Die Beleuchtung im Innenhof „In fernen Ländern ist das Leben ohne Tradition nur halb so viel wert“

Prosa

Ich würde zu gerne wissen, warum man uns als Menschen zweiter Klasse behandelt, in diesem Land mit den vielen Dingen, über die man nur den Kopf schütteln kann, diese Dunkelheit etwa, die wie ein Einbrecher kommt, geräuschlos, unerwartet, oder ist Ihnen der Moment aufgefallen, ab dem es dunkel wurde?

„In fernen Ländern ist das Leben ohne Tradition nur halb so viel wert“.
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„In fernen Ländern ist das Leben ohne Tradition nur halb so viel wert“. Foto: mattbuck (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

30. Mai 2013
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Nein. Und warum ist Ihnen der Moment nicht aufgefallen, ab dem es dunkel wurde? Ganz einfach: weil es ihn nicht gibt. Wir sitzen hier, plaudern völlig bei einer Tasse Tee, ich geniesse die Art, wie sich ihre Hand bewegt, Versprechungen andeutet, während Sie sich Notizen machen, ich biete noch ein Glas Tee an, den Pistazienkandis, der eine berühmte Spezialität meiner Heimat ist, Sie müssen ihn unbedingt probieren, sieben Stockwerke unter uns hasten Leute zum Supermarkt, zum KIK, zu Lalit, dem Gemüsehändler

(diese Woche sind Auberginen im Angebot)

oder zum Zeitschriftenladen, zwei Jugendliche

(beide blond und somit nicht aus diesem Viertel)

sitzen auf dem Brunnenrand, rauchen, blättern in einem Magazin, das sie hochkant halten, Gelächter erreicht uns, ab und an Geräusche von Autos, eine Fahrradklingel, der Bürgersteig
der gegenüberliegende
voller Helligkeit, sauber, gepflegt, deutsch, und überhaupt, ist Ihnen die Alte dort drüben aufgefallen, eine Frau, die auf ihrem Balkon lebt und raucht und nichts beobachtet? Nein. Und warum beobachtet sie nichts? Ganz einfach: weil es hier nichts zu beobachten gibt. Unsere Jugend ist anständig, braucht weder Alkohol noch Drogen, ist durstig allein nach Bildung und Arbeit, damit sie es besser hat, deswegen sind wir schliesslich auch hierher gekommen, nicht wahr, damals, vor dreissig Jahren.

Wir behandeln die Mädchen gut, erziehen sie der Tradition entsprechend, in unserem Viertel findet man keine Spritzen in Mülleimern, keine Wodkaflaschen auf dem Spielplatz, wie das woanders die Regel ist, aber dort sind die Mädchen auch nicht anständig genug, um bis zur Hochzeit zu warten, um, Sie wissen schon, die benehmen und kleiden sich schamlos, bewegen ihre Hüften wie sich selbst schälende Orangen, geniessen es, angeglotzt zu werden, und jetzt erklären Sie mir bitte, wie soll solch eine Jugend den Wert von Respekt lernen?

Genau, Sie sagen es. Uns hingegen sind Werte, Sitten und Traditionen lieb und teuer, und weil die Polizei in diesem Land ein Freund ist und ein Freund vernünftig und verständnisvoll, lässt sie uns in Ruhe. Wir leben in unserer Welt, die anderen in ihrer, und die Lautstärke der schlechten Dinge erreicht uns nur in Zeitungsartikeln. Vor Jahren lebte im Haus gegenüber ich meine damit die andere Seite des Innenhofes

ein Künstler, der seinen Bart mehlblond färbte, Kontaktlinsen und Nagellack trug. Und warum vollzog er diesen Mummenschanz? Ganz einfach: weil es ihm gefiel. Bitteschön. Die Sünde rief ihn vorzeitig zu seinen Ahnen, und weil dies in einem Krankenhaus in der Nachbarstadt geschah, liegt die Sterberate in unserem Viertel immer noch bei Null. Er trat in Bars auf, die von innen zu sehen mir der Glaube verbietet, doch war er belesen, höflich
jeden im Viertel grüsste er mit Vornamen

und das allein hat bei uns Gewicht: Respekt und Bildung. Wir respektierten ihn uns seine Kunst und sorgten dafür, dass ihn niemand Schwuchtel nannte. Beim Bäcker, bei Lalit, dem Gemüsehändler

(nächste Woche sind Kohlrabi im Angebot)

beim Jugendclub verteilte er Handzettel, die seine Auftritte ankündigten, einmal trank er einen Nachmittag lang mit einer Reporterin Tee in Ashokas Teestube, mitsamt eines tätowierten Wandschranks, der eine Kamera auf der Schulter trug wie Piraten ihren Papagei. Jeder im Viertel hat die Sendung gesehen. Und warum hat jeder im Viertel die Sendung gesehen? Ganz einfach: wie oft kennt man jemanden, der im Fernsehen auftritt? Genau, Sie sagen es. Ich fand es gut, wie er mich mit einer gravitätischen Verbeugung
- Effendi
grüsste, stellen Sie sich das mal vor, bei uns in Agra

(nur so als Beispiel)

oder in Jaipur, genau, vergessen Sie Agra, in Jaipur grüsst mich ein Mann, der im Fernsehen auftritt, mit einer respektvollen Verbeugung - Effendi
schon der Gedanke, wie mich die Passanten achtungsvoll, neiderfüllt anblicken. Augenblicklich hätten mich drei, vier dieser Frauen mit den Ballett tanzenden Hüften um ein Autogramm gebeten, und ich, die Bescheidenheit in Person, male meinen Namen auf eine Busfahrkarte, eine Serviette, und erzähle der Klatschpresse bislang unbekannte Details aus dem Privatleben des Sängers, der nebenbei erwähnt

(solche Details sind das Salz in jeder Prosasuppe)

die selbe Tabaksorte wie ich rauchte und seine Eltern aus tiefstem Herzen liebte. Ebenso seinen Hund, dessen Rasse ich nicht kenne: hinsichtlich Grösse und Form ähnelt er diesen Robotern, mit denen die KFOR Minen sprengt, im Gegensatz zu ihnen aber hat er ein braunblondes, bodenlanges Fell. Letzten Sommer liess sich der Sänger jeden Mittwoch Vormittag von einem jungen Mann begleiten, vielleicht Anfang zwanzig, bekleidet nur mit einer Sonnenbrille und einem weissen Lederslip, der dem Hund Tritte gab, also der junge Mann, nicht der Slip, sobald der Sänger nicht hinschaute. Und exakt davon rede ich andauernd: Respekt.

Möchten Sie noch einen Tee? Die Kanne steht dort hinten, bedienen Sie sich. Ich rede von Respekt, von lebendiger Tradition und von der Achtung, die älteren Menschen entgegenzubringen ist. Vielleicht bin ich nur zu alt, um Zeit richtig wahrzunehmen, vor allem, wenn man sich so gut unterhält wie wir beide. Am Dienstag war es das gleiche Spiel: ich sass hier, habe eine Zigarette geraucht, meine Frau hat ein Nickerchen gemacht, und wie aus heiterem Himmel

- Simsalabim

Dunkelheit, der Tag Vergangenheit. Ich betrachte gerne die Frau, die im Haus gegenüber wohnt, ich meine damit die andere Seite des Innenhofes, und am Dienstag hing sie auf dem Balkon Wäsche auf, Blusen, Höschen

(die habe ich nicht betrachtet)

Socken, Jeans, sie stand auf einem Hocker, drehte sich halb zur Seite, kurz hatte ich den Eindruck, sie winkt mir zu, doch mitten in der Handbewegung rauschte sie über ihre Geranien abwärts in einer Wolke aus Blusen und Büstenhaltern. Ein Balkon im siebten Stock, hätte man meinen können, ist kein Beinbruch, doch sie nahm es zu persönlich, lag dort wie eine korkenzieherartig verdrehte Puppe. Im Viertel munkelte man vom Geist des Sängers, bei Lalit, dem Gemüsehändler

(letzte Woche waren Radieschen im Angebot)

haben sie gesagt, ein unglücklich verliebter Cousin ihres Freundes, dann haben wir noch über Hadjims Stieftante geplaudert, deren linke Körperhälfte gelähmt ist, was ihn jede Nacht dazu zwingt, mindestens drei Mal aufzustehen, und wie aus heiterem Himmel

- Simsalabim

Dunkelheit. Die Beleuchtung im Innenhof ist seit Wochen kaputt, deswegen war die Frau unsichtbar. Wie ich bereits erklärt habe, regeln wir die Dinge selber, kommen auch ohne Notarzt, Beerdigungsinstitut zurecht, und vor allem mögen wir keine Veränderungen. Aus all diesen Gründen hat meine Frau die Rollos herabgelassen, dann telefonierte sie mit Hadjim, der Tips für die richtige Konsistenz von Kichererbsenbrei brauchte, später gingen wir unbesorgt schlafen, immerhin lag die Frau nur zwei, drei Schritte von den Mülltonnen entfernt. Ich kann Ihnen versichern, die Müllabfuhr arbeitet in diesem Land wirklich zuverlässig, denn als die Sonne

- Simsalabim

wieder aufging, war sie weg. Einer meiner Cousins hat sich um ihre Wohnung und um die restliche Wäsche gekümmert. Das ging zügig: zwei Baumwollröcke, ein paar Socken, ein Oberteil und eine Herrenjeans, fertig. Und obwohl ich der festen Überzeugung bin, dass sich Jeans negativ auf Traditionen auswirken, muss ich sagen, sie steht ihm ausgezeichnet: sie sitzt, als sei sie nur für ihn gemacht worden.

Vincent E. Noel