher mit einer Mischung aus Gewalt und Entgegenkommen (z. B. Steuersenkungen für die Landbevölkerung) seitens der Partei eingedämmt wurden. Solche Steuersenkungen gefährden allerdings wiederum die Finanzierung sozialer Infrastruktur durch die Kommunen. Die Konflikte sind also keineswegs gelöst.

Das Pro-Kopf-Einkommen in China ist in den letzten zwanzig Jahren ebenso stark gestiegen wie die Ausstattung mit Konsumgütern. China steht jedoch erst am Anfang eines Aufholprozesses gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich in den letzten zehn Jahren zwar verfünffacht, ist aber noch immer nur rund halb so hoch wie das Russlands, womit es hinter Ländern wie Aserbaidschan und nur knapp vor Albanien liegt.

Früher nicht gut, heute nicht besser

Es ist offensichtlich, dass die chinesische Ökonomie schon deshalb keine »bessere« Planwirtschaft ist, weil sie gar keine wirkliche Planwirtschaft ist. Einen Gesamtplan, bei dem eine Planbehörde mit Unterstützung regionaler und lokaler Stellen die Reproduktion der Gesellschaft strukturiert, gab es nur in den Anfangsjahren, als der grösste Teil der gesellschaftlichen Reproduktion landwirtschaftlich funktionierte und daher tendenziell gar nicht zentral geplant werden musste.

China stand vor der Anforderung, die Versorgung der Bevölkerung verbessern zu müssen und zugleich die Industrialisierung voranzutreiben. Eine Strategie, wie das ohne Marktelemente zu schaffen sein sollte, gab es seit dem Scheitern des Grossen Sprungs, bei dem revolutionäre Begeisterung materielle Grundlagen ersetzen sollte, nicht mehr.

Stattdessen existiert seit Jahrzehnten ein Nebeneinander von zunehmend marginalisierter Planökonomie und der relativ weiter zunehmenden Privatwirtschaft, die den Plan permanent stört und diesen inzwischen fast ganz ersetzt hat. Die chinesische Wirtschaft wächst sozusagen aus dem Plan hinaus, und die Führung nimmt die dadurch entstehenden Effekte wie Arbeitslosigkeit, schlechte Arbeitsbedingungen und Armut billigend in Kauf.

China ist bei weitem noch kein entwickeltes kapitalistisches Land, aber es hat in diese Richtung einige Schritte gemacht. Die Probleme, die entwickelte kapitalistische Länder schon seit Jahrzehnten haben (Versorgung der industriellen Reservearmee sowie der Alten und Kranken) bilden sich in China daher auch erst langsam heraus – es ist zu vermuten, dass ihre vorübergehende »Lösung« einem autoritären Regime wie dem chinesischen leichter fällt als es einem bürgerlich demokratischen Regime fiele. Diese Lösung wird es in China nicht gemütlicher werden lassen.

Rüdiger Mats
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 43
www.phase-zwei.org

Fussnoten:

[1] www.zeit.de/2012/17/Riesenreich-China/seite-3.

[2] Yonggang Xie/Qiang Fu, Analysis of Famines Caused by Heavy Floodsand Droughts in China, sciencepub.net/nature/0202/05xie.pdf.

[3] Jonathan D. Spence, Chinas Weg in die Moderne, München/Wien 1995, S. 794f.

[4] Im Jahr 2011 etwa 252,78 Millionen Wanderarbeiter_innen. Vgl. Yin Pumin, Den Griff lockern, in: Beijing-Rundschau vom 23. März 2012.