Trinkfertige Tablettencocktails und Aprikosenbranntwein Offener Brief an die Cousine

Prosa

An den Wochentagen, an denen ich nicht meine Zeit damit totschlage, mit meiner altjüngferlichen Cousine Margarethe, die in ihren achtundsiebzig Lebensjahren nie einen Mann hatte, dafür aber die Heilige Schrift sechs Mal von vorn bis hinten durchgelesen hat, in einem Strassencafé zu sitzen, um, unterstützt von einem Milchkaffee und einem Haselnusshörnchen, über die unabänderliche Ungerechtigkeit des Lebens zu schimpfen.

Offener Brief an die Cousine.
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Offener Brief an die Cousine. Foto: image_author

6. September 2007
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An solchen Tagen also verlasse ich meine Wohnung nur dann, wenn ich mich dazu aufraffen kann, den Müll nach unten zu bringen, davon abgesehen aber sitze ich auf meinem Sofa und starre in den Fernseher, erhebe mich von Zeit zu Zeit, um mir einen Schluck Aprikosenbranntwein zu gönnen, und während ich meine Kakteensammlung in Kalkwasser ertränke, denke ich während der immergleichen Handgriffe daran, mich umzubringen.

Der Haken an der Sache ist: sobald ich mich felsenfest und unwiderruflich dazu entschlossen habe, es mir auch gelingt, aus der mittlerweile ziemlich tief gewordenen Kuhle im Sofa zu wuchten und über den Boden zu schwanken, der nach dem vierten Glas Aprikosenbranntwein die Konsistenz einer Atlantikwelle anzunehmen begonnen hat, ich die Kochnische beinahe und das Medizinschränkchen annähernd erreicht habe, in dem ich seit Jahren einen trinkfertigen Tablettencocktail aufbewahre (ich müsste nur die Phiole aufschrauben, in einem Zug leeren, und adieu) dass ausgerechnet nachdem ich die letzte Atlantikwelle überwunden habe, das Telefon schreit, weil es meiner altjüngferlichen Cousine Margarethe, die in ihren achtundsiebzig Lebensjahren nie einen Mann hatte, dafür aber die Heilige Schrift sechs Mal von vorn bis hinten durchgelesen hat, eingefallen ist, mir den neuesten Tratsch erzählen zu müssen, den sie von ihrem Beobachtungsposten am Fensterbrett ihres Wohnzimmers begierig aufsaugt.

In solchen Situationen verschiebe ich also den Giftcocktail auf später, höre ihr gebannt zu, während meine Hand wie von selbst in die Richtung des Giftes wandert, ganz, als wäre sie eine Spinne (so etwas beklopptes, eine Spinne als Hand) versichere ich ihr mein aufrichtiges Interesse (was für eine Lüge) versichere ich ihr, dass es mir blendend geht, ja, Margarethe, es ging mir noch nie so gut wie heute, ja, Margarethe, die Kopfschmerzen verschonen mich momentan, ja, Margarethe, ich gönne mir nicht mehr als zwei Gläser Aprikosenbranntwein am Tag, rauche nur noch höchstens vier Gitanes am Tag, na gut, vielleicht noch ein Glas und eine Zigarette abends, um besser schlafen zu können, aber dagegen ist ja auch nichts einzuwenden, ja, Margarethe, ich esse noch immer so viel wie vor fünfzig Jahren, ja, Margarethe, nächstes Wochenende gehen wir wieder in unser Strassencafé, gönnen wir uns gemeinsam Milchkaffee und Haselnusshörnchen, versprochen, ganz bestimmt wird mir dann auch das Glück hold sein und ich lerne einen höflichen, aufmerksamen, in Würde und Weisheit ergrauten Mann kennen, der weiss, wie man Frauen behandelt, nächste Woche ganz bestimmt, nächsten Monat, nächstes Jahr, ja, Margarethe, der Herr wird auch dich beschützen, tschüss, Margarethe.

Mittlerweile fühle ich mich derart ausgewrungen, derart zugedröhnt von ihrer Stimme, dass ich nur noch eine Kopfschmerztablette, ein Glas Aprikosenbranntwein und sehr viel Ruhe brauche. Die Lust am Selbstmord ist mir vergangen, denn mit einer derart schlechten Laune macht das Sterben keinen Sinn.

An den Wochentagen, an denen ich meine Zeit damit totschlage, mit meiner altjüngferlichen Cousine Margarethe in einem Strassencafé zu sitzen, umzingeln wir uns mit Milchkaffee und Haselnusshörnchen, träumen wir von Damastkopfkissen (mit etwas Sparsamkeit reicht sogar meine Rente dafür) und von Donaukreuzfahrten, schlafen wir in Kinofilmen ein, die von Frauenzeitschriften gelobt wurden, und manchmal treffen wir uns mit den einigen zwei Schulkameradinnen, die noch übrig geblieben sind, und verbringen sehr angenehme Abende, an denen wir in einem altmodischen Kaffeehaus sitzen und uns die seit Jahren immergleichen Sätze in die Ohren brüllen.

Aber das Leben gefällt mir, Margarethe, das kannst du mir wirklich glauben (noch so eine Lüge) ich esse selten Gebratenes, schon immer mochte ich Fisch viel mehr, ich rauche nicht zu viel, trinke nicht zu viel, meine Libido hat mich zusammen mit meinem Ehemann verlassen, so kann ich weder an zu viel Sex noch an einem gebrochenem Herzen sterben. Mich wird nichts umbringen, denn in meinem Leben gibt es von nichts zu viel.

Manchmal glaube ich zu hören, wie die Fasern vom Teppichboden wachsen. Ich schalte nur selten das Fernsehprogramm ein, lese zur eigenen Beruhigung mit unveränderlicher Beharrlichkeit mein Wochenhoroskop. Gesundheit: achten Sie auf die Signale Ihres Körpers. Geld: Sie sollten vorsichtig sein. Liebe: am Mittwoch wird ihr Herz höher schlagen.

Vorgestern (am Mittwoch also) schlug mein Herz tatsächlich höher, als ich eine junge Frau sah, die so leicht gekleidet war, wie es heutzutage modern ist; unvorstellbar, wenn ich mich in meiner Jugend derart aufgetakelt auf die Strasse gewagt hätte. Ihr bizarres Auftreten wurde multipliziert durch einen mindestens doppelt so alten Mann, mit dem sie Händchen hielt und sich offensichtlich prächtig amüsierte.

Das an sich liess mein Herz nicht höher schlagen, vielmehr kam das von dem Umstand, dass dieser Mann eine frappierende Ähnlichkeit mit meinem Ehemann hat, und wäre mein seliger Manuel nicht vor vierundzwanzig Jahren mitsamt seines Autos verbrannt, hätte ich wirklich glauben können, dass er es ist. Mein Herz schlug so hoch, dass ich keine Luft mehr bekam und eine Passantin bat, mir ein Taxi herbeizuwinken, das mich nach Hause brachte.

So lange ich mich noch auf das Fernsehprogramm konzentrieren kann, laufen nur Gerichts- und Klatschsendungen. Ich schalte den Fernseher auf lautlos, es ist angenehmer, dem Juliregen zu lauschen und der jungen Studentin, die über mir wohnt und lauthals mit einer Männerstimme um die Wette stöhnt, die jedes Wochenende anders klingt. Sobald es mir wieder in den Sinn kommt, über den Atlantikboden zu der Phiole zu schippern, wird das Telefon erneut zu zetern beginnen und mich meine altjüngferliche Cousine Margarethe mit dem neuesten Stadtteilklatsch versorgen und die immergleichen Fragen stellen.

Also bleibe ich sitzen, betrachte ausführlich meine Kakteensammlung und die gerahmten Fotos von Manuel und mir, ohne daran zu denken, mich umzubringen. Was bitte sollte das auch bringen?

Bis zum Herbstende verzichte ich auf die Mittagessen (ein Milchkaffee, zwei Brötchen und Lachs an Dillsauce) die ich drei Mal in der Woche im "Citypoint" zu mir nehme, von dem gesparten Geld kaufe ich mir zwei Damastkopfkissen, einen nachtblauen Blazer von Dolce & Gabana, dazu noch schwarze Lederstiefelchen, ich lege meine Jadehalskette an und mein Jadearmband, und verbringe dann die Sonntage als eine sanft gereifte Frau, umwerfend schön, allein auf meinem Sofa, in der einen Hand halte ich die Fernbedienung für den Fernseher, in der anderen Hand ein Glas mit meinem geliebten Aprikosenbranntwein.

Die Flasche lasse ich in Griffweite auf den Atlantikwellen stehen, von denen ich manchmal glaube, ich könne sie wachsen hören, und dann hoffe ich, dass das Telefon nicht klingelt. Bei Gott, ich hoffe es wirklich.

Vincent E. Noel