Jonas Schmid: Die Leiden der jungen Tellianer Schauplatz Aarau

Prosa

Das Studio befand sich an der Industriestrasse. Das Quartier – malerisch zwischen Bahntrasse und Hauptstrasse gelegen – war Minischmelztiegel und Kulturort der Stadt.

Graffiti in Aarau.
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Graffiti in Aarau. Foto: JS

6. November 2023
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Schauplatz I

Spielplatz für Freerunner, Skateboarder und Graffitiwriter. Hier gab es ein Albaner- und ein Türkenkaffee, einige spottbillige Wohnungen und günstige Gewerbefläche für Klein- und Kleinstunternehmer, eine Beachvolleyball- und eine Skateboardhalle, einen Hindutempel und gleich mehrere Autotuningwerkstätten, einen Non-Profit-Partyklub und den einen oder anderen Bandraum. Tauchte man ab in die Katakomben des alten Industrieareals, konnten phänomenale Entdeckungen gemacht werden.

Man konnte einen gespenstischen Maschinenpark einer vergangenen, erfolgreichen, industrialisierten Epoche durchwandern, einer der exklusiven Besucher einer phantastischen Hall of Fame sein, die äusserst intimen Ruhm generierte, oder auf einen illegalen Schiessplatz stossen, sodass es sich anfühlte, als ob man mitten in eine Mafiageschichte hineingeraten wäre. Da Kleinganoven auf dem Areal dealten, bezeichneten Kleingeister die Gegend als Schandfleck und rechtsfreien Raum. Doch handelte es sich dabei vielmehr um eine Perle. Einen Ort, an dem sich Menschen aller Kulturen und sozialer Schichten begegnen konnten. Ela wartete vor der Skateboardhalle auf Jan.

Schauplatz II

Im Dunkel der Nacht wurden die Wohnriegel der Grossüberbauung mit den dahinter liegenden Jurahöhen eins. Stramm ragte davor das Telli-Hochhaus empor. Das komplett von der kantonalen Verwaltung besetzte Gebäude kam niemals zur Ruhe. Zu jeder Nachtstunde brannte in vereinzelten Amtszimmern Licht, was gewisse Anwohner über geheime Treffen des Finanzdepartements rätseln liess, wohl aber vielmehr ein Zeugnis der ununterbrochenen Jagd nach Steuersündern war. Trotz dem geschäftigen Treiben in höheren Sphären war um die Einfamilien- und Reihenhäuser zwischen Hochhaus, Telliring und Aare zur fortgeschrittenen Stunde die gewohnte Beschaulichkeit eingetreten. Die Vorstadtbewohner genossen ihre verdiente Nachtruhe.

Unerwartet zerriss ein Urschrei die Stille.

Schauplatz III

Die Goaner hiessen ihn herzlich benebelt willkommen. Sie feierten in einem heruntergekommenen, eingeschossigen Betongebäude am Waldrand. Dieses hätte einst das Wochenendhaus eines Neureichen werden sollen. Doch dessen Geld war unangemeldet knapp geworden. Bei einer später erfolgten Umzonung fiel die Parzelle in die Landwirtschaftszone, und das unfertige Ferienhäuschen fand eine neue Bestimmung. Es wurde zum Tummelplatz für Heranwachsende. Dort wurde gefeiert und geliebt, gelebt und gelitten. Die rohen Betonwände waren über die Jahre mit dem Russ unzähliger Feuer und den Farben etlicher übereinander gemalter Graffiti verputzt worden. Und in Nächten wie dieser wurde das alte Gemäuer zum Goatempel.

Michi erhaschte eine anständige Dröhnung Schnaps und feierte mit Mary Jane. Naturgemäss wummerte elektronische Musik am laufenden Band.

Wumm, wumm, ntz, ntz, ntz.
Die ganze Nacht und in den Morgen hinein.

Figuren: Joel und Michi

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass es für hungrig ein Gegenteilwort gibt, für durstig aber nicht?«
»Du meinst so wie satt?«
»Genau.«
»Betrunken?!«
»Ich bin auch betrunken noch durstig.«
»Wie wahr. Sterngranatenvoll? Hm. Nein. Kann mit dem gleichen Kriterium gekillt werden. Aber …«
»Vergiss es. Es gibt keines, das wirklich passt. Ich hab's schon tausend Mal durchgespielt. Keine Chance. Es müsste eine neue Wortschöpfung her.«
»Skandalös. Die deutsche Sprache hat abertausend Wörter, aber kein einziges Wort für das Nicht-Durstig-Sein? Kaum zu glauben. Unfassbar!«
»An einer Un-Fass-Bar wirst du deinen Durst auch nicht los.«
»Tausendjährige Sprachentwicklung. Aber kein Wort für eines der urtümlichsten aller menschlichen Bedürfnisse. Lächerlich.«
»Absolut. Das ist ein Zeugnis davon, dass die Grundbedürfnisse in unserer Gesellschaft allgemein viel zu geringgeschätzt werden.«
»Stimmt. Deshalb ist auch Masturbieren ein gesellschaftliches Tabu.«
»Diskriminierung!«
»O heiliger Onan.«
»Wir sprechen hier und jetzt vom Elementarbedürfnis per se.«
»So ist es. Und kein anderes ist so einfach zu befriedigen. Oder hast du schon mal Hunger oder Durst gestillt, indem du einfach mit der Hand den Bauch gerieben hast?«

Figuren: Jennifer und Joel

Joel hielt für einmal die Klappe und genoss es, ihr zuzuhören.

»Da waren Menschen, die eines Tages Dinge taten, die nichts mit dem Überleben zu tun hatten. Auch nicht mit einer Verbesserung oder Vereinfachung der Lebensumstände. Wahrscheinlich ist ihr Handeln auf irgendeine Weise religiös motiviert gewesen. Verehrung oder gar Anbetung, möglicherweise der Natur. In Lascaux sind fast nur Tiere dargestellt. Stiere und Pferde zum Beispiel.«

Als hätte er das Zuhören selbst erfunden, sass Joel weiterhin lauschend da. »Warum sie die Felsen bemalt haben, wissen wir nicht. Natürlich gibt es Spekulationen. Sicher ist aber, dass sie gemalt haben. Sie haben einen Sinn für Ästhetik gehabt.«

Nach einer kurzen Pause resümierte sie: »Jedenfalls stand ich damals in der Höhle, habe die wunderschönen Bilder an den Wänden bestaunt und dachte: Macht uns das zum Menschen?«

Das temporäre Auditorium verlor seine Bestimmung und verschluckte sich fast am Wein, als es hervorstiess: »Du meinst, wir Graffitiwriter sind die Krone der Schöpfung? Der Olymp der Evolution ist der Wände bemalende Mensch?«
»Der Homo graffito!«, witzelte Jennifer.

»Wow!«, überhörte Joel die Ironie. »Voll die geilste Idee. Krass«, steigerte er sich in die Sache hinein. »Und die ersten Wandzeichnungen sind Penisse gewesen, die ersten Buchstaben am Felsen FTP und ACAB.«

Figuren: Guido und Jan

Guido kannte Jan seit Ewigkeiten. Seit der im Alter von zehn Jahren zugezogen war. Dazumal hatte Jan in etwa gleich viel Aufmerksamkeit und Fürsorge seiner Eltern erfahren wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Unbeaufsichtigt kurvte er immerfort mit seinem Fahrrad durchs Quartier, streunte durchs Einkaufzentrum und drehte Runden um die Parkbänke vor dessen Eingang. Dabei lernte er Guido kennen. Dieser war damals im ersten Jahr seiner Berufslehre und trank jeweils sein Feierabendbier vor dem Konsumtempel.

Er kannte viele der einkaufenden Leute. Die Alten grüsste er freundlich, laut und deutlich. Mit den jüngeren teilte er mehrheitlich nonverbale Begrüssungsrituale. Handshakes, Highfives und andere Klatschspiele. Und auch für den kleinen Jan hatte er stets ein nettes Wort bereit. Guido plauderte sich durch den Feierabend und ging heim, wenn das Shoppingcenter um acht schloss. Auf dem Nachhauseweg besorgte er sich zumeist sein Abendbrot, eine Fleischtasche beim nahegelegenen Ützel Brützel.

Jan hatte Guidos Abendprogramm, Inhalt und Rhythmus, rasch erfasst und machte sich dieses auf seine Art zu eigen. Es wurde zum tagtäglichen Anker, zum sicheren Wert. Tauchte Guido um halb sechs auf, war Jan bereits vor Ort. Schwatzte Guido mit anderen, drehte der Kleine seine Kreise um die wenigen Bäume und Steinrondellen vor dem Gebäude. Sobald die Quasseltante alleine war, sauste der Knirps heran und textete ebenbürtig mit dem Meister mit. Die beiden entwickelten ein brüderliches Verhältnis zueinander. Guido mochte die kleine, mitteilungsbedürftige Klette je länger, je mehr. Jan durfte endlich etwas Beständigkeit und Geborgenheit erleben.

Jonas Schmid

Auszug aus dem Buch von Jonas Schmid: Die Leiden der jungen Tellianer. Layup 2021. 112 Seiten. ca. SFr. 19.00.