1.
Am 7. Juni verabschiedete sich der Zimmermann AmadeusZündbrodt von seiner Freundin, wie morgens üblich, mit
einem Kuss auf ihre Stirn, die sich wächsern anfühlte, während
sie ihren restlichen Körper unter der Bettdecke verbarg,
und erst als Amadeus nach sieben Tagen noch immer
nicht heimgekehrt war, stand Isabelle auf, schmierte sich eine
Wurst-, eine Käse- und eine Marmeladenstulle, um sich
die Kraft anzufuttern, die sie brauchte, um das nächste Polizeirevier
aufzusuchen.
Nach achtminütigem Fussmarsch dort angelangt, sank
sie erschöpft und am ganzen Leibe zitternd auf eine Bank,
die an einer mit Steckbriefen tapezierten Wand stand; etwa
wurden zwei Mörder gesucht, ein normaler und einer,
der in Serie unterwegs war, Auskünfte über drei vermisste
Mädchen wurden erbeten, und auch die Fotografien der
Bankräuber vom Vortag waren angepinnt.
Die Zeit war einigermassen
verrückt geworden. Aber das besagte nichts,
das wusste jeder, das musste jeder aushalten, wenn er weiterleben
wollte, das war wahrscheinlich wie in einem Krieg
oder während einer Naturkatastrophe oder wie kurz nach
dem Scheitern einer Liebesbeziehung, die länger dauern
sollte, als sie gedauert hatte. Der Körper Isabelles befand sich in Aufruhr. Die drei
Stullen waren eine Zumutung gewesen. Ihr Magen rebellierte,
überall juckte die Haut, der Hals war zu. Dazu kam
das Beben ihrer Glieder. Arme und Beine flogen, der Kopf
wackelte, und der Schweiss der Kopfhaut hatte das Haar getränkt
und ihm ein schönes Leuchten geschenkt, obwohl
oder weil es seit zwei Wochen nicht gewaschen worden war.
Aber im Kopf war Isabelle klar. Sie wusste, dass Amadeus
vor sieben Tagen »Tschüs, Monsterlein!« gesagt und sie auf
die Stirn geküsst hatte, wie immer, würde sie gleich dem
Polizeibeamten erklären, der noch damit beschäftigt war,
mit dicken Fingern auf die Tastatur eines PC-Boards einzuhämmern,
und Isabelle wusste auch, dass sie Amadeus
liebte. So wie sie überzeugt war, dass er sie liebte und niemals,
hören Sie, niemals! einfach so verschwinden würde.
Der Amadeus ist ein lieber Kerl, würde sie gleich sagen, der
im Leben ziemlich viel Pech hatte. Und ich, würde Isabelle
hinzufügen, bin gewiss nicht diejenige, die es ihm erleichtert
hat. Dieses Leben. Sein Leben, das ich mir einverleibt
habe, verstehen Sie? Ich bin nämlich wirklich ein Monster,
Aber da ist diese grosse, gewaltige Liebe, verstehen Sie, Herr
Polizist?
Dann war der Polizist fertig. Er veranlasste die Technik,
das eben Getippte auszudrucken. Das besorgte ein Apparat,
der in der Ecke des Raumes stand, die Isabelle nicht einsehen
konnte. Der Polizist verschwand hinter einem Schrank,
sie hörte die Heiserkeit des Printers, und dann kehrte der
Polizist zurück. In der Hand einen kleinen Stapel Papier,
den er im Laufen durchblätterte, wobei er die Stirn runzelte
und »Mh, mmh!« machte.
Der Polizist sah halbwegs
zufrieden aus. Nicht ganz zufrieden, vermutlich handelte
es sich um einen Bericht über ein Vorkommnis, das die
Strafordnung verletzte (und möglicherweise sogar die Bevölkerung
beeinträchtigte), und derartige Berichte sind
nie hundertprozentig zufrieden stellend, weil sie komplizierte
Sachverhalte verkürzen, weil sie die Sicht des einen
oder anderen Zeugen berücksichtigen müssen (und deren
Beobachtungsgabe gilt als höchst unzuverlässig), weil sie
von einem Beamten aufgenommen werden, dessen Fähigkeiten
in objektiver Betrachtung, im Aufschreiben, im
Formulieren ihn selbst nicht überzeugen. Aber schliesslich
ist man Beamter und nicht Martin Luther.
»Sie wünschen?«, fragte er nun durch den Raum.
Die Frage veranlasste Isabelle aufzustehen. Sie machte
drei Schritte, bis sie an der Barriere, die die Warteabteilung
von der Arbeitsabteilung trennte, Halt fand.
»Mein Liebster ist verschwunden«, sagte sie. Räusperte
sich, weil sie fand, ihre Stimme hatte weder Fülle noch Klang,
und wiederholte kräftig: »Mein Liebster ist verschwunden.«
Der Polizist hatte das Papier, das er eben aus dem Printer
genommen, gelocht und in einen Ordner abgeheftet
und schaute die Frau an. Sie missfiel ihm. Er war sich sicher, dass sie von irgendeiner
Droge abhing. Alkohol, Koks oder irgendeines dieser
künstlichen Suchtmittel, mit denen die Stadt seit Jahren
überschwemmt wurde und gegen die niemand mehr nachdrücklich
etwas unternahm.
Den Krieg gegen die Drogen
hatte die Polizei längst verloren. Die Polizei? Alle Autoritäten
der Gesellschaft hatten den Krieg verloren und den Kampf
aufgegeben, auch wenn es von Zeit zu Zeit spektakuläre Razzien,
Strafverfahren und harte Urteile gab. Auch wenn es von
Zeit zu Zeit prächtige Schlagzeilen machte, wenn wieder
eine Bande ausgehoben oder eine Gruppe schaurig vernachlässigter
Kinder in einem Kellerverlies aufgestöbert wurde –
er, der Polizist, gehörte zu jenen Männern,
die die Fünfzig überschritten hatten und nichts sehnlicher wünschten, als
im Innendienst zu bleiben, bis sie mit 55, spätestens mit 58
und mit vollen Bezügen pensioniert wurden.
Ein Geschöpf,
wie diese Frau, störte und bedeutete Ärger und Aufwendung.
Wiederum war der Polizist ein gebürtiger Vorpommer,
den es zwar schon als Kind in die Stadt verschlagen und der
doch einen Humor hatte, den trockene Sommer, kühler
Seewind, reichliches Essen und Trinken und ein durch das
Auf und Ab des Lebens entstandener Fatalismus bei seinen
Vorfahren erzeugt und ihm vererbt worden war. Er würde
davon schon noch eine Probe geben, zunächst aber sagte er
nur: »Das passiert alle naselang.«
Dass die Frau mit dieser Auskunft nicht zufrieden sein
würde, ahnte er. Dass sie hartnäckiger war, als ihre zittrige
Hinfälligkeit signalisierte, war ihm gleich durch den Kopf
gegangen, kaum dass sie Platz genommen hatte. Ein flüchtiger
Blick genügte, sie krank, verloren, introvertiert bis zur
Selbstzerstörung und doch auch zäh, intelligent und auf eine
irritierende Weise sogar schön zu finden. Sie glich einem
Köter, den das Leben auf der Strasse frech, selbstsicher und
renitent gemacht hatte. Seine anfängliche, grundsätzliche
Abneigung wankte.
»Ich wäre nicht gekommen, wüsste ich nicht, dass Amadeus
was Ernstliches geschehen ist«, sagte die Frau langsam,
langsam genug, um diesen schlingernden Satz bei dem
Polizisten
ankommen zu lassen.
Der nickte und fühlte sich mit seiner ersten Einschätzung
bestätigt. Jajaja, mir macht niemand ein X für ein U
vor, ich erkenne meine Schweine am Gang! Die Frau sprach
aus der Erlebnisfülle einer Zeit heraus, in der es ihr besser
ergangen war, als es ihr augenscheinlich gerade ging, vermutlich
auch aus einer Bildung heraus, die sie sich einst angedeihen
liess und deren Reste noch immer reichten, um höfliche
Konversation ebenso zu führen wie sorgfältig Forderungen
zu stellen. Vermutlich würde sie sogar Gedichte auswendig
aufsagen können. Sie würde nicht ablassen, ihn an sein Amt
und die davon umschlossene Fürsorgepflicht für den Bürger
zu erinnern. Sein Missfallen nahm ab – zu seinem Erstaunen.
»Wie heissen Sie?«, fragte er neutral.
»Isabelle Nordheim«, antwortete sie, »und Sie?«
»Können Sie nicht lesen?«, der Mann tippte auf ein
längliches Schild aus Plaste, auf dem stand HWM Peter
Grund.
»Was heisst HWM?«, fragte Isabelle.
»Hauptwachmeister«, sagte Peter Grund, »aber wenn da
Generalmusikdirektor stünde, wäre es auch in Ordnung.
Nämlich ohne Belang.«
»Sie müssen ihn finden! Er ist nicht nur von unschätzbarem
Wert für mich. Er ist es, der die Stadt vor ihrem Untergang
bewahren wird. Nur er ist dazu berufen, auch wenn
er es vielleicht selbst noch nicht weiss! Ohne ihn könnte die
Welt untergehen!«
Woher sie das denn wisse und ob sie es nicht eine Nummer
kleiner habe? wollte der Polizist fragen. Liess es aber.
Noch schien ihm der Zeitpunkt einer Konfrontation nicht
gekommen. Dass er kommen würde, auch dessen war er
sich so sicher, wie er der Auffassung war, dass der Untergang
der Stadt und der Welt nicht nur beschlossene Sache
(von wem auch immer veranlasst, das liess sich seiner Meinung
nach nicht, vermutlich nie, punkt- und ereignisgenau
feststellen), sondern in vollem Gange war.
Aber, war sich
der solide Polizist sicher, aber auch das Untergehen braucht
seine Zeit. Mit einem atomaren Bums, mit einem plötzlichgigantischen
Riss in der Ozonschicht und dem sofortigen
Entweichen der Atemluft, mit einer gewaltigen Ursprengung
aus dem Innern des Planeten Erde, mit dem Einschlag
eines alles pulverisierenden Meteoriten – wer rechnete mit
so etwas? Dass die Stadt unterging, das war augenscheinlich
und hatte die Besucherin durchaus richtig beobachtet.
Nicht nur, dass ganze Strassenzüge leer standen und als
Nachtquartiere von Vagabunden, Banden und Flüchtlingen
genutzt wurden. Nicht nur, dass der Strom stundenlang ausfiel
und es ein Wunder war, dass die Supermärkte noch im
Überfluss Waren anboten; als gäbe es eine ordnende Riesenhand,
die von einem philosophischen Hirn geführt die
logistische Versorgung der Stadt sicherte: Gebt den Leuten
zu essen und zu trinken, vergesst das Rasierzeug nicht und
nicht die Crèmes und Parfüms für die Damen, dann werden
sie ausharren und das Allerschlimmste noch dann nicht für
möglich halten, wenn es sie längst heimsucht! Denn es laufen
die Alltäglichkeiten immer neben dem Ungeheuren einher;
ja das Ungeheure wird in seiner Nähe – alltäglich.
Nicht nur, dass vor drei Tagen der Bürgermeister im
Roten Rathaus erschossen, seine Leiche zerstückelt und an
vorher entführte Drogenhunde der Fahndung verfüttert
worden war.
Nicht nur, dass die Zeitungen sporadisch erschienen
und mit Texten versehen waren, deren Verfasser
ihre Hilflosigkeit,
ihre fehlenden Informationen und ihre
Fassungslosigkeit
hinter blumigem Geschwätz versteckten
und sich gerade dadurch als hilflos, informationslos, fassungslos
verrieten. Zu alldem kam, dass die gesamte Elite
der Stadt, Theaterintendanten, Prominente des Sports, des
Fernsehens, des Boulevards, eine Handvoll Schriftsteller und
Edelfedern, mehrere Dutzend Designer, Friseure, Bildhauer
und Pornostars, wie vom Erdboden verschluckt war.
(Wobei
das Interesse an deren Existenz schon länger erloschen war,
als sie erstens selbst wahrnahmen und zweitens: Ihr kaum
bemerktes Fehlen verwies auf den Umstand einer Wirkungsohnmacht,
die nur deshalb vor der Zeit des Untergehens
eine gewisse Faktizität behauptete, weil ihre angebliche
Wirkungsmächtigkeit in der Gesellschaft von den Medien
immer und immer wieder mit verbalen und virtuellen Hammerschlägen
in die Hirne der Bürger geschlagen wurde.)
Für Peter Grund, ein Mann, der umsichtig war und
noch dann bei Sinnen blieb, wenn ringsum Autos brannten
und Menschen, blutend und irrgeworden, durch die
Strassen hasteten und ihn beinahe umrannten, für den
HWM Grund tat der Prozess des Verkommens diesbezüglich
Gutes. Er verabscheute den Glamour, die Selbstgefälligkeit
des Reichtums und ihre Selbstdarstellung mitsamt
der verderblichen Vorbildwirkung auf Heranwachsende.
Allerdings war sein Abscheu gemildert durch die Erfahrungen
seiner Vorfahren, die in ihm genetisch Platz gefunden
hatten: Lass sie tanzen, bis sie vor Erschöpfung umfallen;
abwarten und Tee trinken; Diamanten und Gold kann man
nicht braten und nicht essen; wie der Hengst in die Stute
findet, so finden die Umstände in ihre Fassung. Das alles
weiter auszuführen, führte im Augenblick zu weit; die Frau
wollte Hilfe.
»Sie wissen, dass das Chaos herrscht«, sagte er.
»Merkt man! Obwohl ich nicht viel draussen bin. Ich
bin trotzdem ein bisschen überrascht«, antwortete Isabelle.
»So übel hatte ich es mir nicht vorgestellt.«
»Sie sind neu in der Stadt?«
»Ich bin hier geboren.« Sie zögerte, klopfte die Taschen
des Jacketts ab und fand nicht, was sie suchte. Es war ein
Herrenjackett, es war vermutlich ein Jackett des Herren, den
suchen zu lassen sie auf dem Revier erschienen war, und da
sie die Flasche nicht fand, vermutete der Polizist, dass der
Vermisste eher nicht oder wenig trank.
Jedenfalls musste
er nicht unbedingt eine Flasche auf Vorrat in jeder Tasche
seiner Kleidungsstücke bei sich haben. Eine vage, detektivische
Sicht, denn wer weiss, wie viele Jacketts der Verschollene
besass. Die Frau jedenfalls schien nicht über genügend
Garderobe zu verfügen oder in ihrer Nachlässigkeit das
nächste Textil in der Wohnung gegriffen zu haben, bevor
sie sich auf die Strasse wagte und den Weg zum Revier ging.
»Scheisse!«, sagte sie. »Ob Sie was zu trinken haben?«
Die beiden Menschen standen sich eine Weile gegenüber,
schauten sich an und schwiegen. Peter Grund hatte
kornblumenblaue Augen, Isabelles Augen waren braun
(das linke) und graugrün (das rechte).
Draussen schwoll von fernher ein Geräusch an, wurde
zum Knirschen von Stahl auf Stein, zum dröhnenden
Scheppern von Panzerketten. Zwei Dutzend der tonnenschweren
Kolosse ratterten am Polizeirevier vorbei. Der
HWM und Isabelle sahen durch die vibrierenden Fenster
der im Hochparterre liegenden Amtsstube die aufgerichteten
Schiessrohre, die aufgeklappten Luken und die in
schwarzen Helmen steckenden Köpfe von Soldaten. So reduziert
glichen die Panzer bizarren Insekten, für die noch
kein Forscher einen Namen gefunden hatte.
Isabelles Augen weiteten sich vor Schreck. Indessen bückte
sich der Polizist, gleichmütig wie es der Frau schien, und
entnahm einem hüfthohen Schränkchen eine Flasche Weinbrand
und zwei Gläser. Er hielt sie gegen das Licht, das durch
die Fenster kam und in dem der Staub tänzelte, brummte
und wischte sie mit dem Zipfel seiner Uniformbluse
sauber.
Er stellte die Gläser auf die schmale Fläche der Barriere, goss
sie halbvoll und schob ein Glas hinüber.
Noch immer war Isabelle gebannt. Das Gerassel der
Panzer war zu einem fernhin wirkenden Geräusch geworden.
Der Spuk war vorbei, aber …
»Panzer?«, flüsterte sie.
»Sie wissen sich nicht mehr anders zu helfen«, sagte
der Polizist. Er nippte an seinem Glas. Es war seiner Ansicht
nach nicht nötig, einen Toast auszubringen, nicht mal
Prösterchen! zu sagen, hielt er für angebracht. Die Frau,
wie war ihr Nachname? irgendwas mit Heim, ja Nordheim,
würde nach dem Glas greifen. Ein Reflex. Ein Automatismus.
Sie würde auch nicht Danke sagen oder wissen, was
sie trinkt.
Isabelle Nordheim nahm das Glas, roch am Inhalt, lächelte
und sagte: «Danke, Herr Hauptwachmeister. Ich
wünsche Ihnen ein langes Leben. Von ganzem Herzen
wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie, dass sie zusammen
in Harmonie und ohne Sorgen alt werden mögen.« Dann
kippte sie den Weinbrand, routiniert, und leckte von den
Lippen noch das letzte Tröpfchen.
»Sie können von mir halten, was Sie wollen«, sagte Peter
Grund, seiner Stimme den Ton einer bedächtigen Drohung
verleihend, »aber verarschen lasse ich mich von Ihnen
nicht.«
»Wer sind sie?«, fragte Isabelle.
»Ich?«
»Die. Die sich nicht mehr anders zu helfen wissen.«
Der Polizist warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Was
ist mit der Frau? Ist sie harmlos, ist sie gefährlich, spielt sie
ein Spiel mit mir? Ist sie verrückt, hat der Alkohol ihr Hirn
zerstört, ist sie einem Irrenhaus entsprungen? Dass sie ihre
Worte zu setzen wusste, besagte im Grunde nichts. Das
können Hochstapler, Politiker, Zahnärzte, Professoren
auch. Sogar Polizisten. Peter Grund waren während seiner
Laufbahn etliche Vorgesetzte über den Weg gelaufen, die
hervorragende Pastoren abgegeben hätten. Und die, seiner
Meinung nach, auch eher auf eine Kanzel als in ein Revier
gehört hätten. Oder sie hätten am Set einer Filmproduktion
bella figura gemacht: in einer Hauptrolle oder als eloquente
Selbstdarsteller könnten sie auf den Putz hauen.
Aber er sah in den Augen der Frau keinen Arg, keinen
Sarkasmus, keine Boshaftigkeit. Ihre Augen rührten ihn.
Die unmöglichen Farben, ein malerisches Durcheinander,
und dass sie gross wie Tennisbälle werden konnten, wenn
die Frau erschrak oder ratlos war. In diesem Moment verliebte
sich der Polizist beinahe; mindestens beschloss er,
ihr Vertrauen zu schenken und nicht, auch nicht aus beruflicher
Gewohnheit heraus, zuerst Übles zu erwarten, ehe
man sich ruhig aufeinander einliess. Er entschied sich, auf
ihre Fragen zu antworten und schlug, nach einem Räuspern,
einen hohen Ton an, der ihn selbst überraschte:
»Genau weiss ich es auch nicht. Ich bin ein bisschen verwirrt.
Ich bin seit 35 Jahren Polizist. Ich habe einst einen Eid
geschworen, dessen Wortlaut ich vergessen habe. Meiner
Meinung nach muss man den Wortlaut nicht im Kopf behalten,
wenn man sich nur danach richtet. Ich meine, ich habe
in der ganzen Zeit nur zweimal meine Dienstpistole benutzt.
Ich habe einmal einen Mann verprügelt, wofür ich ein Jahr
strafversetzt wurde. Das ist lange her. Das war zu einer Zeit,
als sich die meisten Polizisten noch an Recht und Gesetz
hielten. Ich kann von mir behaupten, ein redlicher Mann zu
sein. Mir ist Unordnung zuwider.
Ich verfüge über Gerechtigkeitsgefühl
und über die Besonnenheit, einen Lügner
ausreden zu lassen und einem Menschen, der die Wahrheit
spricht, zu glauben. Ich gehöre nicht zur Schicht der Gebildeten,
aber ich habe ein Gespür dafür, dass diese Schicht sehr
schnell verschwunden wäre, hätte sie nicht solche wie mich.
Die sie vor dem Ungemach des Verbrechens schützen. Vor
dem Unheil, das plötzlich und unerwartet über jeden Bürger
hereinbrechen kann. Und sei es in Gestalt einer Ehefrau,
von der ein Mann glaubt, alle Nuancen zu kennen und die
doch plötzlich mit dem Messer auf ihn einsticht. Gab's alles,
gibt's immer wieder. Also habe ich stets gedient. Der Regierung,
dem Staat. Und die schicken jetzt ihre Panzer, obwohl
ich seit vier Wochen von der Regierung nichts vernommen
habe. Es ist, als gäbe es sie nicht mehr.«
Er hielt inne. Zu diesem Schluss wäre er nicht gekommen,
hätte ihn nicht die Frau nach den Panzern gefragt.
Hätte ihn die Frau nicht nach den Panzern gefragt, hätte er
seine Arbeit bis zum heutigen Tag nicht in bruchstückhafter
Rede bilanziert. Hätte er seine Arbeit bis zum heutigen
Tag nicht bilanziert, wäre er nicht in eine gewisse Verlegenheit
geraten. Diese Isabelle, Heim? Nordheim! hatte eine
anregende Wirkung.
Und eine beunruhigende. Denn wenn es die Regierung
nicht mehr gab – wem diente er dann jetzt? War er von seinem
Diensteid, den er vergessen hatte, befreit, und was sah
das Reglement für diesen Fall vor?
Und wenn es die Regierung doch noch gab, dann wo?
Und warum war sie verstummt, oder hatte er nur nicht
gehört, was sie redete?
Nicht, dass es, seiner sehr privaten Meinung nach, unbedingt
einer Regierung bedurfte, um das Leben eines
Bürgers brav und redlich zu führen. Aber die Existenz von
etwas Höherem, etwas Lenkendem, etwas beinahe Sakralem
beruhigte und liess die Bürger, die meisten jedenfalls,
im Klaren und Sicheren: Eigenes Ungemach würde von
jenem Höheren in schieres Glück verwandelt werden; Verbrechen
würden früher oder später geahndet werden; ein
moralisches Gerüst würde aufgestellt sein, dass alles und jeden
stützend hielt und davor bewahrte, das alles und jeder
plötzlich zusammenkrachte und in die Einzelteile zerfiel.
Peter Grund dachte nicht alle diese Fragen und Überlegungen.
Aber seine Gedanken waren in die Nähe dieser Überlegungen und Fragen geraten. Dass er angefangen
hatte, in einer gewissen, alltäglichen Allerweltsweise zu
philosophieren, war ihm ein bisschen peinlich. Auch wusste
er plötzlich nicht, welche Fragen er noch stellen sollte.
Also fragte er: »Hätten Sie eine Idee, worüber ich mit Ihnen
sprechen könnte?«
»Über Amadeus natürlich«, sagte sie und schniefte. »Der
Amadeus, müssen Sie wissen, ist ein so lieber Kerl. Niemals,
hören Sie, niemals würde der einfach so verschwinden. Das
ist nicht seine Art. Er gehört nicht zu den widerlichen Kerlen,
die kein Gewissen haben und nur an sich selber denken.«
»Um so einen wäre es in der Tat nicht schade. Ähm,
ich meine, um einen, der ein Gewissen hat, wäre es schade
«, sagte der Polizist und reichte dem Fräulein Nordheim
ein Papiertaschentuch; an ihrer Nasenspitze hatte sich ein
Tröpfchen gebildet. Wenngleich mich das Leben, leider, leider,
lehrt, dass es oft die Besten sind, die untergehen, verschwinden,
vorzeitig sterben, verlassen oder irrtümlich bestraft
werden. Ein Gewissen zu haben und nicht nur an sich
selber zu denken, war geradezu gefährlich und half nicht
im Lebenskampf. Auch wenn beispielsweise die Regierung
gern an das Gewissen appellierte; wo war denn ihr Gewissen
jetzt? Wenn sie selber verschwunden war, war auch ihr
Gewissen verschwunden.
»Sag ich doch!« Sie schnaubte in das Tuch, zerknüllte es,
schaute sich um und warf es in einen Papierkorb, der neben
der Eingangstür stand. Peter Grund nickte beifällig. Diese
Frau, dem Alkohol ebenso verfallen wie der Liebe zu jenem
verschwundenen Amadeus, der Selbstvernachlässigung so
nahe wie dem Mitgefühl für den verlorenen Freund, hatte
getroffen.
»Gut«, sagte er jetzt, »ich stelle Ihnen die Fragen, die ich
stellen muss. Es gibt zudem ein Formular, das Sie bitte ausfüllen.
Sie können das zuhause tun. Sie können gern auch
hier bleiben.«
»Könnte ich noch einen bekommen?«, fragte Isabelle
Nordheim. Und war auf einmal das zehnjährige Mädchen,
das auf dem Weihnachtsmarkt vom gutmütigen Onkel eine
Zuckerwatte erbat, nachdem sie bereits einen Krapfen
spendiert bekommen hatte.
Der Beamte nickte und goss die zwei Gläser voll. Ihr
Glas stellte er auf zwei Bögen bedrucktes Papier. Die
oberste
Zeile auf dem einen Blatt lautete VERMISSTENANZEIGE.
Er schob der Frau das Formular als Tablett über
die Barriere.
2.
Der Zimmermann Amadeus Zündbrodt war an dem Morgen,als er sich von seiner Freundin Isabelle verabschiedet
hatte, nicht auf dem kürzesten Weg zur Arbeit gegangen.
Das tat er schon seit Wochen nicht mehr. Er hielt an der
Behauptung, geradewegs zur Arbeit zu gehen, fest, jedem
gegenüber, auch Isabelle gegenüber, doch es war eine Lüge.
Zwar erschien er im Laufe des Tages in dem Kollektiv, dem
er zugeteilt war, um mit den Kameraden zusammen auf den
Baustellen herumzulungern, denn ausreichende Aufbauarbeit
gab es nicht mehr und abzureissen und zu enttrümmern
hielten sie für würdeloses und sie als versierte Facharbeiter
kränkendes Tun – doch zwei, drei, vier Stunden
verbrachte er vorher in Gesellschaft der Rattenmenschen,
die im Zentralpark der Stadt ein für die meisten Menschen
noch unsichtbares Reich etabliert hatten.
Zündbrodt betrat den Park an seiner nördlichen,
schmalen Seite. Den Zugang konnte jemand, der zufällig
vorüberging, leicht übersehen.
Der breite Weg, der in den
Park führte, war zugewachsen, und nur ein schmaler, jedoch
fast mannshoher Schlitz erlaubte das Eintreten. Nach
etwa fünf Metern störrischen, dornenreichen Gestrüpps
öffnete sich der Park vor den Augen des Besuchers.
Als erstes konnte der einen Brunnen wahrnehmen, der
in den alten Stadtplänen als »Märchenbrunnen« eingetragen
war. Es war noch nicht allzu lange her, da planschten
Kinder in ihm. Die betonierten Märchenfiguren, Aschenputtel,
Hänsel und Gretel, Hans im Glück, Schneewittchen
und die sieben Zwerge, der gestiefelte Kater schauten dem
kindlichen Treiben im kniehohen Wasser steinern und
wohlwollend zu.
Auf ihren Gesichtern das haltbare Lächeln
der Unwirklichkeit, aus der sie stammten und für die
sie in Ewigkeit stehen würden. Doch statt des klaren und
beinahe trinkbaren Nass' von einst, schwappte eine brackige,
nach faulendem Obst und verwesenden Kleintierkadavern
stinkende Brühe im Brunnen, der von oben gesehen
die Gestalt einer Sonnenblume hatte. Laub schwamm träge
herum. Leere Zigarettenschachteln, gebrauchte Kondome,
zurückgelassenes Spielzeug aus Gummi und Plastik ergänzten
das Dekor der Vernachlässigung, der Verwahrlosung.
Zündbrodt lief auf dem von Moos und Flechten gepflasterten
Weg in die Tiefe des Parks. Linkerhand erhoben sich
die vornehmen, halbrunden Kolonnaden, die in ihrem noch
erkennbaren Neobarock und mit den marmornen Skulpturen
jagdbarer Tiere auf dem Scheitel protzten. Wer genauer
hinsah, konnte die Löcher von Einschüssen entdecken, die
nicht aus jenem Krieg stammten, der 1945 in die Hauptstadt
des Deutschen Reiches heimgekehrt war, sondern aus
jenen Schlachten, die erst seit sechs, sieben Wochen vergangen
waren und zwischendurch immer wieder aufflammten.
Schlachten, von denen noch immer niemand genau zu sagen
wüsste, wer zettelte sie an, wer kämpfte gegen wen und
zu welchem Behuf?
Die üblichen Erklärungsmuster, hier die
Guten, da die Bösen, hier eine Revolution, da ein Terrorismus,
passten offenbar nicht; nur verständlich, dass viele das
Weite gesucht hatten, am ehesten diejenigen, die über die
Reisemittel, Freunde oder Quartiere im Ausland verfügten.
Es mussten Kämpfe stattgefunden haben, die hier auf eine
eindeutige Weise abgeschlossen waren: Der gesamte Park
machte den Eindruck eines Territoriums, das die kämpfenden
Parteien augenscheinlich vergessen hatten. Ein exterritoriales
Gebiet, an dem niemand ein Interesse hatte.
Die Kämpfer hatten sich zurückgezogen und den Park
sich selbst überlassen. Er schien in ihren strategischen
Planungen keine Rolle zu spielen. Eine erstaunliche Fehlleistung
der Strategen, wie sie immer wieder selbst in perfektester
Organisation vorkommt. Übersehen, abgehakt,
abgelegt in einem imaginären Schrank, der alles aufnimmt,
was scheinbar nicht gebraucht und – in der Folge vergessen
wird. Denn der Park war genau das nicht, was sein Name
behauptete: Er lag nicht zentral, sondern am Rand dessen,
was Zentrum genannt wurde.
Das Zentrum wiederum war
eines von vieren, die sich über die Stadt verteilten. Diese bizarre
Streuung der Konzentration mochte der Grund dafür
sein, dass der Zentralpark ins Abseits geraten war.
Tatsächlich fanden die sporadischen Brandschatzungen,
Scharmützel, Jagden, Misshandlungen jenseits der Grünanlagen
statt. Dennoch hätte der Park von irgendeiner der
kämpfenden Parteien in Anspruch genommen werden
müssen, weil ein aus dem Park herausragender Hügel einen
weiten Blick über die Stadt gestattete.
Niemand, so schien es, hatte ein Interesse an Übersicht.
Eindeutig ein Fehler derjenigen, die sich belauerten und
bekämpften, und die in einen Zustand des kleingeistigen
Fanatismus geraten waren: in dem jeder in jedem einen
Feind und den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Das
Grosse und Ganze geht im Rasenden unter. Das Rasende
wird das Grosse und Ganze.
Der Weg stieg allmählich an. Die Wiesen, links und
rechts der Strecke waren von schnell wachsenden Büschen
und Bäumen zu einem Dickicht geworden, aus dem zehn
Meter hoher Goldregen herausragte. Der bildete eine fast
undurchdringliche Hecke, und die herab gefallenen Blüten
hatten auch dort eine Schwelle gebildet, wo ein schmaler,
mannshoher Spalt war. Halb in ihm, halb draussen auf dem
Weg stand ein Wesen, das ein Sturmgewehr gegen Zündbrodts
Brust stemmte.
»Parole?«, verlangte das Wesen mit einem Zischen nach
dem Fragezeichen.
»Leck mich«, sagte Amadeus Zündbrodt und gab damit
zu erkennen, dass für ihn die Rituale der Wachsamkeit
nicht galten oder lächerlich und ganz und gar idiotisch waren.
Wahrscheinlich beides: ungültig und idiotisch. Ausserdem,
seine an Dreistigkeit grenzende Selbstsicherheit gab
dieses Signal, ging er hier ein und aus: durch diese Hecke,
an dem Posten vorbei.
»Isch weisch, wer du bischt. Jeder von unsch weisch, wer
du bischt. Aber trotschdem könntescht du düsch an die
Regeln halten. Wenigschtensch zum Schpasch. Wenigschtensch
manschmal.«
»Okay«, erwiderte Zündbrodt, »manchmal werde ich
das tun. Aber manchmal ist nicht heute.«
»Heute isch heute. Auch wenn isch nischt weisch, wasch
dasch bedeutet.«
»Ich erkläre es dir. Später.«
»Auch schpäter ischt für müsch schwer zu verschtehen.«
»Ihr habt ein Problem mit der Zeit. Weiss ich doch«, sagte
Amadeus. »Ihr seid eben auch nicht perfekt.«
»Perfekter alsch ihr Menschen schschon.«
»Knallkörper«, sagte Amadeus.
»Rischtisch«, sagte der Rattenmensch, »warum nischt
gleisch scho!« Und er trat beiseite und liess Zündbrodt auf
das Gelände, das hinter der Ecke sofort in einen Berg führte.
Zündbrodts Mimik hatte sich binnen Sekunden gewandelt.
Noch als er den Park betrat, lag auf seinem Gesicht die
unauffällig-konzentrierte Miene eines Mannes, der nicht
mehr so jung war, dass das Leben vor ihm nur eine Spielwiese
war, dem aber noch nicht die Falten und Flecken
enormer Schicksalsfügungen die Haut verwüstet hatten.
Den schmalen Kopf auf einem muskulösen, knitterfreien
Hals hielt er sich aufrecht. Der Schritt war rasch, zielbewusst.
Amadeus Zündbrodt wirkte alles in allem wie ein
Mann, der von einer Alltagsverrichtung zur nächsten ging,
ohne zu säumen, und mit der kräftigen, ruhigen Anmut des
Handwerkers, der wusste, was zu tun sein würde, handelte.
Einen solchen Burschen würde niemand des Leichtsinns
verdächtigen. Dem würde man vorübergehend die Gattin,
die eigenen Kinder und leihweise auch einiges Geld anvertrauen.
Die Stirn nicht zu hoch, ein paar brünette Locken
hingen bis fast auf die Augenbrauen, die sich über grünlichen
Augen wölbten – eher zeigte sich ein schlichtes, aber
zuverlässiges Gemüt denn ein provokant-irrlichternder
Geist im Ausdruck seines Gesichtes wie im gesamten Habitus.
Wie aber jetzt! Welche Straffung, welcher Anflug von
Herrschaftlichkeit! Schon im Geplänkel mit dem rattenartigen
Posten zeigte sich ein anderer Zündbrodt. Als wäre
die Larve der Unauffälligkeit von ihm abgefallen und hätte
ein Lebewesen freigegeben, das von Schritt zu Schritt zu
wachsen und von einer Aureole umgeben zu sein schien.
Der Zimmermann gewann an Charisma, wurde zum
Kommandeur, zu einem Führer, zu einer Persönlichkeit,
die ohne Gefolgschaft nicht denkbar war. Wenngleich diese
nicht zu sehen, aber bereits zu hören war: Rechts und links
des Ganges, durch den der jetzt beinahe riesenhaft wirkende
Mann schritt, ertönte ein Pfeifen und Zischen, das
Respekt und Dienstbereitschaft und Liebe verriet. Nahm
Amadeus an.
*
Dieser Bericht, der von noch nicht allzu lange zurückliegenden
Ereignissen handelt, muss an dieser Stelle angehalten
werden. Uns ist jede romantische Sicht auf Dinge, Geschehnisse,
ja auf die Geschichte ein Gräuel. Mit Begriffen
wie »Führer«, »Gefolgschaft«, »Charisma«, selbst mit dem
Begriff der »Persönlichkeit« wollen wir kein Schindluder
treiben. Auch Wörter wie »Respekt«, »Dienstbereitschaft«
und »Liebe« lassen uns bedenklich die Stirnen runzeln und
uns fragen, ob es sich hierbei nicht um ein Wortmaterial
handelt, das, wenn nicht abgeschafft, so doch in Kammern
geschlossen gehört, zu denen nur wenige, verantwortungsvolle
Geister den Schlüssel bewahren dürfen.
Bis jetzt (wie im Folgenden auch) legen wir Wert darauf,
eine weitgehend protokollarische, moralische Beurteilungen
vermeidende Berichterstattung beizubehalten. Unseres
Erachtens ist niemandem damit gedient, das Geschehene
zu verurteilen oder schwärmerisch in ein Licht zu setzen,
das mehr verhüllt als erhellt. Wir wissen, dass nicht ein Bericht
von einer Katastrophe die Menschen daran hinderte,
der nächsten Katastrophe entgegenzutaumeln, entgegenzuschäumen,
entgegenzuwirbeln.
Seit dem Untergang des
sagenhaften Atlantis', seit der Sintflut, von der es etliche
verteilt über den Planeten Erde gegeben haben muss, seit
den alt- und neuzeitlichen Kriegen bis hin zu den entsetzlichen
Natur- und Menschenübergriffen der Jetztzeit – es hat
niemals ein gesamtmenschheitliches Besinnen und Innehalten
gegeben.
Niemals! Und ob es das geben wird, daran
zweifeln wir, wenngleich wir nicht diejenigen entmutigen
wollen, die es versuchen, Fontänchen gleich, mit verzweifeltem
Mute und mit der Kraft angesammelten Wissens um
den Irrsinn der Welt, aus dem Schlamm auf dem Grunde
des Vergangenheitsbrunnens aufzusprudeln.
Die Reinen, die Klaren, die Wissenden – sie werden den
Brunnen nicht säubern.
Sie werden ihm nicht mal entkommen.
Und sie werden sich ebenso wenig zu einem See der
heiteren Vernunft zusammensammeln wie es den Milliarden
Litern menschlicher Leid- und Kummertränen nicht
gelingt, auch nur eine Pfütze des Mitleids zu bilden, in der
jeder weitere Kummer und jedes nächste Leid ersäuft werden
könnte: im Namen einer Solidarität, im Namen des
Verzichts auf das Böse in und um uns. – Wir gestehen, im
Momente geht mal wieder jener unausrottbare Teil Irrationalität
mit uns durch; und wir malen uns Bilder, die weder
an einer Wand zu haften noch Klarheit in Gewesenes,
Jetziges und Zukünftiges zu bringen vermögen; wobei es
ohnehin ein unlogisches Unterfangen ist, überhaupt etwas
Treffendes über Zukünftiges zu sagen.
Denn erstens
kommt es anders und zweitens als man denkt, wie es in einem
Schlager des 20. Jahrhunderts hiess, wie es aber auch
ein grossmächtiger Schriftsteller wie Thomas Mann in seinen
heiteren Roman »Joseph und seine Brüder« einschrieb.
Wir wollen zum Bericht zurückkehren.
Wir können
nicht ausschliessen, uns gelegentlich zu Worte zu melden,
wollen uns aber mit Wertungen und Altklugheiten der
Überlebenden zurückhalten und nicht nachträglich in
vergangene Verläufe eingreifen. Was in der Phantasie immerhin
möglich wäre und sogar zu rückgreifend wirkenden
Richtungsänderungen führen könnte. Aber nur in der
Phantasie, und was sollte da solcher Schabernack, wenn
sich die fortgeschrittene Realität dem Eingriff der Phantasie
ohnehin verweigert?



