Roman von Eckhard Mieder Die im Regenbogen wohnten (Teil 2)

Prosa

Vera hörte nicht, dass die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde. Sie lag auf dem Bett, hatte die Augen geschlossen und schwamm in den Songs, die ihr vom Kassettengerät über die Kopfhörer in die Ohren gespült wurden.

Ernst-Thälmann-Schule in Leuna, Sachsen, Dezember 1980.
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Ernst-Thälmann-Schule in Leuna, Sachsen, Dezember 1980. Foto: Dietmar Rabich-Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0 cropped)

7. Juli 2022
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Korrektur

Freitag, 8. September 1989

Es waren Songs in englischer Sprache. Vera mochte weder den einheimischen Pop noch die einheimische Rockmusik. Es konnte ja sein, wie manche sagten, dass die deutschen Texte gehaltvoller waren, raffinierter, anspruchsvoller – doch Vera mochte das Pathos, das in den meisten deutschen Liedern mitschwang, nicht. Sie brauchte nicht die Arrangements ganzer Orchester, und schon gar nicht stand ihr der Sinn nach Texten, die nach dem Sinn des Lebens suchten, vor dem Untergang der Welt warnten oder irgendwie verschlüsselt kritisierten. Wieso musste jemand über sieben Brücken gehen? Wieso musste man sieben Mal die Asche sein, um einmal der helle Schein zu sein? War es nicht makaber, siebenmal verbrannt zu werden? Und Asche war Asche. (Für irgendwas mussten die Nächte auf dem Friedhof, für irgendeine Erkenntnis musste die Verkleidung als gothic girl doch gut sein, sagte sich Vera.) „She loves you, yeah, yeah, yeah“ schoss noch nach den fünfundzwanzig Jahren seiner Existenz heftiger ins Blut als „König der Welt ist ein Herz, das liebt“. (Wieso König? Wieso nicht Königin? fragte sich Vera. Das Herz, immerhin, war ein Neutrum.)

Victoria Lothringen stand einen Augenblick im Zimmer der Tochter, ehe sie sich vor dem Bett niederkniete und Vera sacht an den Schultern rüttelte. Das Mädchen öffnete die Augen, wendete den Kopf auf dem Kissen und lächelte ihre Mutter an. Die gestikulierte, ob sie die Musik kurz abstellen könnte. Vera verdrehte die Augen und nahm die Hörer ab. Guns N' Roses waren laut genug, dass sie auch zu hören waren, wenn sie um den Hals lagen.

„Ich geh dann mal“, sagte Victoria Lothringen. „Rufst du bitte deinen Vater an, falls ich bis morgen früh nicht zurück bin. Ich hab dir auch noch die Nummer eines Rechtsanwaltes aufgeschrieben – er weiss, was zu tun ist, falls ich nicht zurückkomme.“
„Mutter!“, sagte Vera energisch. „Was soll der Blödsinn. Nicht zurückkommen! Nicht zurückkommen! Warum solltest du nicht zurückkommen?“ Das Herz schlug ihr zum Halse. Diese Theatralik immer! Seit Wochen ging das so!

Andererseits wäre es möglich, dass ihre Mutter verhaftet werden würde. Die Polizei würde sie eine Nacht dabehalten, dann würde man sie nach Hause schicken. Victoria Lothringen war keine Frau, die vorhatte, ein Attentat zu verüben oder den Antifaschistischen Schutzwall mit dem Kopf einzurennen.

Vera spürte Angst und – Wut. Die Vorstellung, es könnte der Mutter doch etwas passieren, stippte sie in eine Gefühlssuppe. Wie konnte eine Mutter sich einer Gefahr aussetzen, deren Folgen auch die Tochter treffen würde? Und wofür das Ganze?

„Wofür das Ganze?“, fragte Vera.

„Das weisst du“, entgegnete die Mutter.

„Ja, das weiss ich! Weil ihr plötzlich entdeckt habt, dass der Staat Scheisse ist. Weil ihr plötzlich meint, die SED sei Scheisse. Weil ihr euch zusammengefunden habt und euch gegenseitig versichert, was ihr für tolle Rebellen seid! Mutige Helden für Freiheit und Demokratie!“ (Wie ihr Puls raste! Zu wild, zu bang ists ringsum – von wegen, Hölderlin, in mir drin wankt und trümmert es!)

„Sie haben uns belogen, Vera. Sie lügen noch immer. Und sie werden immer weiter lügen, wenn wir nicht sagen: Schluss damit.“ Vera wusste, wovon die Mutter sprach. Sie hatten oft darüber geredet. Im Mai hatte es im Land Wahlen gegeben, deren Ergebnisse gefälscht worden waren. Die Regierung hatte verkündet, dass – wieder mal, wie immer – 99 Komma nochwas Prozent der Wahlberechtigten für die Kandidaten der Nationalen Front, andere gab es nicht, und für ihren politischen Kurs gestimmt hatten. Dann war der Juni gekommen, in Peking hatte die chinesische Armee auf dem Platz des Himmlischen Friedens protestierende Studenten mit Panzern und Gewehren niedergemacht. Tausende sollen gestorben sein, meldeten die Medien des Westens, obwohl es keine genauen Zahlen gab. Und dann hatten die Sommerferien begonnen. Allein an einem Tag, am 19. August, das war keine drei Wochen her, hatten sich 800 DDR-Bürger über die Grenze nach Österreich davongemacht. Das alles zusammen bildete ein Gemenge, das waberte und zischte und dampfte, und es bildete diesen bizarren Dunst, der über den Tagen lag.

Das Bedrohlichste war: Niemand konnte wissen, wie die DDR-Regierung und ihre Exekutivorgane darauf reagierten. Jeder, fast jeder wusste, dass sie die Fakten verschwiegen, verdrehten, dass sie logen und damit fortfuhren, das eigene Volk hinters Licht zu führen. Der Krug geht solange zu Wasser, bis er bricht; es gibt immer einen letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt; du darfst dich nicht wundern, wenn der Ast, auf dem du sitzt und an dem du sägst, bricht, und du fällst in die Wiese auf die Schnauze.

Also hatten sich Bürger gefunden, erst in kleinen Gruppen, dann in Versammlungen, die immer zahlreicher, immer mutiger wurden, weil sie es satt hatten. Das Belogenwerden. Weil sie darunter litten, dass die Schere zwischen den offiziellen Behauptungen und der Leute-Wirklichkeit immer weiter auseinander ging. Und die sich da zusammenfanden, waren solche wie Veras Mutter. Sie wollte nicht den Sozialismus abschaffen. Sie wollte auch nicht in den Kapitalismus. Sie wollte über ihr Leben bestimmen, über ihre Pläne, über ihre Zukunft und war mündig genug, es nicht anderen zu überlassen. Es musste geklärt werden, wer hier Fass, Krug, Ast, Wasser, Säge war.

Das alles verstand Vera, das alles wusste sie. Sie hielt aber auch für möglich, dass ihre Mutter zur Hysterie neigte, und wer weiss schon, welche Motive die Protestler sonst hatten. Konnte nicht auch Doktor Erwin Lautengässer immerhin ein bisschen Recht haben? Wenn er sagte, den wenigen, die flüchten, weinen wir keine Tränen nach? Es handelte sich bei denen um Flüchtlinge, die von der Buntheit des Westens verblendet seien? Sie würden schon erleben, in welche Bedrängnis sie gerieten. Die Politiker des Westens würden sie natürlich zuerst bejubeln. Aber dann, wenn es darum ging, Arbeit zu finden, ein bezahlbares Dach über dem Kopf, Schulausbildung für die Kinder. Es gäbe doch unbestritten Vorzüge des Sozialismus, auch wenn der nicht vollkommen sei. Aber daran würden alle ehrbaren Menschen arbeiten. Und es sei schliesslich so, dass der Sozialismus weltweit sehr jung sei und viele Fehler gemacht habe und vielleicht auch noch machte –, aber der Kapitalismus sei wie ein raffiniertes Raubtier, das seit Jahrhunderten zu jagen versteht und keine Gnade kennt auf seiner Jagd nach Beute.

Das alles war eine Gedanken-und-Gefühle-Suppe; das alles war ein Wirrwarr in ihrem Kopf. Das Beste würde sein, sich selbst ein Bild zu machen, dachte Vera plötzlich, das schaue ich mir mal an.

„Okay“, sagte das Mädchen und richtete sich auf, schwenkte ihre Beine aus dem Bett und stand auf. „Dann komme ich mit.“

Sie zog sich Jeans und Pullover an und nahm aus dem Schrank eine wetterfeste Jacke. Konnte ja nicht schaden, wenn sie dann in den Knast kam und in einer kalten, feuchten Zelle den Rest ihres Lebens verbringen müsste.

Die Mutter stand daneben. Neben sich, neben ihrer Tochter. Und Victoria Lothringen kriegte den Mund nicht zu.

„Aber“, versuchte sie einzuwenden.

„Aber, aber, aber Rhabarber Gelaber“, sagte Vera.

„Im Ernst.“ Die Mutter hatte sich gefasst. „Was soll es bringen, wenn wir beide in Gefahr geraten?“

„Dann muss sich eben der liebe Dominik um zwei Weiber kümmern, die im Gefängnis verfaulen! Um die Frau, die ihn verstossen hat, und um seine Tochter, die er sowieso nur alle drei Wochen sieht. Ich meine den Typen, den du rausgeschmissen hast.“

Wie raffiniert! Vera wusste genau, wie sehr der Rausschmiss des Vaters die Rausschmeisserin schmerzte. Volltreffer: Victoria Lothringens Stimme kletterte in die Höhe, als sie sich empörte. „Ich habe deinen Vater nicht rausgeschmissen! Er ist fremdgegangen! Immer und immer wieder! Als ich das zum ersten Mal bemerkte, habe ich es noch ertragen. Weil ich diese Familie nicht … Ach, Vera! Glaubst du, du würdest es aushalten, immer und immer wieder belogen zu werden?“

Niemals. Aber ganz bestimmt nicht. Ich würde den Kerl schon beim ersten Mal in die Wüste schicken. Aber es tat weh, den Vater zu verlieren. Es tat auch weh, die Mutter leiden zu sehen. Und es kam Vera sogar manchmal so vor, als würde ihre Mutter mit ihrem politischen Engagement auch deshalb übertreiben, weil sie den Schmerz vergessen wollte, den der Mann ihr zugefügt hatte. Vielleicht war das überhaupt die Begründung für ihre Umtriebigkeit. Dass sie die Leere füllen wollte, die sie empfand. Andererseits war sie wirklich aufrichtig empört über das Gelüge und Geschiebe im Staat.

Du bist mir eine tolle Psychologin, dachte Vera über sich selbst, das ist bestimmt alles Quatsch mit Sauce, Hühnerbrühe ohne Huhn.

„Nein“, antwortete Vera auf die Frage. „Ich würde ihn gleich beim ersten Mal zum Teufel schicken. Aber – er ist mein Vater. Gehen wir?“
„Einen Moment noch. Ich möchte mit dir darüber reden.“ Vera verdrehte die Augen. Aber der Mutter jetzt nicht zuhören - das würde Krieg zwischen ihnen bedeuten. Kalten Krieg. Tagelanges Schweigen, tagelanges Aus-dem-Weg-Gehen. Auch Belauern. Wer zuerst nachgibt, hat verloren.

Die beiden Frauen verliessen Veras Zimmer und setzten sich in der Küche an den Tisch, auf dem noch die Reste des Frühstücks standen. Vom kalten Kaffee goss sich Victoria eine Tasse halbvoll, bevor sie losklagte.

Wie oft hatte die Mutter ihr das schon erzählt! Wie ihr Mann als Kameramann beim Staatlichen Fernsehen der DDR viel herumkam und dabei selten Nein sagte, wenn es zwischen ihm und einer Frau funkte. Wie er, dessen blonde Mähne Vera geerbt hatte, als stattliches und selbstsicheres Wesen die Frauen verzaubern konnte. Wie er ein Tagebuch führte und einen Kalender, in dem die Namen und Adressen der Frauen standen, die er besuchte, wenn er in ihrer Nähe war. Karl-Marx-Stadt, Parchim, Magdeburg, Bautzen, Sassnitz …

Die Städte lagen weit verteilt in diesem kleinen Land, und sie lagen nahe genug beieinander, dass der Genosse Kameramann kurze Wege zu seinen ausserehelichen Abstechern hatte. Und wenn Victoria nicht eines Tages zufällig auf den Kalender gestossen wäre, ein winziges, in schwarzes Leder gebundenes Bändchen, das sie selbst ihm mal zu Weihnachten geschenkt hatte, dann wäre der Dominik wahrscheinlich noch daheim und zugleich noch immer ein Reisender im Betthüpfen..

Das Schärfste daran war, fand Vera, dass der Vater Mitglied der SED war! Jener Partei, die für den Kuddelmuddel der letzten Monate und Jahre verantwortlich war! Wenn man so wollte, rechnete Vera, war auch ihr Vater dafür verantwortlich, dass sich die Mutter und jetzt auch sie in eine Gefahr begaben. Das war, betrachtete man die Dinge in diesem Licht, eine ziemliche Gemeinheit: durch die Gegend vögeln, Genosse sein und den eigenen Staat den Bach runtergehen lassen, und noch dazu ein Land fotografieren, so schön die Heimat, so problemlos und wunderbar! Das war – heftig-deftig, mein lieber Scholli!

„ ...Tiefer“, beendete die Mutter jetzt ihr Reden, „tiefer bin ich noch von keinem Mann verletzt worden. Und wenn er jetzt durch die Tür käme, mit seinen blauen Augen und seinen breiten Schultern und seinem Lächeln – ich würde ihm in die Eier treten!“
„Oooooch!“, machte Vera; ein kurzes Kicksen, das kein Kichern werden wollte.

„Entschuldigung“, sagte Victoria. Sie hob die Schultern, wirkte ein bisschen wie ein Mädchen, dass das erste Mal Scheisse! und Ficken! gesagt hatte, und lächelte verlegen. „Ist doch wahr!“

Vera schob ihre Hände über den Tisch, die Handflächen nach oben. Victoria legte ihre Hände hinein. Vera drückte fest zu und sagte: „Du bist meine liebste Mama.“
„Du bist mein Ein und Alles“, erwiderte die Mutter. „Wenn ich dich verlieren würde ...“
„Mama!“ Ging's nicht noch dramatischer? Verlieren, verlieren, verlieren! Bin ich ein Handschuh, ein Portemonnaie, ein Schlüsselbund? „Wo leben wir denn!“, protestierte Vera.

„Ja, wo leben wir denn?“, fragte die Mutter leise.

*

Sie waren nicht die ersten an diesem Abend in der geräumigen Altbau-Wohnung des Theater-Dramaturgen Friedhelm Münch. Sie würden auch nicht die letzten sein. Victoria kannte einige der Anwesenden und umarmt sie zur Begrüssung. Andere wurden ihr vorgestellt, und sie stellte sich vor.

Vera hielt Abstand. Vera nickte, wenn sie als Tochter der Victoria Lothringen vorgeschoben wurde. Und sie lächelte knapp und kühl. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, als sei sie leidenschaftlich bei der Sache. Bei welcher Sache? Bei dieser Sache, die sie noch nicht einzuschätzen konnte.

Das Gewusel kam Vera vor wie eine Party, die noch nicht begonnen hatte, wie eine Fete, über deren Gelingen die Erwartung hing wie eine unsichtbare vibrierende Zeltplane. Hier wurde noch gewartet.

„Kannst du mir helfen?“, fragte sie ein Mann, der plötzlich neben Vera stand. Er war kleiner als sie, zierlich, mit riesigen schwarzen Augen im Gesicht, auf dessen ebenmässig bleicher Haut der bläuliche Schatten einer Rasur lag. Er hatte eine Schürze ungebunden und hielt in einer Hand ein Schälmesser, in der anderen Hand ein Bund Mohrrüben. „Pardon“, sagte er dann. „Wir kennen uns nicht. Mein Name ist Friedhelm Münch. Ich bin der Gastgeber.“ Drei kurze Sätze, drei Informationen, gesprochen mit der Stimme eines Mannes, der hinter der Sanftheit seines Gesichtes und seiner Sätze etwas verbarg. Etwas Klares, Hartes, Sicheres?

„Vera. Lothringen.“
„Die Tochter von Victoria? Man sieht's. Beide von hellenischer Schönheit.“
„Ich weiss zwar nicht, was hellenische Schönheit ist. Aber dass meine Mutter und ich uns ähnlich sehen, das sehen nicht viele.“
„Es ist mein Talent, das zu sehen, was andere nicht sehen“, warf sich Münch in die Brust. Spielerisch, ein Schauspieler, oder?.

„Das mag sein“, erwiderte Vera. „Aber es ist mein Talent zu sehen, dass die Arbeit gemacht werden muss. Geben Sie mir das Messer und die Möhren, ich schäle sie.“

Der Dramaturg seufzte theatralisch, streckte ihr Möhre und Messer entgegen, schloss die Augen und jubelte: „Genau das habe ich gesehen, als ich dich sah! Du möchtest Mohrrüben schälen! Während ich … Hat Homer seinen Fisch selbst gegrillt? Oder hatte er nicht wenigstens einen Sklaven bei sich, der das Feuer schürte und bewachte? Hat Shakespeare jemals eine Stulle geschmiert? Oder hatte er nicht wenigstens eine Köchin bei sich, die mit der Butter und mit der Wurst umzugehen wusste? Vom Brecht, ja vom Brecht weiss man, dass er stets Frauen hatte, die für ihn sorgten. Die haben sogar Zigarren für ihn geraucht. Oder mindestens die Spitzen abgebissen ...“
„Scher dich, Frieder!“, sagte jetzt eine Frau, die nicht zu ihnen getreten war, sondern vor ihnen auftrat. Die Küche eine Bühne, Friedhelm eine Figur, die Frau eine Figur, und Vera das gaffende Publikum.

„Sind noch alle deine Finger dran?“, fragte die Frau. Friedhelm Münch hielt seine Hände vor die Augen, zählte im Geiste die Finger durch und seufzte erleichtert auf. Alles dran. „Scher dich, Frieder!“, wiederholte die Frau. Und Friedhelm zog davon, indem er die Schürze abwarf wie ein König seinen Hermelinmantel, weil er zum Abtreten gezwungen wurde; und er war offensichtlich froh, in die Gespräche der Gäste in den Zimmern einzutauchen und der Fron der Küchenarbeit zu entkommen. Ausserdem klingelte es wieder mal an der Wohnungstür. „Lass doch die Tür gleich auf!“, rief die Frau ihm nach. „Dann musst du nicht immerzu laufen!“

Im Weggehen sagte Friedhelm Münch:„Damit die Herren von der Staatssicherheit nicht mal ihre Ausweise zeigen müssen? Ich denke nicht daran!“ Er blies die Wangen auf und spielte einen Helden. „Ein bisschen Noblesse muss sein! Contenance und Noblesse, mit diesen bürgerlichen Tugenden tun sich die Genossen schwer, meine Liebe!“ Und schwebte davon.

„Das sind dir Revolutionäre“, sagte die Frau und lachte. „Wenn die die Guillotine bedienen müssten, würden sie statt des Kopfes des Feindes ihre eigenen Hände abschneiden! Und wie würden sie dann ihre Pamphlete schreiben? Ihre Aufrufe ans Volk? O, entschuldige, ich bin die Gattin des eben Entschwundenen. Doris Kalaver.“

Als wüsste nicht beinahe jeder im Land, wer Doris Kalaver war. Eine grossartige Schauspielerin, die zuletzt in einem dreiteiligen Fernsehfilm eine Mätresse August des Starken gespielt hatte. Und vorher Dutzende andere Rollen in Filmen, am Theater, weiss der Kuckuck wo noch alles. Doris Kalaver war bekannt wie e bunte Hündin.

„Ich bin Vera.“
„Vera, die Wahre!“, sagte die Diva. „Schöner Name. Ziemlich verpflichtend. Leuchtend. Was man von Kalaver nicht unbedingt sagen kann.“ Wieder lachte sie, und dann machten sich die beiden über die Mohrrüben, das kalte Fleisch, die Zwiebeln her, um einige Speiseplatten für die Gäste herzurichten.

Nach und nach füllte sich die Wohnung. Sie lag im zweiten Stock, im Hinterhof eines Treptower Gebäudes aus der Gründerzeit Ende des 19. Jahrhunderts. Münch und Kalaver hatten zwei Wohnungen zusammengelegt und so ausgebaut, dass sich viele Leute entweder zusammenfinden oder zurückziehen konnten. Vermutlich war das nötig. Wenn Doris Kalaver ihre Rollen einstudierte, dann würde sie Platz brauchen, zum Schreiten, zum Sprechen, zum Schreien und zum Flüstern. Und ihr Mann brauchte seine Ruhe, zum Lesen, zum Nachdenken, zum Schreiben. Ungefähr so stellte sich Vera das Leben der beiden vor.

Die meisten Besucher waren zwischen dreissig und fünfzig Jahre alt. Sie kannten einander, begrüssten sich, und wer als Neuling dazukam, wurde aufgenommen und mit kurzen, höflichen Fragen bedacht. Woher man komme, was man treibe, so was. Sie begegneten sich mit der kultivierten Zurückhaltung von Menschen, die das Wissen und das Können anderer respektieren und um ihr eigenes Können wissen. Sie versammelten sich nun schon seit mehreren Wochen, immer freitags, um Informationen auszutauschen, die Lage im Lande zu erörtern und um überhaupt einen Durchblick zu bekommen. Die meisten von ihnen waren Spezialisten und kannten sich auf ihrem jeweiligen Gebiet gut aus. Physiker, Maler, Schauspieler, Ingenieure – doch wie die Politik im Ganzen funktionierte, in welcher tatsächlichen Situation die Wirtschaft sich befand, was die Leute im Land dachten –, um sich davon ein Bild zu machen, brauchte es den Zusammenfluss vieler Informationen aus unterschiedlichen Bereichen. Denn Wissen ist Macht. Das war ein Satz, den jeder in der Wohnung des Theatermannes Münch kannte und unterschreiben würde. Obwohl sie auch das Gegenteil kannten, dass die Wissenden nicht immer die Mächtigen waren oder die Mächtigen nicht immer die Wissenden. Sie lachten viel über die Inkompetenz von Verantwortlichen: ihrer Vorgesetzten, der Vorgesetzten der Vorgesetzten, die an Fäden hingen, dir irgendwo hinter den Fassaden der Regierungsgebäude ihren Anfang nahmen; ihr Lachen war unfroh und grimmig.

Verschlungene Gedankenwege, labyrinthisches Denkgelände.

Vera interessierte sich dafür nicht. Sie sorgte sich, die Häppchen und die Getränke für die Gäste fertig zu machen und sie in die Stube zu tragen, wo sie mit grossem Hallo und mit grossem Appetit empfangen wurden, die Schnittchen und das Mädchen.

Als Vera einer Frau ein Glas Wein nachgoss, fiel ihr Blick auf einen Mann, den sie kannte. Vor Schreck hielt sie die Flasche solange schräg, bis der Wein überlief. Wie kam Kotte hierher? Sah sie (in echt) ihren Deutschlehrer in diesem Kreis? Hier, wo diese schwätzenden Piraten tagten, die statt eines Munitionsgurtes randlose Brillen und statt Camouflage-Hosen gebügelte Jeans trugen?

Am liebsten hätte sie kehrt gemacht und wäre davon gerannt, aber da hatte er sie schon erblickt und die Hand zum Gruss erhoben. Und neben ihm sass – gab es eine Steigerung zu unfassbar? – die Mathematik- und Physiklehrerin Christa Schaffner. Dass die beiden eine Affäre hatten, das munkelten die oberen Jahrgänge in der Schule sowieso. Dass sie beide zu illegalen Treffs gingen, das war eine Bombe. Aber es war auch eine Bombe, dass Vera hier war.

Während Vera mit der Hand winkte, überlegte sie, ob sie zu Schaffner und Kotte gehen sollte. Komische Situation, fand sie. Was sollte sie denen sagen, was sollten die ihr sagen? Hallo, auch hier, die Revolution üben und gegebenenfalls gemeinsam in einem Lastkraftwagen der Polizei in die Keibelstrasse zum Präsidium gefahren werden? Wo es Zellen gab für solche, die entweder gegen den Staat protestierten, ihre Räusche ausschlafen sollten oder gerade beim Klau von Pfeffis erwischt worden waren?

Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Ein Mann stürzte in die Wohnung. Mit wehendem, rotem Schal, einen Mantel hinter sich herschleifend, und wild abstehendem Haar auf seinem Schädel glich er einem Mann auf der Flucht. Allerdings waren das Tuch seines Anzugs, seines Schals und seines Mantels teuer und gut geschnitten. Er rollte mit den Augen, schnaufte, als er in der Mitte des Raumes ankam und sein Publikum hatte. Es war, wie Vera später erfuhr, der Regisseur Konrad Grau. Von dem hatte sie noch nie etwas gesehen oder gehört, aber für die Leute, die verstummt waren und ihn anschauten, schien er eine bekannte Person zu sein.

Grau sammelte sich und stiess dann hervor, dass die Stasi hinter ihm her sei. Er sei vor wenigen Stunden noch in einer Kirche in Templin gewesen. Die Bürger seien aufgeregt und wütend und wollten Veränderungen im Land. Er habe zu ihnen gesprochen und sie aufgefordert, sich dem Bündnis der Vernünftigen und Besorgten, anzuschliessen. Es sei an der Zeit, eine Bewegung zu gründen – „keine Partei, bloss nicht eine Partei!“ –, die im gleichberechtigten Dialog mit den Mächtigen einen wahren Sozialismus erschaffen wolle.

Die ganze Zeit über sei er, Konrad Grau, von Herren mit versteinerten Mienen beobachtet worden; und die seien ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Zweifelsohne bis hierher, bis in diese Strasse. Und er, Grau, der Regisseur, würde es niemandem hier im Kreis verübeln, wenn sie jetzt gingen und sich nicht dem Konflikt mit den Stasi-Beamten aussetzten.

In der Runde wurde gemurrt. Einige setzten entschlossene Mienen auf. Niemand würde weichen, bedeutete das. Früher oder später würde es sowieso zu einem Konflikt mit der Staatsgewalt kommen, denn was sie hier taten konnte nicht die Billigung der Staatlichen Organe finden, die für die Sicherheit zuständig waren.

Doch schliesslich waren sie mündige Bürger, in ihren Berufen anerkannt, Familienväter und -mütter. Friedhelm Münch hatte sogar schon zweimal einen Staatspreis erhalten, für Theaterinszenierungen in seiner Verantwortung. Und wer sich an Doris Kalaver herantraute, der musste anmassend oder bekloppt sein. Wer weiss, ob die anderen nicht grossartige Erfinder in Betrieben waren oder gewandte Schreiber in Zeitungen. Und Kotte und Schaffner – das waren ordentliche Lehrer, mit denen niemand Schlitten fahren konnte.

Vera musste sich ein Grinsen verkneifen. Das hatte was von einem Indianerspiel, fand sie, oder von einem Kasperletheater. Die Indianer sitzen stumm, schreit der Häuptling rum. Dieser Regisseur schnappte nach Luft, als habe man ihn gerade noch lebend vom Galgen abgeschnitten. Oder er konnte sich in letzter Sekunde vor den rassistischen Cowboys in seinen Wigwam retten. Wo alle beieinander sassen und an der Friedenspfeife kauten.

Wieso, fragte sich Vera, lief der Mann geradewegs in diese Wohnung, wenn er wusste, dass er verfolgt wurde? Damit würde er alle anderen doch auch in die Pfanne hauen? Entweder wusste er vor Schiss weder ein noch aus oder er war naiv wie ein Sechsjähriger. Oder war er nur ein Wichtigtuer, ein eitler um Aufmerksamkeit heischender Mensch? So wie ihr Klassenkamerad Peter Sandburg, der sich gern in den Mittelpunkt witzelte, den aber meistens um Meilen verpasste.

„Wir bleiben selbstverständlich!“, rief ein Mann aus der Tiefe der Stube.

Zustimmendes Nicken und Murmeln.

„Es ist nicht verboten, freitags zu feiern“, rief jemand.

„Genau. Freitag nach Eins macht jeder Seins“, rief eine nächste.

„Freitags trinkt sich selbst die Oma mit Kadarka-Wein ins Koma“, rief wieder einer. (Scheint, es gibt eine Menge Sandburgs, dachte Vera verdutzt.)

„Gemach, Freunde!“ Friedhelm Münch stellte sich neben den schwitzenden Boten Grau und drückte ihm ein Glas Rotwein in die Hand. „Gemach! Lass dir sagen, lieber Konrad, dass wir uns freuen, dich wohlbehalten zu sehen.“ Beifall. „Wir werden den Abend so durchführen wie geplant. Ich habe Professor Doktor Johannes Steinkopp für einen Vortrag über die ökonomischen Verwerfungen infolge der Verstaatlichungen am Anfang der Siebziger Jahre gewinnen können. Ich weiss, wir haben es alle nicht so mit dem Geld.“ Gelächter. „Aber die Wirtschaft ist nun mal das A und O des gesellschaftlichen Lebens. Und das sage ich, der ich vom Wirtschaften noch weniger Ahnung habe als vom Theater!“ Wieder Gelächter. Das war so ein doppeltgemoppelter Witz a la Münch. „Manche werden sich fragen, ob es nicht drängendere Fragen gibt. Aber ich denke, wir sollten es mit der uralten Weisheit halten: Dass nichts sich erklärt, wenn nicht nach den Gründen in der Vergangenheit gesucht wird. Wir werden die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht meistern, wenn wir nicht – nun, ihr wisst schon! Herr Professor Steinkopp bitte!“ Es erhob sich ein Mann, der fast zwei Meter gross war und einen mächtigen Vollbart trug. Er liess die Fliege unter seinem Kinn einmal gegen seinen Kehlkopf schnippen und fing an zu reden.

*

Als Mutter und Tochter Lothringen gegen zwei Uhr morgens auf die Strasse traten, war noch immer keine Stasi da gewesen.

Sie warteten auf eine Taxe.

Vielleicht sassen die Stasileute in dem Wartburg, der an der Ecke stand. Oder in dem Lada, der im matten Schaufensterlicht einer längst geschlossenen Gaststätte geparkt war. Es hiess, die Firma Horch-und-Guck hatte überall und immerfort ihre Augen und Ohren. Als wäre das wichtig, dachte Vera, die es fröstelte. Was hätten die denn erfahren, wenn sie in die Wohnung gekommen wären? Ja, selbst wenn sie zugehört hätten – sie hätten nicht viel anderes gehört, als jede einigermassen gescheite Hausfrau und jede kluge Mutter wusste. Ja, sie hätten nichts anderes gehört, als sie vermutlich selber wussten und dachten – zumindest dann, wenn sie nicht völlig bescheuert waren.

Dass sich der Staat ruinierte, wenn er seine Wirtschaft verkommen liess. Dass es unklug war, Geld auszugeben, das man nicht hat. Dass es Raum geben musste für private Initiative und für die Meinungen eines jeden Bürgers. Dass der allgemeine Mangel die Moral der Bevölkerung niederdrückte und dass es durchaus eine Wirkung hatte, wenn die westlichen Medien mit ihrer Reklame, ihren bunten Bildern, ihrem Überangebot an strahlender Selbstdarstellung Abend für Abend, Tag für Tag über die Grenze gingen als gäbe es die nicht.

Darüber, dass viele Menschen diesen Bildern glaubten, darüber konnte man jammern. Aber, wurde gefragt, war es nicht immer unser Problem, das Problem der Kopfarbeiter, dass wir nicht wissen, wie es dem Stahlwerker in Eisenhüttenstadt, dem Maschinenbauer in Magdeburg, dem Kalikumpel in Thüringen geht?

Es wurde heftig widersprochen, aber als jemand die Frage stellte, ob unter den heutigen Disputanten ein Arbeiter sei oder ein Bauer – da schwieg die Gesellschaft kurz.

Gleich aber hob die Diskussion wieder an. Es sei zu allen Zeiten so gewesen, dass die Anregungen für revolutionäre Veränderungen aus der Schicht der Intelligenz kamen. Und wenn es einzig und allein deshalb so war, weil sie mehr Zeit zum Nachdenken hatten und überhaupt darauf trainiert waren nachzudenken.

Dann kehrte die Diskussion zur Lage der Bürger im Lande zurück. Das triste Angebot in den Läden. Die mangelnde Motivation der Werktätigen in den Betrieben, die ihnen gehörten, aber das war schwer zu vermitteln. Volkseigentum. Alles gehörte jedem; aber was hielt man als Einzelner in der Hand?

Alles hing auch mit dem Grossen und Ganzen zusammen, mit der Weltpolitik, mit dem Kalten Krieg und mit der Bevormundung durch die Sowjetunion. Das war einerseits wahr. Andererseits müsste man auch auf die selbst gemachten Fehler schauen. Und vor allem ging es um eines: Mündig zu werden. Als Bürger endlich mündig zu werden! --- Worauf wieder einige Diskutanten heftig widersprachen. Schliesslich wollten sie sich nicht sagen, sie hätten ihr Leben bisher in Unmündigkeit und in Fesseln verbracht. Immerhin bietet die DDR uns Bildungschancen, das hat sie schon immer getan. --- Auch wenn es dabei zu Verwerfungen kam, aber um Talente hat man sich immer gekümmert. --- Ja, damit sie Goldmedaillen im Sport bringen! ---

Es ging hin und her, aber es war nie unfair. Niemand geiferte, niemand wähnte sich im Besitz einer allein selig machenden Wahrheit. Es schien, als hätten sie alle ein chinesisches Sprichwort verinnerlicht: Jedes Ding hat drei Seiten. Eine, die ich sehe, eine, die du siehst, und eine, die wir beide nicht sehen. So müssen Diskussionen sein, hatte Vera gedacht: dass man eine Wahrheit findet, die am Beginn niemand besass.

„Scheisse! Ich friere!“
„Taxe kommt gleich. Haben sie gesagt.“
„Überhaupt ein Wunder, dass noch eine unterwegs ist.“

Sie schauten die Strasse hoch und runter. Ein paar Laternen stanzten aus der Dunkelheit gelbe Lichtinseln. Die Fassaden der Häuser sahen glatter aus als bei Tage. Im Tageslicht waren die Einschusslöcher des letzten Krieges zu sehen, der stellenweise abgeplatzte Putz hatte die Ziegelsteine freigelegt.

Endlich bog ein Auto um die Ecke, dessen rechteckiges Dachlicht erlosch, weil es am Ziel war. Vera und Victoria schlüpften auf die Rückbank des Wolgas, in dem es nach dem Rauch unzähliger Zigaretten stank. Der Aschenbecher unter dem Armaturenbrett quoll über.

„Wohin soll'sn jehn?“, fragte der Taxifahrer. Er hatte sich umgedreht und taxierte die beiden Frauen.

„Karlshorst. Drachenfelsstrasse.“
„Wo die Russen wohnen? Mannomann, die hausen da! Für zwei so schmucke Ladies muss det die Hölle sein.“

Vera spürte, wie ihre Mutter sich straffte. Sie kannte ihre Mutter. Wenn sie etwas hasste, dann waren es Vorurteile, Pampigkeiten und Anzüglichkeiten. Den Mann hatte Veronika Lothringen schon eingetütet; der Mann war ein Sack voller Oberflächlichkeiten.

„Wenn Sie bitte fahren würden.“
„Dafür bin ick da.“ Er wuchtete den ersten Gang rein und fuhr los.

Eine schweigsame Fahrt. Vera bemerkte, dass der Mann hin und wieder im Rückspiegel nach den beiden „Ladies“ schaute. Die Mutter blickte aus dem Seitenfenster. Schöneweide zog vorüber, der Bahnhof, alte Fabriken, die am Ende des 19. Jahrhunderts gebaut worden waren und äusserlich nie erneuert wurden. Die roten Backsteinfassaden waren vom Russ der Jahre und der Industrie lackiert. In den Fabriken arbeiteten zehntausende Menschen, viele in drei oder vier Schichten, und durch die grossen, mehrsprossigen Fenster fiel ein trübes Licht nach aussen. „Ha'ck ooch mal jearbeitet“, versuchte der Taxifahrer ein Gespräch. „Hier in Schweineöde. Kabelwerk.“

Wen interessierte das schon?

„Irgendwann denkst du, soll ditt allet sein? Morgens in die Fabrik. Nachts in die Fabrik. Nach der Nachtschicht mit den Kumpels erstmal zu Justav. Justav hat die Kneipe gegenüber vom Fabriktor. Erste Molle jezischt, morgens um sieben. Wat soll aus so'nem Tach noch werden? Un denn“ Wieder schaute er in den Rückspiegel, als wollte er einschätzen, wess Geistes Kind die beiden Frauen waren. „un denn det janze Jeblase. Von wegen 'sozialistische Brigade' und Theaterabonnement und Deutsch-Sowjetische Freundschaft und Frieden, Freundschaft, Solidarität ...“
„Und dann haben Sie in den Sack gehauen und sind Taxifahrer geworden. Wo das Trinkgeld mehr ist als der Lohn davor“, sagte Frau Lothringen.

Vera drückte sich in das Polster. Die Musik ihrer Mutter kannte sie. Im Ton korrekt, aber zwischen den Notenlinien braute sich ein Donnerwetter zusammen.

Unsensibel war der Mann am Steuer nicht. Wer täglich Dutzende Menschen fährt, weiss vermutlich eine Menge von den Leuten. Vera sah im Rückspiegel, dass er seine Augenbrauen zusammenzog.

„Wenn Sie wat Besseres sind, dann is ja jut“, sagte er. „Ick für meinen Teil muss zusehn, wo Barthels den Most herholt. Und ick hab nich vor, die Kohle, die mir die Leute jeben, abzulehnen. Der Rubel muss rollen, Gnädigste.“

Das war fair, fand Vera. Wenn ihre Mutter dem Mann spitz kam, dann durfte er auch spitz reagieren; wenn es grob war – war es wahrscheinlich seine Art. Wie es die Art der Mutter war, ihre Vorwürfe mit Süffisanz zu polstern. Heisst es nicht, auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil? Dann waren hier zwei grobe Keile und zwei grobe Klötze unterwegs.

Sie fuhren über die Treskow-Brücke. Rechts und links schimmerte das bleierne Wasser der Spree, an deren Ufer die Fabriken standen, brummende Gebäude, von Lichtern durchschossene Wände. Die Strassen waren leer, die Mietshäuser aus den Zeiten, als der einst bewaldete Rand Berlins industrialisiert wurden, standen dunkel und hoch. Vor der Kreuzung Wilhelminenhofstrasse Ecke Edisonstrasse musste das Taxi anhalten: Von rechts kam die Industriebahn heran. Eine Lokomotive, die Waggons zog, auf deren Ladeflächen riesige hölzerne Rollen standen. Es quietschte, als der Zug um die Ecke bog. „Kenn ick. Kabeltrommeln. Ick hab oft jedacht, wenn wir um den Kern det Kabel jewickelt haben – wo jeht det hin? Nach Frankreich? Nach'n Irak? Vietnam? Irjendwo uff der Welt werden meine Kabel verlegt. Meine! Irre, weil, wat war daran schon meins? Aber irjendwie … Um mal so zu sagen: Sentimental is jut, aber Scheisse is, det ick nie dort sein werde, wo die Kabel in der Erde verschwinden. Bis ick selber mal in ihr verschwinde.“

Erster Gang, zweiter Gang, dritter Gang. Der Wolga summte. Die Erde drehte sich. Der Lauf der Dinge ging den Lauf der Dinge.

Sie schwiegen. Als das Taxi vor ihrem Hauseingang hielt und Victoria Lothringen die Fahrt bezahlte, sagte der Fahrer: „Verdammt kurz das Leben. Man sollte es sich nicht schwerer machen als nötig.“
„Vielleicht werden Sie in Ihrem nächsten Leben Philosoph“, entgegnete Victoria schnippisch.

Der Mann lachte. „Dit werde ick jenauso wenig, wie Sie Präsidentin von Kuba werden. Ausserdem wer gloobt schon an eine nächste Chance?“
„Warum nicht?“
„Jajaja. Jibt ooch welche, die glooben an een Leben nach dem Tod. Sie kriegen noch 1, 75 zurück.“
„Danke. Gehört Ihnen.“

*

Am darauf folgenden Wochenende trafen sich in dem Dorf Grünheide bei Berlin einige Bürger, die sich, wie die Leute in Friedhelm Münchs Wohnung, Gedanken um die Zukunft ihres Landes DDR machten. Es schien ihnen an der Zeit zu sein, die vielen Gruppen, die einzelnen Initiativen und die Proteste zu bündeln. Ob etwas Reform hiess oder Revolution oder Veränderung – es brauchte die geballte, organisierte Kraft der vielen Menschen, die Reform, Revolution, Veränderung wollen. Sie müssten sich zusammenfinden, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen. Sie müssten miteinander reden, jeder mit jedem. Sich nicht mehr die Taschen voll lügen lassen, sondern sagen: Ich sehe das, was du doch auch siehst. Ich sehe, der Kaiser ist nackt. Und ich höre, wie viele wir sind, die endlich sagen wollen: Aber der Kaiser hat ja nichts an!

Die Grünheider verfassten einen Aufruf, der noch am Sonntagabend von dreissig Gründern unterschrieben und in die Öffentlichkeit gegeben wurde. Sie stellten fest, dass die „Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört“ sei. Sie schrieben weiter: „Belege dafür sind die weit verbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen dieses Ausmasses sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein.“ Sie sorgten sich um den Zustand der Gesellschaft: „Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.“ Um darüber nachzudenken, schlugen sie die Bildung einer Plattform mit dem Namen „Neues Forum“ vor. Gemeinsam und im ganzen Land sollte ein demokratischer Dialog stattfinden. „Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des 'Neuen Forum' zu werden. Die Zeit ist reif.“

Sie meinten es ernst und befanden sich im Einklang mit dem geltenden und gültigen Recht. Sie würden, schrieben sie in dem Aufruf, einen Antrag darauf stellen, um als Vereinigung anerkannt und als solche tätig zu werden. Am 19. September reichten die Mitglieder des „Neuen Forum“ in elf von fünfzehn Bezirken der DDR den Antrag bei den zuständigen Behörden ein. Sie beriefen sich auf den Artikel 29 der Verfassung der DDR, in der es hiess: „Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht auf Vereinigung, um durch gemeinsames Handeln in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen.“

Zwei Tage später wurden sämtliche Anträge abgelehnt.

Donnerstag, 21. September 1989

Für die Klasse 1“d begann der Unterrichtstag mit der dritten Stunde. Biologie und Geschichte waren ausgefallen, weil die Lehrerin für Biologie sich krank gemeldet hatte und Doktor Lautengässer als Parteisekretär der SED in der Schule dringend zu einem Treffen mit anderen Parteisekretären in das Ministerium für Volksbildung gerufen worden war. Von diesem Treffen Lautengässers wussten nur wenige, und die wenigen vermuteten, dass es sich wohl um eine Informationsveranstaltung handelte; schliesslich waren die Nachrichten, die es aus dem Land und von der Welt gab, beunruhigend.

* So wie ein Mensch seine Launen und seine Ausstrahlung hat, so auch ein Schulhaus. Es ist kein Summen, es ist kein Geruch. Es ist nicht die Stille, die während der Abiturprüfungen herrscht, oder der Lärm, der in der Essenspause mittags anschwillt. Es ist nicht der Staub auf den Sonnebahnen, die durch die Fenster fallen, nicht das Kratzen der Kreide auf den Schultafeln. Es ist das alles nicht, und es ist das alles doch. Entspannte Schultage, das Dösen im Unterricht, das Ritual der Fragen und Antworten, unterscheiden sich von Tagen, an denen Spannung in der Luft liegt. Nicht erklärbar, geruch- und geräuschlos, und doch vorhanden.

Als Vera und Gernot, Hand in Hand die Alexander-von-Humboldt-Schule betreten hatten, blieben sie wie auf Befehl stehen. Schauten sich an. Sie hatten die Schülerinnen und Schüler entdeckt, die sich vor der Wandzeitung im Eingangsbereich versammelten. Es konnte nicht eine der üblichen Mitteilungen über veränderte Unterrichtseinheiten oder Einladungen zu ausserschulischen Aktivitäten sein. Die hatten noch nie so viel Aufmerksamkeit erregt, dass es zu Zusammenballungen gekommen wäre.

„Was ist?“, fragte Vera.

„Irgendein Blablabla. Ich geh' schon mal.“ Gernot umarmte die Freundin und stieg die Treppe hoch.

„ … was das soll!“ --- „ … soviel Gewese!“ --- „ … die spinnen doch.“ --- „ … wer wen – das ist die Frage ...“ Satzfetzen, die Vera hörte, als sie sich durch die Schar drängte. Dann konnte auch sie es lesen:

„MITTEILUNG DES MINISTERS DES INNERN. Der Minister des Innern der DDR teilt mit, dass ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag zur Bildung einer Vereinigung 'Neues Forum' eingegangen ist, geprüft und abgelehnt wurde. Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Die Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung war nicht genehmigt und folglich illegal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik über die wahren Absichten der Verfasser zu täuschen.“

Die kannte Vera noch nicht von sich: diese Wut, die plötzlich aufsteigt und alles schwärzt. Die leiblich schmerzt. Das Blut scheint zu stocken, das Hirn wird nicht mehr versorgt. Die Knie werden schwach. Dann ein Blitz. Grell. Sie, Vera, wäre demnach eine Staatsfeindin. Sie wäre demnach bei dem ersten Treffen, dem ein zweites und ein drittes gefolgt waren, getäuscht worden. Von Friedhelm Münch. Von der Schauspielerin Kalaver. Von all den Leuten, die durchaus vernünftig und sachlich und faktisch gesprochen und diskutiert hatten. Ja, sie wäre von ihrer eigenen Mutter getäuscht worden, die selbstverständlich auch eine Staatsfeindin war. Und dass eine Unterschriftensammlung genehmigt werden müsste, war das nicht grotesk? Bitter und absurd?

Vera zog scharf Luft ein und kam zu sich.

„So ein Quatsch!“ Jemand stand neben Vera und flüsterte. „Zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung – dieses Land wird an seinen Genitivkonstruktionen scheitern.“ Kotte hatte sich neben sie gestellt.

„'Die Mauern stehn, sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen'“, sagte Vera leise.

„Sie mauern sich ein. Sie ziehen die Wände ihrer Gruft hoch und verwechseln, dass sie nicht draussen, sondern drinnen sind.“

Vera und ihr Deutschlehrer hatten seit der unvermuteten Begegnung in der Wohnung des Dramaturgen Münch nicht miteinander gesprochen. Wenn sie sich über den Weg liefen, nickten sie sich zu. Sie mussten sich nicht verständigen. Sie mussten sich nicht gegenseitig versichern, dass es sozusagen nur ein bisschen Neugierde war, die sie zu den Treffs gebracht hatte. Es war klar wie Klossbrühe, dass Kotte und Vera und die Schaffner Teile einer Gemeinsamkeit waren, die auf dieser Wandzeitung als ‚staatsfeindliche Plattform' verunglimpft wurde.

„Wie bescheuert ist denn das?“, flüsterte Vera ihrem Lehrer zu. „Ich habe das unterschrieben.“
„Was?“
„Den Aufruf. Was wird geschehen?“

Immer noch standen Dutzende junger Menschen vor der Wandtafel. Aus ihrer Mitte rief einer: „Man wird sie einsperren!“ --- „Bist du bescheuert“, konterte ein nächster .--- „Willst du zehntausende Menschen einsperren? Wofür denn? Weil sie einen Verein gründen wollen? Kannst ja auch alle Karnickelzüchter einsperren!“ --- „Kaninchen sind was anderes als Ideen“, wusste ein nächster. --- „Elefanten sind auch keine Frösche!“ - „Aber du Knallfrosch bist ein ziemlicher Esel!“ Jetzt wurde gelacht, und die Mädchen und Jungen liefen auseinander.

Vera und Kotte standen allein auf dem Flur.

„Die meinen das ernst“, nickte Vera zur Tafel.

„Humor ist nicht ihre Stärke“, bestätigte Kotte. Beide zuckten zusammen, als sie Schritte hörten, als näherte sich jemand, der sie bei Unbotmässigem erwischen könnte. Es war Gadji, der sich zu ihnen stellte und die Mitteilung las. „Was bedeutet 'staatsfeindliche Plattform'?“ fragte er.

„Verräter? Deserteure? Kulaken?“, schlug der Deutschlehrer vor.

„Sind Sie ein – Ironiker, Herr Kotte?“
„Ich bin – ratlos.“ Was war an dem Jungen, dass er Vertrauen einflösste? Das Vertrauen, ihm zu vertrauen. „Vielleicht verzweifelt“, sagte Kotte, fast unhörbar leise.

„Plattform ist ein komisches Wort. Ich kenne Platte. Ich kenne konform. Ich kenne Plattheit. “

Kotte nickte und klopfte mit dem rechten Zeigefinger auf den Zettel. „Das da ist eine Plattheit sowie eine Unverschämtheit. Im Übrigen bringen Sie mich auf eine Idee. Wir sollten in meinen Unterricht einen Hauch von Detektivarbeit bringen. Wann immer wir auf ein Wort stossen, das wir gebrauchen, aber nicht inhaltlich kennen – wird ausgeschwärmt und nachgeschaut. Wir werden die Herkunft der Wörter erkunden und damit das Herz der Sprache freilegen.“ Die letzten Wörter flatterten hinter ihm her. Kotte stürzte sich in den Unterricht und auf die Schüler, die seiner harrten und sich vermutlich schon wunderten, wo er denn blieb. Vera würde zu spät kommen.

„Das ist nicht komisch“, sagte Vera leise.

„Du bist damit – verbandelt? Verbunden?“
„Was geht in den Köpfen von Leuten vor, die ihrem eigenen Volk nicht trauen?“
„Es klingt nicht gut. Es klingt – opassno … Gefährlich.“
„Fragt sich, für wen.“
„Wer wen.“ Gadji lächelte breit. „Wopros wsjech woprosow. Die Frage aller Fragen.“
„Die spinnen jedenfalls.“ Vera spürte, wie ihr leichter wurde. Was hatte Gadji an sich, dass sie sich in seiner Anwesenheit – geborgen fühlte, sicher? Aber warum? Sie war geborgen und fühlte sich sicher. Vera suchte nach einer Frage, auf die sie kommen würde. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann später.

„Sie haben Angst“, meinte Gadji.

„Angst? Sie jagen uns Angst ein!“
„Das ist ein Mittel, von der eigenen Angst abzulenken.“
„Kennst du das?“
„Angst? Kenne ich.“ Ein Schatten verdunkelte das Gesicht des Jungen. Ein Schatten, der von weither kam, aus seiner Seele? Hatte es mit seiner Herkunft zu tun, mit seinem Leben in der Ferne, in einem Land, das Vera nur aus dem Atlas kannte? Ich müsste ihn danach fragen. Gadji war jetzt fast drei Wochen in ihrer Klasse, aber gesprochen hatten sie miteinander fast nur „Guten Tag“ und „Tschüs“. Jetzt, hier, vor der Schultafel fragen? Wonach?

„Jedenfalls spinnen die.“
„Spinnen? Pauki?“
„Die lügen! Die sagen nicht die Wahrheit!“
„Wer?“

Vera hebt die Schultern, lässt sie fallen. Was weiss ich, wer. Alle wahrscheinlich. Jeder, der meinte, er müsse über das Schicksal von Menschen entscheiden – auch wenn der selbst am besten weiss, was er braucht. Jeder, der glaubt, Recht zu haben …

„Kann ich helfen?“ Gadji war verlegen. Er möchte dem Mädchen helfen, er spürt, dass Vera verstört ist. Aber warum sie so unglücklich dreinschaut – Koschka! Koschka! Sjestra! Wie Nesgir, nein, eine Schwester ist das deutsche Mädchen nicht. Ja tschuschesemez mjeschdu tschuschesemzich … Gadji steht einen Augenblick unschlüssig. Sie sollten miteinander reden, aber jetzt, hier, vor der Schultafel? Was?

„Wir müssen zum Unterricht“, sagte er und lief los. Vera stand und schaute dem Jungen nach. Der drehte sich um, lächelte ihr zu und winkte. Komm, blondes, deutsches Mädchen, folge mir. Diesmal war ihr wie mit der Wut vorhin. Nur was Umgekehrtes. Wenn man das so sagen konnte. Es stieg eine Helligkeit in ihr auf. Wärme. Etwas ganz und gar Umhüllendes. Und Vera Lothringen konnte nicht anders, als sein Lächeln mit einem Lächeln zu erwidern.

Aber Vera konnte nicht folgen, sie war noch nicht fertig mit der Nachricht. Sie hob die Hand, zog die erste Reisszwecke heraus. Der Zettel würde nicht länger an der Wandzeitung heften.

„Das sollten sie sein lassen, Fräulein Lothringen.“

Vera fuhr erschrocken herum. Sie hatte den Direktor nicht gehört. Was verwunderlich war, weil Erhard Eberlein die Statur eines Sumo-Ringers hatte, ein fast zwei Meter grosser Fleischberg. Ein Respekt einflössender Mann. Nicht nur seiner Erscheinung wegen. Er war schon als junger Mann Kommunist geworden, wurde unter Hitler ins Konzentrationslager gesperrt, und so gewiss, wie er zu seiner Überzeugung stand, so gewiss unterschied er sich trotzdem von dem jüngeren Lautengässer, der auch von sich sagte, er sei Kommunist. Gibt eben solche und sone.

„Ich … „ die Schulglocke schellte zur dritten Stunde, „muss jetzt zum Unterricht. Deutsch.“

Eberlein lächelte. „Ich weiss, was die Stunde geschlagen hat.“

Vera legte den Kopf schief. Meinte er die Unterrichtsstunde, oder meinte der Direx sozusagen die geschichtliche Stunde?

„Sie wirken verstört. Deswegen?“ Erhard Eberlein nickte mit dem Kopf zum Zettel hin. Das sah seltsam aus, mühselig, als wäre der Kopf fester auf den Hals montiert als bei anderen Menschen. Eberlein hatte eine riesige, grossporige Nase, geplatzte Äderchen unter der Gesichtshaut und Tränensäcke unter den Augen, in die der Inhalt einer Damenhandtasche passen würde. Manche vermuteten, er trinke enorme Mengen Alkohol, obwohl Eberlein weder roch noch schwankte oder lallte. Andere spekulierten auf eine Krankheit der Nieren und der Leber, an der er seit dem Konzentrationslager laborierte.

„Ich ...“

Wieder huschte ein Lächeln, das in den Wangen Grübchen machte, über sein Gesicht. „Vera Lothringen, allgemein bekannt als intelligente, schlagfertige, nie auf den Mund gefallene Schülerin, verschlägt es die Sprache. Soso.“
„Ich weiss nicht genau.“ Eine Lüge! In ihrem Kopf schrie es: Du lügst, warum tust du das? Du bist genau wie sie. Ihr fiel ein, wie empört ihre Mutter war, als die Zeitungen Berichte verbreiteten, dass Menschen angeblich betäubt und in den Westen entführt wurden. Wo sie aufwachten und entsetzt waren und unbedingt wieder zurück in die DDR wollten. Wer sich sowas ausdachte, der hielt den Mond für eine Melone.

„Ich denke, dass das hinten und vorn nicht stimmt. Ich denke, dass es so nicht weitergeht“, sagte Vera heftig.

„Wie dann?“

Sollte sie ihm von ihren abendlichen Ausflügen zum „Neuen Forum“ erzählen? Sollte sie ihm sagen, dass es sich keinesfalls um Landesverräter, Staatsfeinde oder Kriminelle handelte. Ihrer Meinung und Beobachtung nach jedenfalls nicht. Ihre Mutter war unter denen, Kotte und Schaffner waren unter denen, und sie – sie war eben auch unter denen.

„Machen Sie einen Vorschlag.“

Vera suchte in den Augen des Direktors nach Arglist. Stellte er ihr eine Falle? Aber Eberlein war bekannt für seinen Gerechtigkeitssinn, wie auch dafür, dass er in einem Punkt knallhart war. Auf den Staat, den er als seinen bezeichnete, liess er nichts kommen. Frieden, Antifaschismus, Solidarität – auf diesen Stützen ruhte das Land. Wer, wenn nicht er, wusste, was das Gegenteil aus Menschen machte. Faschismus, Krieg, Egoismus – das war die unheilige Dreifaltigkeit, die den Menschen daran hinderte, menschlich zu sein. Wenn etwas felsenfest stand, dann das.

Konnte Vera diesem Mann sagen, dass sie die Flugblätter des „Neuen Forum“ mit Durchschlägen abgetippt hatte. Auf keinem einzigen stand etwas, das für Krieg, Faschismus und Egoismus sprach. Das meist gebrauchte Wort war Dialog. Am häufigsten stand geschrieben, dass es um Durchsichtigkeit der Politik gehe, um Ehrlichkeit und Vertrauen und darum, die DDR wirtschaftlich zu erneuern.

„Am wichtigsten wäre“, begann Vera vorsichtig, „dass jeder mit jedem ehrlich spricht.“

Ein Lied ging ihr durch den Kopf. Ein Sänger war in Nikaragua gewesen und hatte danach geschrieben und gesungen, dass die Regierung dort in dem mittelamerikanischen Land mit dem Gesicht zum Volke handelte und sprach. Mit dem Gesicht zum Volke und auf Augenhöhe und nicht herab von Tribünen oder bei inszenierten Besuchen in Fabriken.

„Es gibt da ein Lied. In dem heisst es, die Regierung müsse mit dem Gesicht zum Volke stehen. So sollte es meiner Meinung nach sein. Ausserdem - ich verstehe diese Drohungen nicht, Herr Eberlein. Ich verstehe nicht, wie eine Regierung ihrem Volk so misstrauen kann. Ein Volk, das sie angeblich mit 99 Prozent gewählt hat.“
„Es werden dumme Fehler gemacht.“ Eberlein hatte so leise gesprochen, dass Vera meinte, sich verhört zu haben. „Grausam dumme Fehler.“ Und als besänne er sich: „Gehen Sie in Ihre Stunde, Vera.“

Vera ging und konnte nicht sehen – niemand konnte es sehen –, dass Eberlein sich gegen die Wandzeitung stützte, weil ihm plötzlich schwindlig geworden war. Sein Kopf ging hin und her wie bei den Eisbären im Tierpark. Aber Eisbären tragen keine Anzüge und keine Krawatten um den Hals. Eisbären weinen auch nicht. Und es wurde noch nie ein Eisbär gesehen, der mit seiner Pranke ein kleines Stück Papier von einer Wandzeitung riss.

*

Im Wohnzimmer von Münch und Kalaver lief das Fernsehgerät. Davor sassen und standen zwei Dutzend Menschen, die sich über die Nachrichten amüsierten:

Fünf Boxer des Landes haben heute das Achtelfinale der Weltmeisterschaft in Moskau erreicht. Ein Gewichtheber der grössten DDR der Welt hat hinter zwei Bulgaren den dritten Platz bei einer andren Weltmeisterschaft belegt. Insgesamt habe er 377,5 Kilogramm Eisen gestemmt. Jemand im Raum witzelte: Was wiegt schwerer, 377,5 Kilogramm Eisen oder 377,5 Kilogramm Watte?

Die Sportmeldungen kamen vor dem Wetterbericht am Ende der Sendung. Vorher wurde von einem Freundschaftstreffen der Freien Deutschen Jugend mit dem mongolischen Jugendverband berichtet. Der führende Wirtschaftsfunktionär der allergrössten DDR des Universums hat Ehrenbanner für hohe Leistungen überreicht. Die Mitteilung, dass die Kommunistische Partei Chinas derzeit 48 Millionen Mitglieder habe, führte zu einem Heiterkeitsausbruch bei den in der Stube versammelten Gästen. Nachdem zum sechsten Mal Erich Honecker auf dem Bildschirm erschien, wurden die höchsten Temperaturen des morgigen Freitag mit 18 Grad Celsius vorausgesagt. Und nachdem der Nachrichtensprecher sauber und kühl die Genitivkonstruktionen der Sätze ausgesprochen hatte, schaltete der Gastgeber ab.

Friedhelm Münch wendete sich an die Anwesenden und teilte mit, dass der heutige Gastredner ein Soziologe sei. Professor Erwin Plinsky habe jahrelang in Leipzig am Institut für Soziologie speziell über das Verhalten der Jugend geforscht und wolle während des Abends über rechte Tendenzen der Jugendlichen berichten. Dass es junge Neofaschisten in der DDR gäbe, sei ein Tabu-Thema, eines der vielen Tabu-Themen. Aber die Wirklichkeit zu verschweigen führe ebenso zu den geistigen Verrenkungen wie das Leugnen der Umweltverschmutzung, das Unterdrücken von Zahlen, die die tatsächliche Wirtschaftlichkeit der DDR beschrieben, die Abgehobenheit einer sich selbst feiernden Politikerkaste usw. usf. Zuvor aber wolle er, Münch, die Entwürfe zu den neuesten Flugblättern verteilen und um kurze Wortmeldungen bitten.

Während die Papiere verteilt wurden, lagen Vera und Sabrina Kalaver in einer Ecke des Zimmers auf dem Teppich, knabberten Kekse und tranken Tee. Sabrina und Vera waren gleich alt, und als Vera zum zweiten Mal an den Abendrunden teilnahm, war die Tochter der Schauspielerin aufgetaucht, und sie hatten sich sofort verstanden wie Latsch und Bommel. Ein bisschen gingen ihnen die erregten Damen und Herren in ihrem politischem Eifer auf – den Keks.

Als ihr Vater Professor Plinsky und dessen Thema vorstellte, verdrehte Sabrina die Augen und flüsterte: „Naziidioten! Was ist daran neu? Die müssten mal in unsere Schule kommen! Gestern war wieder ein Hakenkreuz an die Turnhalle gemalt. Meiner Meinung nach sind das Frustis. Die wissen genau, womit sie die Alten provozieren können. Wirkliche Nazis sind die nicht. Idioten schon.“ Und so hörten die beiden Mädchen kaum hin, als sich die Erwachsenen über den Entscheid des Ministeriums des Innern empörten. Sie wussten, dass es einen sprunghaften Anstieg von Sympathisanten und Mitgliedern des „Neuen Forum“ gab. Mochte diese Oppositionsbewegung auch keinen Vereins- oder Parteistatus haben – überall im Lande wurden Unterschriften gegen den Ukas des Innenministers gesammelt.

Jemand berichtete, dass in dem Krankenhaus, in dem er als Chirurg arbeitete, jeder, vom Pfleger bis zum Chefarzt mit dem „Neuen Forum“ sympathisierte. Die können uns nicht ignorieren. Wer der wirkliche Staatsfeind sei, fragte eine Frau, die mit ihrem langen dunklen Haar und im bunten Hippie-Rock der amerikanischen Sängerin Joan Baez in den Siebziger Jahren ähnelte. Die Regierung ist der Staatsfeind!, beantwortete sie die eigene Frage mit einer dunklen Stimme.

Was tun wir praktisch? Was können wir praktisch tun?, fragte ein Mann mit kreisrunden Augengläsern, der einen Arm um die Schulter einer Frau gelegt hatte und sie fest ans sich drückte, als wollte er sie unbedingt behalten. Flugblätter, Diskussionen, Appelle – alles gut und schön. Aber solange die uns für illegal erklären, haben sie alle gesetzlichen Mittel in der Hand. Sie haben die Armee, sie haben die Staatssicherheit, sie haben die Bürokratie, sie haben die Medien.

Aber sie haben auch Angst, entgegnete ein anderer Mann. Doris Kalaver betrat den Raum und rief: „Ich habe soeben einen Anruf bekommen. In zwei thüringischen Städten sind die Leute auf die Strasse gegangen. Hunderte von Leuten. Sie wollen Meinungsfreiheit und – das ,Neuen Forum'!“ Alle applaudierten, alle sahen drein, als hätte ihnen eben der Weihnachtsmann einen Sack mit Geschenken vor die Füsse geschüttet.

„Wir sollten nicht übermütig werden“, versuchte Friedhelm Münch den Jubel zu dämpfen. Als Mann des Theaters wusste er, wie man Effekte einsetzte, wie man eine Handlung beschleunigen oder verlangsamen konnte. „Wir sind hier als Abendgesellschaft von Freunden zusammengekommen“, schärfte er allen ein.

Jemand lachte auf. „Als hätten die nicht längst unsere Namen und Adressen!“
„Trotzdem. Wenn es klopft und sie stehen vor der Tür, dann werde ich sagen: Meine Herren, wenn sie in dieser Wohnung nur eine Waffe finden, nur ein Flugblatt, das die Regierung oder die SED verunglimpft, dann stellen Sie mich vor ein ordentliches Gericht.“
„Frieder“, erhob seine Frau die Stimme. „Nicht dieses Crescendo!“
„Es gibt in diesem Land kein ordentliches Gericht“, warf jemand ein.

„Das ist so nicht richtig“, wurde erwidert.

„Es gibt leider überhaupt keine Gewaltenteilung. Beziehungsweise gibt es sie nur auf dem Papier. Alles ist eine ideologische Eierpampe, in der Verantwortlichkeiten abgewälzt werden, Kompetenzen nicht klar sind ...“
„Über allem steht und wacht Die Partei!“

Vera und Sabrina schauten sich an und mussten nichts sagen. Sie standen wie auf Befehl auf und verliessen den Raum. Sie würden in Sabrinas Zimmer Musik hören, Guns 'N Roses, ihr Geschmack war der gleiche, hatten sie festgestellt. Sollten die Alten palavern und die Welt verbessern. Sie hatten Recht, gewiss. Aber sie mochten tausendmal Recht haben, davon wurde die Welt nicht besser, von Argumenten bestimmt nicht. Ausserdem gab es das Beste schon, nämlich Guns 'n Roses, und also war die Welt alles in allem so übel nicht eingerichtet.

Sabrina besass das Album G N' R Lies. Ihr Vater hatte es aus dem Westen mitgebracht, wo er mit dem Theater-Ensemble bei einem Theater-Festival aufgetreten war. Sweet sixteen she was fresh and clean/ Wanted so bad to be part of the scene/ She met the man and she did the smack/ She paid the price layin' flat on her back/ Wanted so bad just to please the boys/ Wenn die Erwachsenen stundenlang politisieren konnten, dann konnten sich zwei siebzehnjährige Mädchen mindestens ebenso lange darüber unterhalten, was einen Jungen zum tollen Jungen machte und was nicht.

Zum ersten Mal erzählte Vera einem anderen Menschen von diesem Fremdling namens Gadji Muuslimsade. Wie sportlich der sei, wie gescheit. Der könne mehr deutsche Gedichte auswendig als alle anderen in der Klasse zusammen. Wie der in jener Nacht vor drei Wochen drei Angreifer ausgeknockt habe – dagegen war James Bond ein Knabe im Leipziger Thomaner-Chor. Ausserdem sei Gadji von einer gewissen Traurigkeit umweht, wie sollte sie das anders sagen, so eine Aura von irgendwas Geheimnisvollem. Vielleicht ist das was Russisches, was Östliches?

Sabrina hörte aufmerksam zu und meinte zwischendurch: „Klingt, als wärst du verschossen.“
„Quatsch! Ich hab' doch mein Klinkermännchen!“, erwiderte Vera.

Dienstag, 26. September

Die Zeit drängte. In knapp zwei Wochen würde die Republik ihren 40jährigen Geburtstag begehen; und das Kulturprogramm der 12 d, das Jubiläum zu feiern, stand noch lange nicht.

Auf der Bühne der Aula sassen zehn Mädchen und Jungen auf Stühlen in einer Reihe. Die Nachmittagssonne flutete den Raum. Das Licht fiel durch die saalhohen Fenster, die längsseitig die Fassaden der Schule prägten. Rechterhand, von einem Publikum aus gesehen, fiel der Blick über eine Hauptstrasse auf die Häuser Köpenicks. Linkerhand ging der Blick auf den Schulhof und auf das Fussballfeld, das von einer 400-Meter-Bahn umrundet wurde.

Die Mädchen und Jungen sahen teils gelangweilt, teils gespannt, teils noch gelangweilter und teils noch gespannter drein. Es lag an der Musik, die aus zwei king-kong-grossen Lautsprechern dröhnte. Harter Rock von der Küste der Ostsee. Eine Band namens „Berluc“ spielte und sang: „Jeder bricht mal irgendwann/aus sich aus wie ein Vulkan,/irgend etwas lockt uns aus der Bahn./Jeder bricht mal irgendwann/aus sich aus wie ein Vulkan,/irgend etwas lockt uns aus der Bahn./Ohne ein Wort ist sie gegangen./Jeder bricht mal irgendwann/aus sich aus wie ein Vulkan.“

Vera Lothringen stand auf, lief über die Bühne zu dem Tonbandgerät und schaltete die Musik ab. Sofort erhob sich Protest, dünner Protest, aber Protest, immerhin – und wenn es nur des Protestes wegen war.

„Irgendwie müssen wir das Programm anfangen!“ --- „Wenn wir mit Hölderlin anfangen, schlafen alle sofort ein!“ ---- „'Durchgebrannt' ist der Hit des Monats! Passt doch irgendwie zurzeit grad, oder?“ --- „Was hast du denn gegen das Lied? Stimmt doch irgendwie?“
„Ja, irgendwie“, entgegnete Vera giftig. „Irgendwie passt diese Scheissmusik zu dieser Zeit. Irgendwie stimmt sie irgendwie. Dabei haben selbst diese Typen inzwischen was kapiert und reden Tacheles! Sag du mal was!“, forderte Vera ihre Mitschülerin Maria Breitling auf.

„Naja“, begann das Mädchen mit dem roten Feurschopf, „Ich war am Wochenende bei 'Pankow'. Für mich die einzige Band, die echten Rock macht bei uns. Da hat der Sänger eine Erklärung von Rockmusikern verlesen und die verteilt.“ Sie zog einen Zettel aus der Jeans-Tasche und las vor: „Ähm, hier ... 'Dieses unser Land muss endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten sind.' Und hier! 'Wir wollen in diesem Lande leben, und es macht uns krank, tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche einer gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw. ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften' ...“

Vera Lothringen applaudierte. „Das ist die Musike!“, rief sie. „Damit müssen wir anfangen!“

Niemand in der Runde klatschte mit.

In der dritten Reihe der Bestuhlung sass Werner Kotte und hörte aufmerksam zu. Schräg hinter ihm Gadji Muuslimsade, der sich mühte, das Geschehen auf der Bühne zu verstehen. Seine schwarzen Augen schauten hoch zur Bühne. Ihnen entging nichts, was zu sehen war, seinen Ohren entging nichts, was zu hören war. Zu Gadjis Füssen lag ein Instrumentenkasten.

„Dann können wir gleich einpacken“, sagte Mark Viehweger.

Sandburg ergänzte: „Und das Abitur können wir vergessen! Die schicken uns in die sozialistische Produktion! Zur Bewährung! Das geht schneller als ein Affe den Baum hoch ist!“

Vera tigerte die Bühne auf und ab und ab und auf. Sie fuchtelte mit den Armen und steigerte sich. „Was wollen wir? Den Staat zum vierzigsten Jahrstag bejubeln als wäre er das Paradies auf Erden? Wollen wir ein Potjemkinsches Dorf feiern? Vom dem jeder weiss, dass es nur noch Fassaden sind, und dahinter wächst das Unkraut auf den Feldern und der Unmut in den Fabriken?“
„Wie poetisch!“, rief Sylvia Hohberg, die in ihrer flinken Moppeligkeit einem übergrossen Tennisball glich. Einem taillierten Tennisball mit einem kleineren, stahlend-rötlichen, gesunden Ball als Kopf darauf.

„Das Land geht in den Westen! Unsere Regierung schaltet auf Durchgang! Ist es denen egal, was die Menschen wollen? Ist es uns egal, was wir wollen?“

Gernot stand auf und sagte ruhig: „Es geht um vierzig Jahre, Vera. Es wäre nur eine Provokation, wenn wir diese vierzig Jahre auf die letzten Wochen reduzieren. Ich meine, das Land hat doch, also unsere Eltern und wir doch auch, eine ziemliche Strecke hinter sich. Ich meine, dass es nicht rosig aussieht, weiss ich auch. Aber gleich sagen, alles ist Mist, alles ist verdorben, alles ist Unkraut ...“

Noch immer schwieg Werner Kotte. Er verstand seine Rolle als Regisseur nicht als die des Bestimmenden und Festlegenden. Er hatte seine Akteure gebeten, sich selbst Gedanken über das Geburtstagsprogramm zu machen. Er würde Vorschläge machen, er würde sich einmischen, aber noch war es nicht soweit. Er würde das Ordnen übernehmen, sortieren.

Nur einer merkte, dass jemand unhörbar die Tür geöffnet, hinter sich geschlossen und die Aula betreten hatte. Gadji, als hätte er einen Instinkt für das, was in seinem Rücken geschieht, drehte sich um. Im Schatten der Balustrade, die sich über dem Eingangsbereich spannte, stand ein Mann. Falls Gadji sich nicht täuschte, war es Dr. Erwin Lautengässer.

„Willst du eine Chronik? Willst du mit dem Urschleim anfangen? Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt? Plus 'Lob der Partei' von Fürnberg?“
„Das wäre schon wieder witzig“, meinte Sylvia, die sich von ihrem Stuhl erhoben hatte, um Kniebeugen zu machen.

„Prometheus. 'Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst und übe, dem Knaben gleich, der Disteln köpft ...“ Der den Vorschlag machte, Sandberg, der Witzbold vom Dienst, wurde von einem höhnischen Lachen Sylvias abgewürgt. Sie war dazu übergegangen, die Hände in den Hüften nach links und nach rechts den Oberkörper zu wiegen, wobei ihre Brust, frei von einem formatierenden BH, eine Welle machte. „Prima Vorschlag!“, ächzte sie. „Da kriegste aber gleich einen Punkt von einem gewissen Herrn Kotte. Wegen Liebe zur Klassik!“

Kotte grinste. Was für ein Schauspiel! Bühnenreif!

„Ich glaube, wir haben einen Zuhörer“ flüsterte ihm Gadji ins Ohr. Kotte drehte sich nicht um. „Wer?“
„Lautengässer!“
„Soll er“, flüsterte Kotte zurück. „Der Lauscher an der Wand, hört seine eigne Schand. Und Ohrenbläser gab's schon bei den alten Griechen.“
„Sykophanten“, sagte Gadji, woraufhin sich Kotte doch umdrehte, die Augenbrauen hochzog und dem Jungen ins Gesicht schaute. Der erstaunte ihn immer wieder. Ein Bursche, der aus den Weiten des Ostens kam und über eine Bildung verfügte, über die seine deutschen Schülerinnen und Schüler, nun, gelinde gesagt, sich selber den Zugang – erschwerten.

„Mark kann doch anfangen!“, schlug Vera Lothringen vor. „Er hat ein Supergedicht über die DDR geschrieben. Wo die Braunkohle nie alle wird … Was du uns neulich auf dem Friedhof aufgesagt hast“, wendete sie sich an Viehweger.

Der wand sich ein bisschen. Das eine ist es, im Kreis von Freunden ein Gedicht aufzusagen. Das andere ist es, auf einer Bühne vor zwei mal neunhundert Ohren und Augen zu stehen und zu deklamieren. Dann, wenn das Programm aufgeführt werden wird. Und überhaupt. Am Anfang eines Programms zu stehen, das hatte was von Anführer; als Häuptling oder Piratenhauptmann hatte er sich nie gesehen.

„Ich hab was Neues“, sagte er-

„Raus damit!“, rief Maria. „Raus damit!“, rief Sylvia. „Raus damit! Raus damit! Raus damit!“, riefen alle und klatschten rhythmisch. „Raus damit, raus damit, raus damit!“

Mark stand auf und trat an die Rampe. Den Staatsbürgerkunde- und Geschichtelehrer Lautengässer konnte er, vom Licht in das Dunkel des Saales blickend, nicht sehen. „Also … Die die Weisheit gefressen,
haben sie auch verdaut.
Vorwärts und nicht vergessen,
wie man Äpfel klaut.

Nämlich man steigt ohne Leiter
in das dichte Geäst.
Aufwärts und nicht weiter -
bis man sich hängen lässt.

Sieht kopfüber sie fallen
in ein Mohrrübenbeet.
Lohnt es sich festzukrallen,
wenn es abwärts geht?“

Stille. Was war das? Ein harmloses Gedicht, überhaupt ein Gedicht? Was war Anspielung, was konnten sie verstehen? Lohnte es sich festzukrallen, wenn es abwärts geht? War das ein Loblied auf das Faultier, oder war das eine schlaue, satirische Verwendung von Wörtern, die ihnen seit Jahren vertraut waren? Vorwärts und nicht vergessen, worin unsre Stärke besteht. Beim Hungern und beim Essen --- Oder beim Äpfelklauen? --- Und es war schon klar, wer gemeint war. Die die Weisheit gefressen und haben sich auch verdaut. --- Und ausgeschissen. Und aufbereitet als Dessert für die Nachfolgenden … --- Und da stellte sich Peter neben seinen Freund Mark, schwenkte eine DDR-Fahne und sank plötzlich, als hätte ihm jemand in die Knie getreten oder erschossen, auf die Knie und fiel vornüber. Schwarzrotgold, Hammerzirkelährenkranz – im Staub der Bühne.

„Sie müssen was sagen!“, forderte Vera jetzt Kotte von der Bühne herunter auf. „Dialektik!“ Kotte stand auf und sagte als erstes: „Dialektik!“

Ein kollektives Stöhnen kam von der Bühne.

„Ad unum. Viehwegers Gedicht kommt ins Programm. Ad secundum: Klinkermann hat nicht Unrecht. Die DDR war mehr als das Jetzt. Es wäre ungerecht, auch wenn ihr mich jetzt als Propagandisten oder Dogmatiker beschimpft, nicht an ihre Wurzeln zu erinnern. Wie sie entstand. Wer sie machte. Das ganze Welttheater der letzten Jahrzehnte!“
„Kalter Krieg, kalter Krieg, der Vorhang geht auf!“, witzelte Peter Sandburg von der Bühne. Er erhob sich, legte die Fahne über die Schulter, als fröre er.

„Eine Wahrheit, immerhin“, erwiderte Kotte. Ihm schoss durch den Kopf, dass Lautengässer mithörte, mitsah und in seinem Kopf mit Sicherheit Alarmglocken läuteten. Egal. Er, Kotte, verantwortete das Programm, und das Programm sollte so gut werden, dass es anrührte und nicht als irgendeine Pflichtnummer vorüberrauschte.

„Ich möchte einen Vorschlag machen. Ich habe Gadji gefragt, ob er sich vorstellen könnte mitzumachen.“

Gadji stand auf. „Nicht als Alibi“, fuhr der Deutschlehrer fort. „Nicht als Beleg, dass wir geschichtlich korrekt erzählen und uns dann die Courage für die Kritik holen. Oder so deutsch-sowjetische Freundschaft. Nein. Als ehrlichen Bericht von den Anfängen, von der Zeit, die in Blut und Trauer unterging. Aus der die DDR geboren wurde. Wollt ihr Gadji anhören?“
„Was kann er denn machen?“, fragte Gernot Klinkermann. Vera sah ihn verwundert an. Überheblich und abweisend klang es, wie ihr Freund sprach. Unsportlich, nicht fair, feindselig sogar?

„Ich habe mit Gadji darüber gesprochen. Er würde ein Lied singen. Vielleicht am Anfang. Vielleicht zwischendurch noch eines. Es gibt Sänger in der Sowjetunion, die haben schon kritische Lieder gesungen, als wir hier noch alle sangen 'Sandmann, lieber Sandmann' und 'Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend bau auf'“

Auf der Bühne wurde gelacht. Nicht alle lachten. Gernot nicht. Zwei andere nicht. Aber wenn Sylvia Hohberg in die Rolle des kleinen, züchtigen Mädchens schlüpfte, indem sie die Augen gen Himmel hob und mit den Händen schnellen Beifall patschte –, dann wussten alle, Spass ist angesagt.

„Gadji!“, rief Vera. „Komm bitte rauf! Du gehörst zu uns, ganz klar.“

Und sie sah Gernot an, dessen Augenbrauen einen zornigen Bogen bildeten. War er

etwa eifersüchtig?, schoss es Vera durch den Kopf. So ein Quatsch! Sie würde ihn fragen, nach seinem merkwürdigen Verhalten fragen, nachher, nach der Probe, wenn sie allein sein würden. Sie mochte es nicht, wenn Dinge unausgesprochen blieben, wenn etwas in der Schwebe hing: wie ein Nebelschleier zwischen Menschen, die schwiegen oder herumdrucksten und sich wegduckten.

Gadji zögerte einen Moment, entnahm dann dem Etui zu seinen Füssen eine Balalaika und kletterte auf die Bühne. „Ich kenne ein paar Lieder aus dem Grossen Vaterländischen Krieg. Sie sind traurig, sie sind kämpferisch. Sie sind vielleicht auch ein bisschen verlogen. Die meisten werdet ihr nicht kennen. Ich denke, es ist gut, gut wäre, es wäre gut? ...“ Gadji suchte im Deutschen nach dem richtigen Ausdruck. „wenn ich ein Lied singe, dass ihr alle auch schon gehört habt. 'Katjuscha'.“ Während Gadji sprach, zupften seine Finger auf den drei Saiten des Instrumentes.

„Fein!“, rief Sylvia mit der Stimme eines vierjährigen Mädchens. „Das haben wir schon im Kindergarten bei Tante Ludmilla gesungen.“ Wieder patschten ihre Hände ineinander.

Gadji fuhr ernst fort: „Ich mag dieses Lied. Es erzählt eine einfache Geschichte. Ein Mädchen wartet auf die Briefe ihres Liebsten. Der ist als Soldat an der Front und kann nur selten schreiben.“
„Wer schreibt schon noch Briefe!“, rief Sandburg.

„Heutzutage vielleicht nicht. Aber damals“, gab der Poet Viehweger zu bedenken.

„Lasst doch mal Gadji ausreden!“, rief Vera.

„Und wenn sie einen Brief bekam, dann rannte sie vor Freude durch die Wiesen bis zum Fluss. Das ist eigentlich schon alles. Aber meine Meinung ist, darin steckt so viel Sehnsucht nach dem Leben und – so viel Angst vor dem Tod. Der ja auch kommen kann – als Nachricht in einem Brief“, - und Gadji sang: „Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten,
still vom Fluss zog Nebel noch ins Land.
Durch die Wiesen kam hurtig Katjuscha
zu des Flusses steiler Uferwand.

Und es schwang ein Lied aus frohem Herzen
jubelnd, jauchzend sich empor zum Licht.
Weil der Liebste ein Brieflein geschrieben,
das von Heimkehr und von Liebe spricht.

Oh Du kleines Lied von Glück und Freude
mit der Sonne Strahlen eile fort!
Bring dem Freunde geschwinde die Antwort
von Katjuscha – Gruss und Liebeswort.“

Die anderen waren aufgestanden, standen in einer Reihe, und summten mit. Sie wiegten sich im Rhythmus der Melodie, die von der Balalaika kam. Und von weither aus der Geschichte. Und von weither aus der Welt. Als Gadji die letzten zwei Zeilen wiederholte, sangen alle mit:

„Bring dem Freunde geschwinde die Antwort von Katjuscha – Gruss und Liebeswort.“

Nein, nicht alle sangen mit. Wieder war es Gernot, der sich verweigerte. Und noch einer im Saal rührte sich nicht: Lautengässer. Er stand noch immer im Schatten der Balustrade und schien nicht mal zu atmen.

„Wir brauchen eine Leinwand und einen Diaprojektor.“ Maria meldete sich als erste zu Wort, nachdem der letzte Ton der Melodie als feines Saiten-Sirren verklungen war. „Wir werfen eine Zahl an die Wand: 50 Millionen Tote. Davon 20 Millionen Sowjetmenschen. Ohne Kommentar.“
„Aus dem Dunkel der Bühne komme ich und werde immer grösser und grösser und in der Hand trage ich die Staatsfahne.“ Peter rollte die Staatsflagge der DDR aus und schwenkte sie.

„Du siehst aus wie ein Fussballfan mit Vereinsfahne!“, schimpfte Klinkermann. „Die DDR ist nicht irgend so ein Scheissverein, kapiert ihr das nicht?“
„Genau das sagen wir damit. Es ist ein Land, das aus dem Leiden des Zweiten Weltkriegs entstand. Wie das gesamte Gerangel danach! Wie der Kalte Krieg!“, entgegnete Vera dem Freund. Klang ihr selbst zu pathetisch. Aber stimmte doch! Was zum Teufel war bloss in Gernot gefahren, dass er jetzt auf Grossen Macker machte?

„Ex oriente lux, ex occidente luxus“, wusste Peter Sandburg die letzten viereinhalb Jahrzehnte der Weltgeschichte zusammenzufassen.

„Der Anfang ist gut, denke ich“, liess sich der Deutschlehrer vernehmen. „Und ich denke, wenn Viehweger am Ende 'Mitte des Lebens' aufsagt – dann hat das Ganze einen Rahmen. Dann hat das Ganze keine blöde Selbstsicherheit, sondern es endet mit einer Ungewissheit.“

Mark Viehweger, als wäre er aufgefordert worden, trat an die Rampe und sagte auf:

„Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.“
„Jede Wette“, sagte Maria in die Stille hinein. „Da kriegt jeder das Schlucken.“ „Und wir keinen Applaus.“ Sylvia zog einen Schmollmund. „Wo's Sylvilein so gern Kekse isst!“

Plötzlich fiel Peter Sandburg auf der Bühne krachend zu Boden. Im Fallen breitete er die DDR-Staatflagge über seinem Leib aus. Wie erschossen lag er da.

„Soll das symbolisch sein?“, fragte Gernot verärgert. „Dein Quatsch da! Ich glaube, ich mache nicht mehr mit. Das ist doch alles albernste Provokation!“ Sprach's, schnappte sich seinen Stuhl und stieg von der Bühne herab in den Saal. Stellte den Stuhl unter ein Fenster und ging mit eiligen Schritten zum Ausgang. Abrupt bremste er, beinahe hätte er Dr. Erwin Lautengässer über den Haufen gerannt. „'Tschuldigung!“, murmelte Gernot.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Klinkermann.“ Lautengässer griff den Jungen am rechten Oberarm und zog ihn zu sich in den Schatten. Gernot, zu verblüfft, um sich zu wehren, fand sich an der Seite des Mannes wieder, der zu den ungeliebten Lehrern der Schule gehörte. Recht war ihm das nicht. Diffus fühlte er, ein Mitverschwörer, Teil einer Observation zu sei, die Gernot als ungehörig und schmierig empfand. Doch Lautengässer, als habe er Klinkermanns Gedanken gelesen, legte den Zeigefinger über die Lippen. Pssst! Was sollte Gernot tun? Laut rufen: „Hehe, hier ist jemand, der belauscht uns!“

Lautengässer wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Einerseits hatte er Ohren um zu hören, und was er gehört hatte, hatte er gehört. Darauf konnte er einen Eid schwören. Schliesslich war er nicht mit dem Klammerbeutel gepudert und konnte Eins und Eins zusammenzählen. Das da auf der Bühne war eine Unverschämtheit.

Andererseits konnte er dem Versuch, den Geburtstag der Republik mit einer gewissen historischen Dialektik zu betrachten, nicht seinen Respekt versagen. Die gaben sich schon Mühe. Die machten es sich nicht leicht. Schon gar nicht in dieser Zeit, die nicht leicht zu verstehen war. Auch er, Lautengässer, stellte die Frage, wie es weiterginge mit dem Land. Abends, allein vor dem Fernsehgerät, musste er Bilder anschauen, die ihn körperlich schmerzten. Und insgesamt waren sieben Schülerinnen und Schüler nicht zum Beginn des Schuljahres erschienen. Sie waren fort. Sie hatten ihre Heimat verlassen.

Lautengässer empfand das als persönliche Niederlage. Sieben Mal versagt, grübelte er in den Nächten, in denen er nicht schlafen konnte; so ein Klotz war er nicht, dass es ihn gleichgültig liesse. Worin besteht meine Schuld? fragte er sich. Habe ich überhaupt eine Schuld an diesem Dilemma? Bin ich ein schlechter Lehrer, wenn ich daran glaube, dass meine Werte die Werte der mir anvertrauten Mädchen und Jungen sein sollten?

Ein Lehrer, antwortete in ihm ein strenger Richter, hat immer Mitschuld, wenn seine Zöglinge versagen, Unrecht tun, kriminell werden.

Aber es sind die Verführten, die gehen, entgegnete er sich selber. Die Labilen. Denen ein Supermarkt wichtiger ist als das Heimatland.

Lautengässer wälzte sich seit Wochen nächtens im Bett und schlief erst in den frühen Morgenstunden ein. Und jedes Mal entschloss er sich, hart zu bleiben. Der Sozialismus ist die beste aller Gesellschaftsordnungen bisher. Keinen Millimeter wird Lautengässer von dieser Erkenntnis abweichen. Dass es Fehler gab, würde er nicht leugnen. Aber bitte, die mögen im historischen Kontext stehen; historische Dialektik, da haben wir sie wieder. Der Kapitalismus, das war klar wie Klossbrühe, gründete sich auf Gewalt und Betrug und hatte Jahrhunderte Zeit, sich immer wieder zu wandeln, anzupassen, neue Masken zu tragen, neue Kostüme und sich geschickt zu verkaufen. Dagegen musste der Sozialismus sich wie ein Eleve vorkommen, ein Schüler, der Schritt für Schritt das Tanzen lernte – und das inmitten von Stürmen und Orkanen von Hetze und Angriffen. Wenn Lautengässer dann endlich schlafen konnte, dann war sein Schlaf von Gestalten und Situationen bevölkert, wie sie auf den Bildern eines Hieronymus Bosch zu sehen sind.

Auf der Bühne hatten die Mädchen und Jungen einen Halbkreis gebildet. Sylvia Hohberg trat vor, stellte das linke Bein auf einen Stuhl, wobei ihr Rock sich hochschob. Als sie sich vorbeugte, konnte das imaginäre Publikum (zumindest schon mal Lautengässer) ihre melonengrossen Brüste sehen.

„Heia, Walpurgisnacht!“, flachste Peter. „Die Hexe zeigt, was sie hat!“
„Sylvia!“, rief Kotte. „Ganz so geht das nicht, ehrlich.“

Sylvia schmollte wieder, nahm aber Haltung an, aufrecht, und zupfte brav an Rock und Bluse. Ganz Marlene Dietrich, in XXL.

„Ein Kinderlied!“, sagte sie an. Maria Breitling setzte sich an das Klavier gesetzt, klimperte ein paar Töne, und dann sang Sylvia, musikalisch begleitet, jenes Lied, das vor ein paar Wochen Mark Viehweger auf dem Friedhof als Gedicht vorgetragen hatte:

„Dass Braunkohle nie alle wird,
dass die Partei sich niemals irrt,
In jedem Shop gibt's immer mehr,
davon träumt die DDR .

Dass jeder Mensch ein Sportler ist,
und klug sei jeder Polizist,
das Portemonaie sei niemals leer -
davon träumt die DDR ...“
„Woher stammt der Text?“, fragte Lautengässer zischend.

„Weiss nicht“, antwortete Gernot.

„Sie wissen es nicht? Wem wollen Sie das erzählen, Klinkermann?“
„Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich habe einen Termin beim Zahnarzt.“
„Beim Zahnarzt? Klinkermann! Denken Sie, ich ziehe mir die Hose mit der Kneifzange an?“

Gernot hatte die Tür geöffnet. Es war eine zweiflüglige Glastür, die schepperte, wenn sie losgelassen wurde und ungebremst ins Schloss fiel. Genau dafür sorgte Gernot, als er die Aula verliess.

Auf der Bühne erstarrten die Akteure. Dr. Erwin Lautengässer trat aus dem Schatten und zeigte sich.

„Lautengässer“, wurde geflüstert. „Ach du Scheisse!“ --- „Na und, das Programm sieht der doch so oder so.“ --- „Aber jetzt noch nicht. Später sehen es alle.“ --- „Die Masse schützt uns. Da haben wir eine Chance.“ --- „Wieso redet ihr, als hätten wie ein Attentat vor?“

Werner Kotte hatte sich erhoben und umgedreht und schaute seinem Kollegen entgegen. Der war nach ein paar Schritten stehen geblieben und schien zu überlegen, wie er weiter vorgehen sollte. Schliesslich machte er auf der Stelle kehrt und eilte aus der Aula. Klirr! Die Tür. Schepper! Müsste mal. Rumms! Erneuert werden

„Wird es Ärger geben?“, fragte Vera laut in den Raum.

„Hübscher Titel fürs Programm“, sagte. „'Wird es Ärger geben?'“

Maria Breitling setzte sich auf den Rand der Bühne. Ihr rotes Haar war in zwei Zöpfe geflochten, die vom Kopf abstanden und zusammen mit den silbernen Ringen in den Ohren im Licht des späten Nachmittags, der durch die Fenster lugte, leuchteten. Sie faltete die Hände im Schoss und rezitierte streng und trotzig: „Doch, wie immer das Jahr kalt und gesanglos ist
Zur beschiedenen Zeit, aber aus weissem Feld
Grüne Halme doch sprossen,
Oft ein einsamer Vogel singt.“

Vera Lothringen setzte sich neben die Freundin, und zusammen sprachen sie:

„Wachs und werde zum Wald! Eine beseeltere,
Vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden
Sei die Sprache des Landes,

Ihre Seele der Laut des Volkes.!“ Peter Sandburg stellte sich hinter die sitzenden Mädchen und hielt zusammen mit Sylvia die Fahne der DDR, Hammerzirkelährenkranz, eingebettet ins Schwarzrotgold der Landesfarben, als schützendes Dach über das Mädchen-Paar. Zu ihnen traten Mark Viehweger und Gadji Muuslimsade, der ganz leise auf an den Saiten der Balalaika zupfte.

Und Kotte, der Deutschlehrer, der die Misanthropie liebte und gerne statt seiner Zwei-Zimmer-Hinterhofwohnung (immerhin mit Balkon zum grünen Innenhof) eine Penthouse-Wohnung im Elfenbeinturm der Poesien dieser Welt bewohnen würde, stand zwischen den Stühlen und war gerührt. „Sollte der Unterricht doch bei den Herrschaften gefruchtet haben?“, fragte er halblaut. Er schluckte, klatschte in die Hände und rief: „Schluss für heute! Ich geb ne Runde Bier aus!“
„Auch Eierlikörchen?“, fragte Sylvia Hohberg mit dem Augenaufschlag Marilyn Monroes. Und sie hielt ihren Rock vorne fest, so, als griffe aus dem Zuschauerraum ein Wind nach ihr: „Und Kirschtörtchen?“

*

Der Schuldirektor Erhard Eberlein, ein Mann von der Statur eines Schwergewichtboxers, sass hinter dem Schreibtisch, hinter dem schon seit Generationen die Direktoren der Alexander-von-Humboldt-Schule sassen. Aus dem Holz der Eiche, die Platte gross wie ein halbes Fussballfeld, zwei Schubladentürme rechts und links der Lücke, in die ein Dutzend Beinpaare passten – dieser Schreibtisch war Autorität pur, eine Burg. Vor ihm lag aufgeschlagen in voller Doppelseiten-Breite eine Zeitung, in der er eben vom Besuch einer Partei- und Regierungsdelegation der Volksrepublik China gelesen hatte. Ausserdem seien Oberste zu Generälen befördert und verdiente Bürger der DDR mit hohen Auszeichnungen im Staatsrat gewürdigt worden. Erich Honecker, wurde berichtet, hatte den Verleger Robert Maxwell empfangen.

Der Direktor las und nahm doch nicht auf, was er gelesen hatte. Er seufzte, stand auf, legte die Hände im Rücken übereinander und schaute aus dem Fenster. Da draussen war alles wie immer. Ein Platz, der neu bebaut wurde. Eine Hausecke mit einem Schnellimbiss. Eine Brücke, auf der sich der Verkehr staute. Weiter ging der Blick bis zur Köpenicker Schlossinsel, von der das renovierte Gebäude des Schlosses, das einst der preussischen Königin Luise gehört hatte, aus dem Grün ragte. Eberlein ging an manchen Sonntagen zwischen den gewaltigen Rhododendron-Büschen spazieren. Der Park lag auf halbem Wege zwischen der Schule und seinem Reihen-Häuschen in der Altstadt von Köpenick. Er hörte ein Klopfen an der Bürotür. Es war nach siebzehn Uhr, es konnte nicht seine Sekretärin sein, die als Mutter von drei halbwüchsigen Kindern mit Recht darauf bestand, pünktlich um 16.30 Uhr Feierabend zu machen.

„Erwin.“ Eberlein ging quer durch den Raum auf seinen Kollegen zu, mit der Rechten drückte er ihm die Hand, mit der Linken schlug er ihm freundschaftlich auf die Schulter.

Lautengässer war nicht nur ein Kollege, er war nicht nur sein Stellvertreter. Lautengässer war der Mann, dem er vertraute. Ein Genosse, dessen Zuverlässigkeit er schätzte, wenn er manchmal auch zu eifrig war. Jungen Menschen musste man mancherlei an Frechheit und Schabernack durchgehen lassen, fand Eberlein. Prinzipien waren gute und richtig, Disziplin und Ordnung brauchte es im Leben, in der Erziehung ging es nicht ohne sie, aber es kam auf das Augenmass an. Man musste auch mal ein Auge zudrücken können und alle Fünfe grade sein lassen. Lautengässer fehlte es dafür an Humor, was Eberlein schade fand. „Was treibt dich zu mir?“ fragte der Direktor und lud den Kollegen mit einer Geste zum Sitzen ein.

„Es brennt“, kam Lautengässer sofort zur Sache. „Es brennt. Auch an unserer Schule.“
„Willst du einen Kaffee? Marina ist nicht mehr da, aber sie braut mir jedes Mal noch eine Thermoskanne, bevor sie geht. Müsste noch heiss sein.“

Er nahm von einer Kommode voller Aktenordner ein Tablett mit Kanne und Tassen. Fast umständlich, stellte er die Tassen mit den Untertellern auf den Tisch, goss Kaffee ein – bedächtig, langsam, als wollte er Zeit gewinnen. Als müsste er sich im eigenen Zimmer zurechtfinden, weil er bis eben in einer Gedankenwelt war, die nichts mit ihm als Direktor und nichts mit seiner Schule zu tun hatte.

Lautengässer spürte das. Er hatte die Zeitung auf dem Schreibtisch gesehen. Auch er hatte die nichts sagenden Meldungen gelesen; auch einen Kommentar, in dem es hiess, dass ehemalige DDR-Bürger noch bittere Erfahrungen machen werden im Westen. „Das Arbeitsleben in der BRD verlangt ihnen, falls sie überhaupt einen Arbeitsplatz fänden, mehr ab, als sie sich vorstellten. Für Familien mit Kindern fehlten – anders als in der DDR – Krippen- und Kindergartenplätze.“ Lautengässer hatte beim Lesen dazu genickt. Ganz seine Sicht und seine Meinung. Das war die Wahrheit, das war die Realität, und wer davor die Augen verschloss, der lief blind ins Verderbnis.

„Es brennt in der Welt.“ Eberlein rieb sich die Augen. „Haben wir nicht seit ein paar Wochen einen Jungen aus Aserbaidshan bei uns?“
„Gadji, ähm, Muuslimsade. Ja.“ Wie kam Eberlein auf den Burschen? Bisher war der nicht weiter aufgefallen. Dieser Jungeg trat bescheiden und ruhig auf, wie vorhin, als er das Lied von Katjuscha gesungen hatte. Hatte ihn bewegt, musste er eingestehen.

„Hast du Zeitung gelesen? Zwischen Armeniern und Aserbaidshanern gibt es Konflikte. Die Sowjetunion bricht auseinander.“
„Daran ist Gorbatschow schuld! Daran ist diese Politik von Glasnostj und Perestroijka schuld! Die stellt alles in Frage, was wir an Errungenschaften haben. Gorbatschow hat die Büchse der Pandora geöffnet und ...“ Lautengässer lief sich warm, ereiferte sich, doch Eberlein hob die Hand neben der Kaffeetasse und liess sie sanft auf der Tischplatte landen. Eine Geste, mit der er so manches Palaver am Sitzungstisch zu unterbrechen pflegte, wenn das Kollegium versammelt war, um schulische Angelegenheiten zu erörtern. Dann sagte er bedächtig:

„Das heisst, es sprudelt heraus, was lange schon brodelt? Das heisst, es war nur zugedeckelt und mit einem hübschen Etikett beklebt, was innen drin stinkt? Das heisst, wir schimpfen auf den, der die Ehrlichkeit wünscht, auf die wir so lange Zeit verzichtet haben?“
„Aber, Erhard, du willst doch nicht ...“

Eberlein war noch nicht fertig: „Das heisst – heisst es nicht, dass als Letztes in der Büchse der Pandora die Hoffnung steckt? Nein, als das einzig Positive – die Hoffnung?“

Die beiden Männer schwiegen. Lautengässer ging das Gerücht durch den Kopf, das seit Tagen in der Schule die Runde machte. Eberleins Tochter, eine junge, begabte Fernsehjournalistin, sei mit ihrer Tochter über die Botschaft der BRD in Prag in den Westen geflohen. Wir hätten längst darüber sprechen sollen, dachte Lautengässer, wir reden über alles Mögliche, aber nicht darüber, was uns das Herz zerreisst.

Der Schulleiter war aufgestanden. Er nahm vom Schreibtisch die Zeitung und blätterte, bis er die Stelle fand. „Hier! 'Die Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der beiden Nationalitäten forderten seit Februar vergangenen Jahres 117 Menschenleben und 3.145 Verletzte.' 117 Menschen. Was kommt auf uns zu? Weisst du's?“
„Wir können nicht für alles auf der Welt Verantwortung tragen, Erhard. Aber für das, was in unserem Umfeld geschieht.“
„Das Umfeld. Reicht es von mir zu dir? Umfasst es die Schule, Köpenick, Karlshorst? Wo sind die Grenzen des Umfelds? Im Kaukasus? Im Tibet? Sind wir nicht verantwortlich für die Afrikaner, denen wir Waffen verkaufen, deren Offiziere wir ausbilden?“

Das ging zu weit. Es machte schliesslich einen Unterschied, ob Freiheitskämpfer ausgebildet und ausgerüstet wurden, oder ob des Profits wegen Waffen an jeden verkauft werden, der zahlte.

Erwin Lautengässer betrachtete sich selbst als einen Mann der Fakten. Soweit er wusste, wurden in der DDR keine Waffen hergestellt und schon gar nicht exportiert. Während die BRD der drittgrösste Waffenproduzent und -exporteur der Welt war. Oder stimmte das nicht mehr? Miauten Katzen plötzlich nicht mehr, bellten Hunde plötzlich nicht mehr, fiel der Apfel nicht mehr auf den Rasen sondern hinein ins Weltall und flossen die Flüsse bergauf auf einmal?

Aber darum ging es nicht. Lautengässer wollte Eberlein warnen. Vor dem Programm. Vor Kotte. Vor den Schülerinnen und Schülern, die seiner Meinung nach dreist und verantwortungslos auftraten. Und falls sie auftreten würden mit dem Programm – es würde der gesamten Schule, also auch dem Direktor schaden, war Lautengässer sich sicher. Eberlein zu berichten, was er beobachtet hatte, empfand er als eine Pflicht – und als Schadensabwehr.

E würde sich herumsprechen, bei den Eltern und bei den Ämtern. Einige Väter waren hohe Funktionäre im Staats- oder Parteiapparat. Einer, Klinkermann, war sogar Staatssekretär im Innenministerium. Einige der Eltern waren angesehene Schriftsteller, Ärzte, hohe Offiziere. Die Alexander-von-Humboldt-Schule galt als Elite-Schule; auch wenn sie den Begriff Elite nicht gebrauchten, so fühlten sie sich doch genau als solche.

Ausserdem hatten sich zur Veranstaltung der Bezirksschulrat und einige Lehrer aus anderen Schulen angesagt. Nein, ganz entschieden musste dafür gesorgt werden, dass das Programm nicht stattfand. Jedenfalls nicht in der Gestalt, wie er es wahrgenommen hatte.

Das Schweigen zwischen den beiden Männern war das Schweigen zwischen zwei Genossen, die plötzlich entdecken, doch nicht immer der gleichen Meinung zu sein? Vielleicht sogar grundsätzlich anderer Meinung zu sein?

Zwei altgediente Lehrer, die sich vielleicht jahre- oder jahrzehntelang in einem Irrtum befanden, als sie meinten, sie dienten der gleichen Sache?

Oder sie hatten unterschiedliche Vorstellungen von dieser gemeinsamen Sache und waren sich nie darüber im Klaren gewesen, dass es so war?

Eberlein, der Kommunist, der im KZ gesessen hatte und gleich nach dem Krieg den Beruf des Lehrers ergriff, weil er dafür sorgen wollte, dass niemals mehr junge Menschen in den Krieg ziehen müssen, dass niemals mehr ein Mensch der Ausbeuter anderer Menschen sein wird und dass niemals wieder Kriege zwischen den Völkern geführt werden.

Lautengässer, der am Ende der Nazizeit 14 Jahre alt war und Glück gehabt hatte, dass er nicht in den Krieg als Soldat ziehen musste. Der aber auch nie wieder Krieg haben wollte und auch deshalb Lehrer wurde, um den Kindern und Jugendlichen eben das beizubringen. Und der überzeugt davon war, dass der Sozialismus eine wirkliche, echte, die einzige Alternative zum Kapitalismus ist.

„Es geht um das Festprogramm.“ Erwin Lautengässer räusperte sich.

„Was ist mit dem Programm?“ Eberlein schaute auf seine Hände, die er übereinandergelegt, gestapelt hatte.

„Sie verunglimpfen die DDR!“
„Wie das?“
„Mark Viehweger besitzt unstrittig ein gewisses lyrisches Talent. Aber er vergeudet es an spöttische Texte. ‚Dass Braunkohle nie alle wird, dass die Partei sich niemals irrt – davon träumt die DDR'“, zitierte Lautengässer.

Eberlein verzog den Mund zu einem Lächeln, das sein Gesicht nicht aufhellte.

„Und? Ist das falsch? Träumen wir nicht tatsächlich davon? Sind wir nicht womöglich sowieso – nur Träumer? Die sich eine Welt erträumen, die es nicht gibt? Die es so, wie wir sie erträumen auch nicht gab? Vielleicht irren wir uns. Vielleicht leben wir doch nicht in der besten aller Welten?“ Was redete der Direktor da? Der Freund, der Genosse, der Kommunist? War das der Mann, für den ich meine Hand ins Feuer legen würde? „Wie lange sind wir zusammen an dieser Schule?“, fragte Lautengässer „Fünfundzwanzig Jahre! Aber so was ist noch nie vorgekommen!“
„Vielleicht wurde es Zeit, dass so was vorkommt. Ausserdem, was kommt denn vor? Junge Leute machen sich Gedanken über ihr Land – aber dazu wollen wir sie doch erziehen, oder? Wollen wir Zensur ausüben? Wollen wir unser Reden über Humanität und Toleranz ad absurdum führen, indem wir Wasser predigen und heimlich Wein trinken? Und Werner Kotte – nun ja, er ist ein bisschen chaotisch. Ein verkappter Dichter vielleicht. Aber durchtränkt von der Leidenschaft für die deutsche Sprache. Ich kenne ihn nicht anders als verantwortungsvoll …“
„Zynisch ist er! Ausserdem hat er ein Verhältnis mit der Schaffner!“
„Erwin, „das sollte nun wirklich kein Thema sein. Wen geht es an, wer mit wem in die Kiste springt? Die Zeiten sind vorbei, dass wir meinten, darüber richten zu dürfen.“

Der Direktor seufzte, sah Lautengässer in die Augen, und der Lehrer für Staatsbürgerkunde und Geschichte erschrak. Eberleins Augäpfel waren von einem dichten Netz roter Äderchen durchzogen und schwammen in der Feuchtigkeit von Tränen. Die Tochter, fuhr es Lautengässer durch den Kopf. Sie war tatsächlich in den Westen abgehauen und hatte dem Vater den Boden unter den Füssen weggezogen und den standfesten Mann ins Wanken und zum Heulen gebracht. Das war zum Heulen! Es musste schrecklich sein, das Mädchen, das einem näher war als jeder andere Mensch, an, an, ja an den Klassenfeind zu verlieren.

„Vielleicht ist es Zeit aufzuhören. Vielleicht sollte ich in Rente gehen.“ Leise sprach der Direktor weiter.

„Erhard! Was redest du?“
„Die Wurzeln faulen. Die Früchte sind sauer. Die Blätter krank.“
„Was, um Himmels willen, redest du da? Bist du Direktor oder Romantiker?“
„Meine Tochter, Sybille …“

Eberlein stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und kehrte mit einem Foto an den Konferenztisch zurück. Er stellte das Foto so hin, dass Lautengässer nicht an dem Gesicht einer ernst blickenden Frau, um die 25 Jahre alt, vorbeischauen konnte.

Er kannte Eberleins Tochter. Das Foto war älteren Datums. Sybille musste jetzt in den Dreissigern sein. In Kottes Alter, dachte Lautengässer, wie komme ich grad darauf? Sybille war zwar älter geworden, aber sie sah in natura nicht älter geworden aussah. Sie war eine der seltenen Frauen, die sich ihr unbeschwertes, freundliches, allen Menschen zugetanes Wesen bewahrten. Eins solche Tochter hätte er, Lautengässer, sich gewünscht. „Sie ist in München. Sie hat angerufen und gesagt, sie wird vorläufig nicht zurückkommen. Sie meinte, sie liebt mich, und sie hasst die DDR nicht. Aber es müsse mehr geben als nur das Immergleiche. Sie will etwas von der Welt sehen und sich selbst ein Bild von ihr machen. Ein Leben aus zweiter, dritter, vierter Hand – so empfindet Sybille ihr Leben bisjetzt. Sie will nicht in einem Altstofflager leben, sagt sie. Nicht auf einem Platz voller gebrauchter, benutzter Sachen. Der noch dazu von einem Zaun umgeben ist.“ Eberleins Stimme brach.

„Hol sie zurück, Erhard! Es gibt Möglichkeiten, da bin ich ganz sicher. Die Genossen an der Grenze, die Genossen im Bezirk – alle werden es verstehen und dich unterstützen. Und Sybille auch.“
„Ich will nicht!“ Diesmal schlug Eberleins Hand auf die Tischplatte, dass es knallte. „Es ist ihr Leben und nicht meines. Es ist ihr Leben und nicht das der Genossen.“ Eberlein keuchte. Ihm schossen Tränen in die Augen, und dann jaulte er auf. Wie ein Hund, den der Tritt eines boshaften Menschen trifft.

Dr. Erwin Lautengässer empfand Mitleid, selbstverständlich. (Oder Mitgefühl? Es gibt einen Unterschied zwischen dem Mitleiden und dem Mitfühlen?) Er hatte keine Kinder, es war ihm und seiner Frau nicht vergönnt gewesen, welche zu bekommen; und er hatte sich stets gegen eine Adoption gewehrt. Fremde Kinder habe er mehr als genug am Hals, pflegte er zu seiner Frau zu sagen, wenn das Gespräch darauf kam. Es musste einem Vater das Herz zerreissen, von der eigenen Tochter im Stich gelassen, ja verraten worden zu sein. Trotzdem.

„Erhard“, versuchte er es erneut. „Hier an unserer Schule wird der Aufstand geprobt!“

Eberlein schaute den Kollegen an, als visierte er ihn über Kimme und Korn eines Gewehrs. Der Direktor gefror zu einem Eisberg, massiv, abweisend, mächtig. „Der Aufstand - haben wir es nicht eine Nummer kleiner? Ich werde nichts gegen das Programm unternehmen!“
„Wenn es mal nicht Kotte oder Schaffner waren, die neulich von der Wandzeitung die Verlautbarung aus der Zeitung abgerissen haben!“ Dr. Erwin Lautengässer liess nicht locker, konnte nicht lockerlassen, es lag nicht in seinen Genen, loszulassen, wenn er zugebissen hatte.

Grinste Eberlein jetzt? Spöttisch, melancholisch, verloren? Die Wandzeitung, der Zeitungsartikel – der Direktor wusste, wer die Zeitungsmeldung abgerissen hatte. Und es würde sein Geheimnis bleiben. Lautengässer würde er es nicht verraten. Verraten hatte er nie jemanden, nicht mal sich selber.

Aus dem Eisberg Eberlein wurde der Eisbär Eberlein. Wie vor der Wandzeitung vor ein paar Tagen. Sein Kopf ging hin und her. Seine Hände ballte er zu Fäusten, die jetzt auf dem Tisch wie Steinbrocken nebeneinander lagen. Dann blieb sein Schädel auf der linken Schulter liegen, wie abgeschnitten und kurz vorm Runterfallen. Ein Schleier legte sich über das Gesicht, ein grauer Vorhang ging zu. Der Direktor würde nicht ein Wort mehr sprechen. Für ihn war das Gespräch beendet. Und es sollte niemand wagen, ihn jetzt anzusprechen. Eberlein hatte sich in den Käfig, zu dem nur er Zugang hatte, zurückgezogen.

Dr. Erwin Lautengässer begriff, dass er gehen sollte. Er stand auf, warf noch einen Blick auf den sich wiegenden Schuldirektor. Er verliess das Büro. Er hatte das Gefühl, einen Freund verloren zu haben. Es war der Raum eines Vorgesetzten, eines Fremden, eines Mannes, der die Verantwortung, die er zu tragen hatte, nicht mehr zu schultern vermochte.

Für Lautengässer ein klarer Fall von Versagen.

*

Werner Kotte war, als er vor drei Jahren seine Wohnung bezog, unverhofft zu einem Telefonanschluss gekommen. Der Vormieter war Grenzoffizier und musste jederzeit erreichbar sein. Der Oberleutnant war Vater von Zwillingen geworden, bekam eine grössere Wohnung – in Erfurt. In diese Thüringer Stadt wurde er mitsamt seiner Familie versetzt. Es hatte keinen Sinn, den Telefonanschluss mitzunehmen. Es hatte auch keinen Sinn, Kotte das Telefon nicht zu gönnen. Immerhin war er Lehrer, galt allen Untersuchungen nach als zuverlässig, sonst hätte ihm das Wohnungsamt auch nicht die Wohnung zugesprochen. Dass die nicht die Heimstatt eines anderen Offiziers wurde, war eines der Rätsel, die Ämter gelegentlich aufgeben.

Es war schon fast Mitternacht, die Physiklehrerin Schaffner und der Deutschlehrer Kotte lagen Rücken an Rücken im Bett, als das Telefon schellte.

„Wasn los?“, nuschelte die Frau.

„Ein Verrückter“, gab Kotte zur Antwort. „Schlafen wir weiter.“

Das Telefon hörte nicht auf zu schellen.

„Scheisse!“ Werner stand auf und lief in den Flur, wo die kalte Nachtluft ihn anfiel, und nahm den Hörer ab.

„Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen?“ Lautengässer? Hä? Des Kollegen Stimme klang ein bisschen flacher als sonst, am Tage in der Schule, gedämpfter. Kotte dachte, dass könne an zwei, drei, vier Gläser Bier oder Wein liegen, die ein Mitspracherecht erworben hatten.

„Wissen Sie, wie spät es ist, Herr Kollege?“
„Ich weiss. Durchaus weiss ich das. Aber es lässt mir keine Ruhe.“

Kotte schwieg und wartete. Er angelte mit den nackten Füssen nach zwei Hausschuhen, die sich unter dem Schuhschränkchen, auf dem das Telefon stand, tummelten. Wenigstens hatte er es jetzt warm von unten.

„Kann ich mich darauf verlassen, dass … das … dass das Gespräch unter uns bleibt?“
„Welches Gespräch?“ Kotte fand nicht, dass es bis jetzt ein Gespräch gab, bis jetzt gab es nur einen Anruf von Lautengässer, der beschwipst war, und eine geheimnisvolle Ansprache.

„Ich schätze Ihre pädagogischen Fähigkeiten. Ich weiss, Sie gehören zum den … zu dem vom Lehrkörper wie von den … wie von den Schülerinnen und Schülern gleichermassen geachteten Lehrern. Ich weiss auch, dass man das von mir nicht unbedingt behaupten kann …“

Donnerschock! Lautengässer und selbstkritisch! Das sollte man auf Band aufnehmen und jeden Tag über die Lautsprecher in der Schule abspielen. Lag im Wein und im Bier doch die Wahrheit, wie die alten Römer behaupteten? (Wein hielt Kotte übrigens für die am weitesten wirkende Kultur-Leistung der Römer. Dass sie den in Europa verbreiteten, unvergesslich. Ihre Kriege – waren vergänglich und, Kottes historischer Ansicht nach, unnütz. Wenn man davon absah, dass sie Strassen bauten für ihre Truppen, Städte gründeten für ihre Bürger und dafür sorgten, dass ihr Imperium einigermassen geordnet war.)

„Ich … Ich möchte mich entschuldigen, dass ich heute Nachmittag mich in die Aula stellte und zuhörte. Es muss Ihnen vorgekommen sein wie … Spitzelei.“

Weil Kotte nun schon mal in der Antike herumschlich, fielen ihm die Griechen ein. Bei denen gab es so genannte Ohrenbläser. Das waren die, die Gespräche belauschten und weiter trugen zu ihren Auftraggebern. Er hatte sich mit dem neuen Schüler, Gadji, darüber verständigt. Lautengässer war so ein Ohrenbläser. Alle wussten das, alle hatten sich damit arrangiert.

„Mich trieb das Verantwortungsgefühl. Und wie gut! Es schmerzt mich, wenn ich hören muss, wie Jugendliche, wie soll ich sagen? meine, nein, ich meine, unsere Ideale gewissermassen in den Schmutz treten. Ich fühle mich für sie verantwortlich.“
„Für wen? Für mich? Für die Ideale? Für die Jugendlichen?“
„Wenn Sie so wollen, für alle drei. Für Sie. Für die Ideale, von denen ich annehme, Sie haben die auch. Und für die Jugendlichen. Die ahnen in ihrer bodenlosen Leich … Leichtfertigkeit nicht, worauf sie sich einlassen. Und erlauben Sie mir die sachte Kri … Kritik: Sie sollten es denen sagen. Sie spielen mit dem Feuer.“

Kotte sah im Spiegel über dem Flurschränkchen seine Nacktheit an. Das Glied war in der Kälte auf die Grösse einer Walnuss geschrumpft. Mit dem zerzausten Haar auf dem Kopf, mit dem verschwitzten Haar auf der Brust und mit den Schlafknopfzaugen glich er einem Teddybär, der eben aus einer Pfütze gezogen worden war. „Wer spielt mit dem Feuer?“ Ich oder – sie? Oder Sie vielleicht?“ „Ich nicht! Die Jugendlichen! Und Sie vielleicht auch!“

Kotte musste grinsen. Er fand, das Gespräch, wenn es denn eines war, nahm Fahrt in eine unklare Richtung auf. Durch den Alkohol drang Lautengässers Verärgerung. „Ich empfinde das Programm als Verunglimpfung unseres Staates. Gerade in der jetzigen Zeit halt ich es für unsere Pflicht, unsere gemeinsame Pflicht, Herr Kotte, ein klares Bekenntnis zur DDR abzugeben. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns …“

Ffffft! machte Kotte und hielt den Hörer weg vom Ohr, so weit es die Länge seines Armes zuliess.

Christa kam in den Flur, schwankend vor Müdigkeit, auch nackt. Da stand Adam, hier kam Eva. Kotte legte eine Hand über die Muschel des Hörers und flüsterte: „Lautengässer!“ Christa tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. Hatte der nicht mehr alle Tassen im Schrank, oder was? Bei dem piept's wohl! Und verschwand im Badezimmer aufs Klo. Kotte hörte das Rauschens ihres Urins und grinste wieder. Und hörte, wie Lautengässer endete: „… wir sollten morgen in aller Ruhe darüber reden, Herr Kollege!“
„Ich finde“, musste Kotte sagen, „dass sich der Staat im Augenblick selber verunglimpft. Ich will nicht beurteilen, seit wann er das tut. Und warum er das tut. Aber es geht vermutlich schon einige Jahre so. Er ist seit längerem dabei, sich lächerlich zu machen. In gewisser Weise könnte man sagen, der Staat erfüllt eine Voraussage Friedrich Engels. Nämlich er schafft sich ab.“

Diesmal machte Christa, die sich auf Kottes Füsse gestellt hatte, „ffffft! Engels“, um Mitternacht in einem kalten Korridor! Sie küsste Kotte auf die Brust und griff nach seinem Penis, hielt ihn zwischen zwei Fingern und lächelte spöttisch. „Wo isser hin?“
„Eine … sehr, sehr interessante Interpretation. Nur, dass von diesem Staat… von diesem Sozialwesen andere Völker nur träumen können. Und sich wünschen, ihn erst einmal anzuschaffen.“
„Naja“, versuchte Kotte einzulenken, während er wie ein Schneider fror. Christa war auf dem Weg ins Schlafzimmer und krümmte über ihrer rechten Schulter einen Zeigefinger und lockte wie die Hexe den Hänsel und die Gretel. Komm ins Bett, Deutschlehrer! Sonst wirst du zu einem Päckchen Feinfrost-Fleisch. Kotte schüttelte den Kopf, er wollte er das Gespräch zu einem sauberen Ende führen. „Ich bin kein Aussenpolitiker. Es mag so sein, wie Sie es sagen. Allerdings scheint mir, dass unsere Bürger auch Träume haben.“
„Spielen Sie auf die Flüchtlinge an?“
„Auf die Ausreisenden, ja.“
„Meinen Sie, es erfüllt mich nicht mit Sorge, dass manche … ich betone: manche, noch dazu, ähm, Fehlgeleitete, Verführte würde ich sagen –, dass diese Elemente leichtfertig ihre Heimat aufgeben und eine Zukunft im Ungewissen suchen.“ Lautengässer keuchte. Kotte spürte, wie sehr der Kollege sich zusammenriss. Lieber hätte er wohl geschrieen. „'Mauern, die sprachlos und kalt stehen! Klirrende Fahnen im Wind!' Was wollen Sie damit sagen?“
„Hölderlin“, antwortete Kotte knapp.

„Meinen Sie, das weiss ich nicht?“
„Ist Lyrik. Kunst. Und die Mädchen und Jungs wollen das auf der Bühne aufsagen.“
„Ich verstehe … Kunst! Dahinter können Sie alles verstecken! Und diese angeblichen Kinderlieder! Vom Viehweger! Auch Kunst?“
„Sie machen sich ihr Bild. Sie müssen sich zurechtfinden in ihrem Leben. In ihrem Land. Es fällt momentan nicht ganz leicht.“ Warum rede ich mit dem Kerl überhaupt? Woran glaube ich? Daran, dass der Mensch sich überzeugen lässt mit guten Worten, Argumenten – Blödsinn! Es gibt welche, die verstehen nur, was sie selbst anwenden: Misstrauen, Gewalt, Eins-in-die-Fresse-aber-mit-Karacho!

„Kinderlieder! Was soll der Kokolores?“
„Ich weiss nicht recht, was Sie wollen, Kollege Lautengässer. Halten Sie es für sinnvoll, Gedichte zu verbieten? Auch nur ein Gedicht zu verbieten? Abgesehen davon habe ich noch von keinem Gedicht gehört, das einen Palast zertrümmert oder eine Grenze geöffnet hätte.“
„Wir sollten noch mal in Ruhe darüber reden!“
„Müssten wir nicht gemeinsam daran interessiert sein, selbstbewusste, unangepasste, selbst denkende Menschen zu erziehen? Ist es nicht das, was wir unter Humanität verstehen?“ Gott, bin ich bescheuert. Lasse mich mitten in der Nacht auf einen Disput mit einem Ohrenbläser ein! Friere mir die Eier ab, während der wahrscheinlich in seinem warmen Bettchen liegt und nebenher am Rotwein süffelt.

„Gute Nacht!“ Werner Kotte legte auf und schlüpfte ins Bett.

Christa war schon fast wieder eingeschlafen. Sie stupste ihn mit dem Hintern weg, als er sich an sie drängte. „Nur ein bisschen aufwärmen“, flüsterte er, „es sind kalte Zeiten.“
„Ehe ich dich aufgewärmt habe, hast du mich schockgefroren.“ Aber sie wollte mal nicht so sein. Und so dauerte es doch wieder eine halbe Stunde, ehe sie voneinander abliessen, sich auf die Seite drehten und matt und zufrieden einschliefen. Kotte schnorchelte ein bisschen, aber das störte niemanden. Und vielleicht schnarchte Hölderlin, der Holde, in seinem Tübinger Turm auch.

Freitag, 6. Oktober 1989

Die Zeitungen vom Tage waren prallvoll mit Berichten über Auszeichnungsveranstaltungen, Grussschreiben aus aller Welt, Dankesbriefen von Kollektiven aus der Industrie und der Landwirtschaft.

Vierzig Jahre Sozialismus haben die Vitalität des Sozialismus in der DDR bewiesen. Rita Asch aus Gera, Ökonomin im Bereich Forschung des VEB Kombinat Carl Zeiss Jena nimmt als 25.000. Besucher der Ausstellung „40 Jahre DDR“ Blumen und einen Katalog entgegen.

Die 30jährige Tatjana Mitterer aus dem VEB Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober“ Berlin erhält den Nationalpreis der DDR. Sie war mitbeteiligt an der Entwicklung von Bausteinen zur rechnerintegrierten Produktion in Maschinenbaubetrieben.

Auf der ersten Seite der „Jungen Welt“ steht ein Gedicht von KuBa. „Sagen wird man über unsre Tage: Altes Eisen hatten sie und wenig Mut … Und doch planten sie und bauten und bewegten Trümmersteine. Und im überlegten Handeln fluchten sie. Ach, zweifelten sie noch ihre eigene Kraft an … Doch den Kriegen folgte jene Zeit der Wettbewerbe, und die Zeit der Wettbewerbe war der Anbeginn.“ Einen Tag zuvor, am 5. Oktober, beging das Oberkommando der Westgruppe der Streitkräfte der UdSSR in Wünsdorf mit einer Festveranstaltung den 40. Jahrestag der DDR.

Die Kleingartenanlage „Einigkeit“ macht ihrem Namen alle Ehre.

Auf den aussenpolitischen Seiten der Zeitungen stand zu lesen: Rude Pravo: Bonner Obhutspflicht ist absurd. Le Quotidien de Paris: Briten und Franzosen lehnen Wiedervereinigung ab. Morning Star: Grobe Einmischung der BRD in Angelegenheiten der DDR.

*

„Ich mach' mir in die Hosen.“ Sylvia Hohberg lumpschte durch einen Spalt im Vorhang in den Saal, der aus Lautsprechern mit Arbeiterkampfliedern bespielt wurde. Allmählich füllte sich die Aula.

Peter Sandburg sass mit käsigem Gesicht auf einem Stuhl und presste beide Hände auf die schlotternden Knie. „Scheisse, o Scheisse! Ist mir schlecht!“
„He, was soll schon sein! Wir ziehen die Chose durch, und nach uns die Sintflut!“ Gernot legte einen Arm um Veras Schulter. Doch das Mädchen entwand sich und schaute in einen Spiegel. Riesengross blickten ihre Augen sie an.

Dass Gernot nicht so cool war, wie er erscheinen wollte, verriet er, als er Gadji anfauchte: „Kannst du nicht mit dem Geklimper aufhören!“ Gadji sass auf dem Bühnenboden, ein Bein angezogen, auf dem Knie die Balalaika. Seine Gelassenheit provozierte Gernot.

„Das ist deren Mentalität“, flachste Peter. „Orientalisch. Deswegen haben sie den Krieg gewonnen. Sie sind einfach drauflos marschiert, bis sie plötzlich merkten, dass sie in Berlin angekommen waren.“
„Schopotschnik!“ Gadji grinste ihn an. Er konnte sicher sein, dass das Wort Arschloch im Russisch-Unterricht in all den Jahren nicht vorgekommen war. Mit seiner Muttersprache hatten die Klassenkameraden sowieso nicht viel am Hut.

Plötzlich hörten die Geräusche im Saal auf. Die Lautsprecher verstummten. Das Gescharre und Gewisper brachen ab.

„Es geht los!“, hauchte Maria. „Mamma mia!“

Beifall kleckerte los, er schwoll an und wurde rhythmisch. Sylvia meldete: „Eberlein und sein Gefolge!“

Der Direktor, hinter ihm eine Traube von Lehrern und Gästen, schritt durch den Mittelgang zur ersten Reihe, wo sie Platz nahmen; Lautengässer sass drei Plätze weiter rechts neben Eberlein, in der zweiten Reihe sassen Kotte und Schaffner nebeneinander. Sie griff nach seiner Hand, die schweissfeucht war.

„Lampenfieber?“, flüsterte Christa. Werner schüttelte den Kopf. „Angst?“ Kotte schüttelte wieder den Kopf.

„Muffensausen“, sagte er. „Ohne Ende.“ Sylvia von ihrem Beobachtungsposten am Vorhang: „Jetzt redet Eberlein gleich!“

Die kurze Treppe hinauf zur Bühne knarrte unter den Schritten des schweren, grossen, leicht gebeugt gehenden Mannes. Es war bis in die staubigste Ecke der Aula zu hören. Der Direktor stellte sich hinter das Podest, räusperte sich und begann:

„Verehrte Gäste, liebe Schülerinnen und Schüler, ich werde nicht lange reden. Gewiss nicht. Zumal, es gibt nicht viel zu sagen. Warum wir heute zusammengekommen sind, ist jedem klar. Unsere Republik begeht ihren 40. Geburtstag.“ Eberlein machte eine erste Pause, und jeder im Saal spürte, dass der Direktor anders auftrat als sonst. Der Elefant, wie er seiner Gutmütigkeit, seines Gedächtnisses und seines massigen Körpers wegen genannt wurde, schien zu wanken. Er fühlte sich sichtlich unwohl und zog an der Krawatte, die ihm den Hals abschnürte.

„Ich werde darauf verzichten, die eine oder andere Anekdote zu erzählen.“

Im Saal wurde gekichert. Das kannten sie von ihrem Direx. Er würzte seine Reden gern mit Erlebnissen aus seinem Leben. Eberlein wusste manche Schnurre aus den letzten vierzig Jahren zu erzählen, und er verstand es, ein Publikum zu unterhalten.

„Es ist ein Zufall, dass der vierzigste Jahrestag der Republik auch fast auf den Tag genau der vierzigste Jahrestag meines Beginns als Lehrer ist. Vierzig Jahre lang Lehrer zu sein – das ist, wie die Jüngeren unter euch sagen würden, ein echter Hammer. Dass ich die überstanden habe, ohne meine Haare vollständig zu verlieren …“

Wieder wurde gekichert.

„ … Vierzig Jahre überstanden zu haben, ohne dem Suff zu verfallen und ohne den einen oder anderen Zögling zu Boden zu strecken – das rechne ich mir selbst als Leistung an.“

Eberlein schaute irritiert, als das Publikum applaudierte. So viel wusste jeder im Saal: Lehrer oder Direktor zu sein, war anstrengend und ging an die Grenzen der Leistungsfähigkeit inklusive Leidensfähigkeit. Noch der gleichgültigste, mitleidloseste Schüler hatte ein Gespür dafür, was er einem Lehrer antun konnte – und wie dick das Fell eines Lehrers sein musste, um nicht vorzeitig in der Klapse zu landen oder aggressiv auszurasten, einen Infarkt zu bekommen oder abzuwinken und die Klasse zu verlassen; sollten die doch ihren Scheiss alleine machen und dämlich sterben!

„Ich habe in den letzten Wochen nachgedacht. Nicht, dass ich nicht auch vorher nachgedacht hätte. Aber ich habe das erste Mal in meinem Leben, ich glaube, das stimmt sogar, ganz und gar – nur über mich nachgedacht. Ich habe dabei festgestellt, dass ich ein erfülltes Leben als Lehrer und Direktor hatte. Und ich habe festgestellt, dass es auch ein Ende haben muss.“ In die atemlose Stille hinein fuhr er fort: „Es gibt in einem Leben Signale, die ein Mensch nicht überhören darf. Der Körper streikt. Das Herz schmerzt. Ein vertrauter Mensch verlässt einen. In der Art, meine ich. Man sucht nach Wörtern, die einem plötzlich entfallen, obwohl man sie jahrzehntelang in petto hatte. Eine unzulässige Frage taucht morgens auf, bevor man aus dem Bett steigt, in dem man am liebsten liegen bliebe: War das alles, war es das im Leben, was du wolltest, ist da noch was anderes? In dieser Art. Diese Signale meine ich.“

Er verstummte erneut. Kein Mucks im Saal. Das Gerücht, Eberlein wolle seinen Job hinschmeissen, gab es seit Tagen. Wie das Gerücht, dass seine Tochter nach Westdeutschland ausgereist war. Das eine konnte mit dem anderen zusammenhängen? Die Tochter - eine von Hunderten, die sich seit dem Sommer auf den Weg über die so genannte Grüne Grenze zwischen Ungarn und Österreich gemacht hatten. Die Fama kam von irgendwoher geflogen, ein grauer Vogel, der sich mal hier, mal da niederliess und aus seinen Eiern Spekulationen ausbrütete. Eine Schule ist ein geeigneter Ort für Gerede und Geschwätz und Geschnatter, wie es ein Dorf ist, eine Fabrik.

„Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich möchte ihn euch allen mitteilen, bevor ich die amtlichen Wege gehe. Nicht, weil mir an einer Sensation liegt oder an einem Spektakel. Daran war mir nie gelegen, das weiss wohl jeder hier im Saal. Auch nicht, weil ich mit der Traurigkeit, die ich natürlich fühle, euch anstecken will. Im Gegenteil. Wir werden den Geburtstag der Republik feiern, wie es sich gehört. Und ich werde mitten unter euch sein, auch wenn ich jetzt sage: Ich werde meinen Posten als Direktor niederlegen und in Rente gehen.“

Gegen das Pathos, das in die Rede geraten war, war kein Krau gewachsen. Unbeabsichtigt von Eberlein, er hatte es gewiss nicht beabsichtigt – so eitel war er nicht -, wühlten seine Sätze die Zuschauer auf. Vielleicht war Dr. Erwin Lautengässer der einzige, der verblüfft und mit offenem Mund um sich sah, als konnte er es nicht fassen. Stand denn niemand auf und rief: So geht das nicht, Genosse Direktor! Sie können nicht einfach verkünden, dass Sie den Bettel hinwerfen, bevor Sie mit den zuständigen Ämtern und Beamten gesprochen haben! Das ist doch … Ja, was war es denn?

Es waren die Erkenntnis und die Entscheidung eines Mannes, der vierzig Jahre redlich gearbeitet hatte und nun befand, dass es genug war. Wer ihm Böses wollte, konnte ihm unterstellen, dass er seinen Posten verliess, ohne an die Folgen zu denken. Aber wer so dachte, dachte unmenschlich. Wer so dachte, wusste nicht, dass Menschen nicht aus Politik und Ideologie bestehen, sondern aus Fleisch und Blut und etwas, das man Seele, Gewissen oder Herzleben nennen konnte.

Lautengässer sah niemanden, der empört gewesen, niemanden, der verwundert – auch niemanden, der gelangweilt gewesen wäre. Niemand spielte mit dem Nachbarn Schiffeversenken. Niemand nickerte vor sich hin, wie es bei ähnlichen Veranstaltungen oft genug der Fall war.

„Wir sind zusammengekommen, um den vierzigsten Geburtstag der DDR zu feiern. Das werden wir tun. Ich habe allen Grund, diesem Staat dankbar zu sein, und das bin ich auch. Ich glaube allerdings – ich schaue gewissermassen vom Turm meines Alters zurück und um mich herum – es ist nicht unbedingt ein Vorzug, der vermutlich Älteste hier im Saal zu ein. Und ich denke, ich bin der Älteste hier. Und wenn ich zurückschaue, schaue ich nach vorn. Das habe ich gelernt. Das ist die Dialektik meines Lebens. Wenn ich also nach vorne schaue, spüre ich ein bisschen Bange. Es ist die Furcht, dass in dem nahenden Unwetter, das ich in meinen alten Knochen spüre, alles untergeht, wofür ich gelebt habe. Wofür es sich lohnt zu leben. Worauf junge Menschen vorbereitet werden müssen, denke ich. Auf ein Leben im Sozialismus, der eure Kreativität braucht, eure Lust am Leben, euren Willen, zu vollenden, weiterzumachen, was solche wie ich begonnen habe. Wie schwer das sein wird, ahne ich.“

Kotte und Schaffner sahen sich an. Eberlein war immer ein Mensch und Genosse gewesen. Er war immer grosszügig und streng gewesen. Er war immer ein treues und diszipliniertes Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gewesen. Und er war immer ein Mann gewesen, der zuhören konnte, nicht vorschnell urteilte und gleich gar nicht den allwissenden Führer gab. Und Eberlein war nicht dafür bekannt, die Tür zu seiner Seele aufzureissen wie es Kinder tun, wenn sie im Dezember die Türchen zu ihren Weihnachtskalendern öffnen. Sein Inneres – und das war es - während einer öffentlichen Veranstaltung zu offenbaren – das war, das war befremdllich, unerhört, nie gehört und – rührend. Der Direktor, schickte seine Blicke durch den Raum. Als wollte er jedem einzelnen in die Augen schauen. Hatten sie begriffen, was ihn beunruhigte? Ohne, dass er stundenlang darüber reden musste? Auf seinem Gesicht erschien plötzlich ein jungenhaftes Lächeln. Es ging nicht darum, dass sie ihn begriffen, es ging darum, dass er sich selber begriff und was er zu tun hatte, allein für sich:

„Ich möchte es mit einem noch Älteren halten. Goethe. ‚Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn, es sei, wie es wolle, es war doch so schön'. Nun, was ist? Kriege ich keinen Beifall? Nicht mal dafür, dass mein Kopf noch funktioniert? Und der sagt mir auch, dass eine spannende, problematische Zeit auf uns zukommt. Auf uns alle. Aber wofür sind Probleme da? Dafür, gelöst zu werden! Und wofür sind alte Knacker wie ich da? Um Platz zu machen den Jüngeren, alles klar?“

Nun prasselte der Beifall los. Während Eberlein sich vor dem Publikum verbeugte, von der Bühne herabstieg und mit den Händen beschwichtigte, dass es gut sei, dass es genug sei mit dem Applaus … „Das Programm!“, rief Eberlein durch das Lärmen. „Wir wollen jetzt das Programm der 12d anschauen!“

In die Unruhe im Saal tönte es aus einem Lautsprecher: „Achtung, Achtung! Gesucht wie ein Land, das zirka 110.000 Quadratkilometer umfasst und etwa 17 Millionen Einwohner hat. Seine Hauptstadt ist Berlin, auch wenn manche sagen, das ist keine richtige Hauptstadt, sondern eher ein Klumpen der Geschichte.“ Die Ansage wurde unterbrochen von den Klängen einer Balalaika, und der Vorhang öffnete sich. Im Saal wurde es still.

Ein Flugzeug näherte sich. Sein Geräusch schwoll an, schon streifte das ausgefahrene Fahrwerk das Dach der Schule. Die meisten Zuschauer zogen instinktiv die Köpfe ein. Dann entfernte sich das imaginäre Flugobjekt. Ein Aufatmen ging durch den Saal. Auf der Leinwand im Hintergrund der Bühne erschienen in rascher Folge die Porträts führender Staatsmänner des zwanzigsten Jahrhunderts. In einen Lichtkegel trat Gernot Klinkermann und sprach:

„Die Völker schwiegen, schlummerten, da sah
Das Schicksal, dass sie nicht entschliefen, und es kam
Der unerbittliche, der furchtbare
Sohn der Natur, der alte Geist der Unruh.
Der regte sich, wie Feuer, das im Herzen
Der Erde gärt, das wie den reifen Obstbau
Die alten Städte schüttelt, das die Berge
Zerreisst und die Eichen hinabschlingt und die Felsen.“

Auf der Leinwand blieb ein Bild stehen. Es zeigte den Staatsmann Erich Honecker und den Staatsmann Leonid Breshnew, die sich zur Begrüssung umarmten und innig küssten. Im Saal wurde gekichert und „Pssst!“ gezischt. Als das Standbild von einem Porträt Michail Gorbatschows durchblendet wurde, war es wieder mucksmäuschenstill im Raum.

„Und Heere toben, wie die kochende See.
Und wie ein Meergott, herrscht' und waltete
Manch grosser Geist im kochenden Getümmel.
Manch feurig Blut zerrann im Todesfeld
Und jeder Wunsch und jede Menschenkraft
Vertobt auf Einer da, auf ungeheurer Walstatt,
Von dem blauen Rheine bis zur Tyber
Die unaufhaltsame, die jahrelange Schlacht
In wilder Ordnung sich umherbewegte.
Es spielt' ein kühnes Spiel in dieser Zeit
Mit allen Sterblichen das mächtige Schicksal.“

Gernot verstummte. Mit einem Mal zog er eine Grimasse und streckte dem Publikum die Zunge raus. Auf der Leinwand erschienen die Gesichter von Albert Einstein und Mick Jagger, die ebenfalls ihre Mundlappen heraushängen liessen. Schnapsschüsse der Frechheit, der Lust, der Provokation. Und herbeigehüpft kam Sylvia Hohberg, die Gernot aus dem Lichtkegel drängte und sich zurechtstellte. Sie drehte die Zehenspitzen zueinander, zupfte sich am blauen Halstuch der Jungpioniere und verschränkte die Hände über der Brust in Herznähe. Dann begann Maria auf dem Klavier die Melodie zu spielen, und Sylvia begann zu singen: „Dass Braunkohle nie alle wird …“ Als sie das Lied beendete, lachte das Publikum; nicht schadenfroh oder höhnisch, fröhlich, gelöst, und es gab Szenenapplaus.

Überhaupt hatten die Akteure das Publikum gebannt.

Anfänglich war es irritiert, und nicht wenige schauten auf Eberlein und Lautengässer, wie die reagierten. Nicht eindeutig, nicht beide gleich. Während Lautengässers Gesicht finster und finsterer wurde, schien sich Eberlein zu amüsieren. Auf dem Gesicht des Direktors lag eine konzentrierte Gelöstheit. Der ganze Mann beuge sich nach vorn, um sich kein Wort und keine Geste der Mädchen und Jungen auf der Bühne entgehen zu lassen. Er war gefangen, bevor es die anderen alle, fast alle, auch waren.

Es war ein unterschiedliches Gefangensein. Einige, die meisten, schauten und hörten mit wachsendem Vergnügen zu. In die Gesichter einiger Lehrer und auch einiger Schülerinnen und Schüler war ein Frost gefahren. Sie wollten keine Regung zeigen. Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Sie wollten keine Partei nehmen. Weder für das Programm noch gegen das Programm. Sie wollten abwarten, bis sie in die Meinung der Mehrheit einstimmen konnten.

Lautengässer, auf den viele starrten, als erwarteten sie eine Entscheidung, fühlte sich unter Druck gesetzt. Ihn interessierten die Reaktionen seiner Kolleginnen und Kollegen. Dass die Schaffner sich amüsierte, war ja völlig klar! Dass der Sportlehrer Kowalski auch an diesem Feiertag seinen Trainingsanzug trug und sich breitbeinig hingefläzt hatte – was war anderes zu erwarten von diesem ehemaligen Boxer, dem ein paar Mal zu viel die Birne weich geklopft worden war! Dass der sich zu amüsieren schien wie Bolle auf dem Milchwagen – welche Ahnung hatte der schon von Politik und Geschichte, einfach widerlich!

Sowieso war er ohnmächtig. Lächerlich würde er sich machen, stünde er jetzt auf und protestierte. Er konnte aufstehen und den Saal verlassen, aber diese Art von Protest erschien ihm absurd. Eine Flucht kam nicht in Frage. Doch was tun? Zumal das Programm geschickt mit Zutaten spielte, die wirksam waren, einander ergänzten, und war nicht alles wahr, was auf der Bühne gesagt und gespielt wurde? Den Strafbestand der Staats- und Volkshetze jedenfalls erfüllte das Programm gewiss nicht …

Jetzt sassen sich an einem Küchentisch Vera und Gadji gegenüber.

„Muij s toboij na kuchnje posodim, Sladko pachnjet beluij kerosin”, sprach der Junge zu dem Mädchen und schob seine Hände über den Tisch.

Vera übersetzte: „Setzen wir uns in die Küche hin, Süss riecht hier das weisse Kerosin.“
„Ostruij nosch da chljeba karawaij … Chotchesch, primus tugo nakatschaij.“
„Ein Laib Brot, dazu ein Messer scharf, Willst du, pump den Primuskocher auf.“ Als Werner Kotte dem Jungen angeboten hatte, ausser dem Kalinka-Lied noch ein oder zwei Beiträge zum Programm zu übernehmen, hatte Gadji gezögert. Er bat sich einen Tag Bedenkzeit aus. Er wolle seinen Vater fragen.

Wozu das nötig sei? hatte der Deutschlehrer gefragt. Gadji hatte mit den Schultern gezuckt, Kotte würde das sowieso nicht verstehen. Er, Gadji, fühlte sich nicht als normaler Schüler an einer normalen Schule. Was wussten die Schulkameraden denn von ihm und von seinem Leben? Schulkameraden – waren sie das? Was wollten sie wissen? Nichts, seiner Meinung nach. Ich bin ein Fremder unter Fremden, ein Indianer, ein Türke, ein Neger – wie das Mädchen sagte, neulich, vor ein paar Wochen erst. Das er am ersten Schultag an der Strassenbahn-Haltestelle getroffen hatte. Die Deutschen und die Russen – das waren nicht mal Nachbarn, die sich fremd geblieben waren. Das hatte Gadji sehr rasch gemerkt. Sie sagten einander Guten Tag! und Auf Wiedersehen! Ja, höflich waren die Deutschen sehr. Aber sie mochten die Russen nicht, war sich Gadji sicher.

Einmal war er auf einem Freundschaftstreffen gewesen. Soldaten der Roten Armee trafen sich mit Soldaten der Nationalen Volksarmee. Ein Rohrkrepierer war das! Erstens waren es weniger Soldaten als mehr die Offiziere, die sich gegenseitig in Reden der Waffenbrüderschaft und Freundschaft versicherten. Zweitens endete das Treffen in einem Besäufnis, und als Gadji seinen Vater nach Hause begleitete, fragte er: „Was haben wir hier zu suchen? Wir haben nichts gemeinsam mit ihnen. „Nitschewo, absolutno nitschewo!“ Was für ein Dummkopf er sei, hatte der Vater, einige Wodkas intus, geantwortet. Wir haben ihnen den Hitler vom Hals geschafft! Wir sind die Garantie, dass sie und wir in Frieden leben können! Ja, die ganze Welt kann das! Dafür sind wir hier! – Aber Freundschaft kann man nicht anordnen oder befehlen, beharrte Gadji. Man kann sie nicht erzwingen und schon gar nicht herbeisaufen. – Ooch, hatte der Vater gelallt, besser man trinkt miteinander als dass man aufeinander schiesst.

Als Gadji seinen Vater fragte, ob er an dem Programm seiner Klasse teilnehmen sollte oder nicht, riet der ihm weder ab noch zu. „Eto twoij reschenije. Tuij gost w germanii i gosti nje nasoijliwuiji.“ Anderntags teilte Gadji Kotte mit, dass er dabei sei.

„A nje to wremel soberi Sawjastj korsinu do sari.“ “Und wenn nicht, such Stricke vor der Tür, Dass vorm Morgen wir den Korb schnüren.“ Hinter dem Vorhang standen die Mitspieler und hörten gebannt zu. Sylvia seufzte leise, Sandburg griente. Und Viehweger verdrehte die Augen: „Muss Liebe schön sein!“
„Halt die Schnauze!“ fauchte Gernot. Seine Rechte krampfte sich in den Samt des Vorhangs.

„Na he!“ konterte Viehweger. „Wie die sich anschauen!“
„Was ein richtiger Kerl ist, Gernot, der muss auch verzichten können.“ Sandburgs Bemerkung brauchte Gernot wie einen Pickel am Hintern.

„Pssst! Es ist nur ein Spiel, versteht ihr Affen das nicht!?“, sagte Maria.

„Tschtobuij nam ujechatj na woksal, Gdje buij nas nikto nje otkujsal.“
„Und zum Bahnhof gehen in der Frühe, Wo uns niemand sucht und keiner findet.“

Gadji und Vera standen auf, schlenderten Hand in Hand über die Bühne und verschwanden hinter dem Vorhang. Dort, wo die Steppe begann oder ein Wald, in dem zwei Liebende der Welt verloren gehen könnten. In die Stille hinein gab es den ersten erlösenden Klatscher, dann prasselte der Beifall los.

„Was war das denn?“ fragte Christa Schaffner ihren Sitznachbarn, der vor lauter Konzentration auf das Spiel seiner Leute hochrote Wangen hatte. Knallbacken, dachte sie, o süsser Hölderlin!

„Ich würde sagen: eine öffentliche Liebeserklärung. Biblisch gesprochen: Sie erkannten einander.“
„He, he, ist das nicht die Stelle, wo es Adam und Eva das erste Mal miteinander machen und einen Sohn zeugen?“
„Es ist die Stelle, wo dieser Ärger zwischen Mann und Frau begann. ‚Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ „Das ist mir grade sehr schnurz, mein Vorbeter! Ausserdem gefällt mir dieser Ärger!“
„Wenn du jetzt nicht stille hältst und nicht deine Hand von meinem rechten Oberschenkel nimmst, mache ich ein grosses Geschrei.“
„Ach, Kottchen, ach, Gottchen! Ein grösseres als in der letzten Nacht?“ Hinter dem Vorhang hatte Sandburg Gadji gegen die Brust geboxt und „Molodjez!“ geschnauft. Prachtkerl! „Wenigstens ein Wort“, lästerte Sylvia, „das du in sechs Jahren Russisch gelernt hast.“ „Ich weiss noch immer nicht, warum wir dieses Gedicht in unser Programm aufgenommen haben“, maulte Gernot.


„Es ist eine Note darin, eine Farbe, eine Nuance“, meinte Vera. Sie spürte, dass zwischen Gernot und Gadji eine Spannung entstanden war, schon während der Proben. Schon seit Wochen und erst recht, seitdem sie zusammen arbeiteten. Waren diese Jungs nicht die reinsten Knalltüten? Ob das immer so ist, dass ihnen vor lauter Testosteron Knochenwülste über den Augen wachsen und Hörner auf dem Kopf damit sie wie Moschusochsen aufeinander losgehen können?

„Mir muss niemand das Programm erklären“, entgegnete Gernot Klinkermann und trat durch den Vorhang auf die Bühne. Wo ihn Maria und Peter zu einem Sketch erwarteten, in dem es um das Schulessen und den Zusammenhang zwischen gesundem Körper und gesundem Geist ging. Ein Klassiker. Kabarettistische Inseln durften nicht fehlen in diesem Meer von Poesie. Nur Hölderlin und Mandelstam und Heine und Viehweger – das überforderte den anspruchvollsten Zuschauer. Selbst einer wie Kotte musste zwischen den Gedichten die Luft des Einfachen atmen. Und es sassen schliesslich nicht nur Kottes in der Aula, auch wenn es die Aula einer Elite-Schule war.

*

Sie waren aufgekratzt, aufgedreht, wie Wasserhähne, aus denen das Wasser nur so sprudelt. Sie hatten Wein getrunken und konnten noch immer nicht fassen, welch ein überwältigender Erfolg das Programm gewesen war. Am Ende gab es stehende Ovationen.

„Ick hab mir jefühlt wien Rockstar“, fiel Sandburg vor Rührung ins Berlinische. ---„Wir sind Rockstars“, sagte Sylvia und drehte eine Pirouette, dass ihr Rock flog. „Für ein paar Minuten Weltruhm!“ --- „Alle Leitungen freihalten, falls Hollywood anruft!“ --- „ Ich wusste gar nicht, Maria, dass du so gut Klavier spielen kannst?“--- „Wir sind ja auch erst seit drei Jahren zusammen in der Klasse, Blödmann!“ ---„Ein Prost auf Viehweger, den zukünftigen Nationaldichter!“ --- „Von welcher Nation denn?“ --- „Mal Ruhe jetzt! Kann ich bitte mal Ruhe haben, he?!“, rief Werner Kotte.

Sie setzten sich auf den Bühnenboden, ein lockerer Kreis, Kotte mitten unter ihnen. Auch Christa Schaffner hatte sich ihnen zugesellt. Direktor Eberlein hatte ihnen erlaubt, die Aula für einen Umtrunk zu nutzen. Und er hatte ihnen zu dem Programm gratuliert! So mussten sich Popstars, Schauspieler und Politiker fühlen, wenn das Publikum sie durch Beifall adelte. Und Kotte hatte ein paar Flaschen Wein spendiert, und es waren noch einige da. Sie waren wild entschlossen, sie bis zur Neige zu trinken. „Ruhe! Unser Chefregisseur will ne Rede halten!“
„Quatsch mit Sauce, Sandburg! Aber der sei Ihnen heute verziehen. Sie haben mich mit ihrem komödiantischen Talent das erste Mal seitdem wir uns kennen überrascht.“
„Broadway, ich komme!“ krähte der Junge.

„Gut. Also. Ich muss gestehen, ich hatte Fracksausen.“

Kotte blickte ernst wie sonst nur, wenn sich jemand über Hölderlin lustig machte. Was seit langem niemand mehr tat, weil jeder wusste, dass man einem Menschen seine Marotte lassen sollte. Solange er nicht dogmatisch, aggressiv oder unverschämt wurde.

„Ich war mir nicht sicher, ob unser Programm als Provokation aufgenommen würde oder als das, was wir wollten. Eine ernstliche, tiefer gehende Prüfung der Geschichte und des jetzigen Zustandes der DDR.“
„Uh! Haben Sie's nicht ne Nummer kleiner, Herr Kotte!“, rief Viehweger.

„Hab ich. War ein Ausrutscher ins Pathetische. Logisch, das kann ein einzelnes Programm nicht schaffen. Aber ich finde, wir waren gerecht. Wir waren, was waren wir, Maria?“

Das Gesicht des Mädchens, das die stillste unter ihnen und ausserdem eine baldige Robert-Schumann-Preisträgerin war, färbte sich rot wie ihr Haar. Ob es von der Verlegenheit kam oder vom Wein – sie bot an: „Dialektisch?“
„Dialektisch, richtig. Und ehrlich, ich bin jetzt glücklich. Und ich bin, ich sag's nicht gern, stolz auf euch.“
„Sowas machen wir mit links“, tönte Sandburg.

„Ich habe Lautengässer beobachtet“, sagte Viehweger. „Der ist auf die Grösse eines Rumpelstilzchens geschrumpft. Ich hab gesehen, wie er um das Feuer tanzte und sang: ‚Morgen hol ich mir euch, ihr Kontras!'“
„Immerhin ist Herr Doktor Lautengässer Ihr Lehrer, Mark. Ich muss auf ein bisschen Respekt pochen.“ Kotte grinste.

„Gibt eben solche und sone Lehrer“, erwiderte Viehweger und steckte seine Nase in den Pappbecher mit Wein.

„Dieser Viehweger! Was für ein schlaues, superschlaues Kerlchen der doch ist!“, sagte Sylvia.

Plopp! machte ein nächster Korken. Gluckgluck!

Und Stille. Endlich Ruhe. Ein Engel flog vorüber und hatte alle Wörter eingesammelt, die vom Programm, die von den Proben, die von den Minuten vor dem Auftritt und die von den Minuten nach dem Auftritt. Als die Aula sich leerte und sie zurückgeblieben waren in einem Zustand der Euphorie, wie sie die noch nie erlebt hatten. Als sie gar nicht still stehen konnten und hin und her laufen mussten und sich gegenseitig auf die Schultern schlugen und vor die Brust boxten. Jetzt flog dieser Engel durch den Raum. Mit den Flügeln des Hochgefühls, das er sich von den Mädchen und Jungs geliehen hat. Und kreiste um die Kronleuchter, die Licht in den beginnenden Abend tröpfelten.

Mit der abfallenden Spannung kam die Mattigkeit. Sie waren Kameraden, die nach einem Kampf vollzählig und gesund geblieben waren. Niemand war untergegangen, niemand war verraten worden, niemand wurde zurückgelassen. Einer für alle, alle für einen. Eine für alle, alle für eine. Niemand von ihnen würde es aussprechen, jetzt nicht und vielleicht niemals, aber wie sie auf der Bühne aufgetreten waren und jetzt sassen, waren sie ein Bündnis eingegangen. Ein Bündnis, das weder ein Statut noch eine Führerschaft benötigte. Sie gehörten zusammen. Freunde für immer, forever und – dlja wsjegda.

„Ich möchte Wein.“ Vera hielt ihren Becher hin und sowohl Gernot, der links neben ihr, als auch Gadji, der rechts neben ihr sass, wollten nachgiessen. Ein Duell mit Flaschen und mit einem Pappbecher. Gadji zog zurück, Gernot goss ein.

Vera wollte von diesem Duell nichts wissen. Die Augen geschlossen, hatte sie ihren Kopf weit in den Nacken gelegt. Auf der Bühne war sie ihr langes, blondes Haar zu einem strengen Zopf gebunden gewesen. Jetzt hing es offen und berührte den staubigen Filzboden der Bühne. Das Mädchen richtete sich auf, hob den Becher und sagte pathetisch: „Ich liebe euch. Ich liebe euch alle. Jeden von euch liebe ich. Und ich glaube daran, dass nur die Liebe die Welt zur besten aller Welten machen kann. Ich meine, wenn es da draussen im All noch irgendwo eine Welt gibt -, dann werden wir sie bevölkern. Auf euch, Freunde!“

Der Engel, der kurz vorher die Kronleuchter umkreist hatte, setzte sich auf das Fensterbrett. Er hielt den Kopf schräg und musterte die Runde. Er wusste alles über Menschen. Und gerührt und traurig (wie auch ungerührt und heiter zugleich) dachte er, dass junge Menschen zu allen Zeiten liebenswerte und törichte (wie auch nervende und schlaue) Geschöpfe waren. Die Welt, die Liebe, Freunde – schöne, starke Wörter, schöne, starke Gefühle. Voller Kraft, Wörter für junge Menschen. Und wehe, sie kommen einem Menschen nicht wenigstens einmal im Leben über die Lippe, fahren nicht wenigstens einmal in einen Menschen! Wehe, sie kommen nicht wenigstes einmal im Leben vom Herzen, das übervoll ist und sich sehnt und sich verbündet mit Gleichgesinnten! Und wer's nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund, jawohl, so sei es, so muss es sein. Und wenn es einmal im Leben ist.

Der Engel betrachtete Vera Lothringen. Ein schönes Menschenkind. Es glaubt an die Liebe, es glaubt an die Reinheit, es glaubt an eine Zukunft in Frieden und Harmonie. Solche wie Vera kommen immer zu früh auf die Welt oder zu spät.

Der Engel runzelte die Stirn und seufzte unhörbar. Er weiss es besser, er kennt die Menschen und ihr Treiben. Die Wahrscheinlichkeit, ein Leben in Liebe zu verbringen, geht aller Menschen-Erfahrung nach gegen Null. Das Böse ist immer und überall, wer könnte davor sicherer warnen als ein Engel? Aber den gibt es ja nicht. Es gibt keine Engel, die schützen und warnen; auch der Engel in der Aula der Alexander-von-Humboldt-Schule an diesem Abend war nur Hauch.

*

Fast neun Uhr abends war es geworden. Sie standen vor der Schule, angetütert, zappelig und unschlüssig. Sollten sie auseinander gehen, sollten sie noch irgendwohin ziehen, wo es Wein und Musik gab? Sollten sie zum See ziehen, zum Treffplatz auf dem Friedhof und das Hochgefühl festhalten, nicht verfliegen lassen? Liess es sich halten und konservieren für länger als einen Abend?

Gernot bot Vera an, sie nach Hause zu begleiten. Doch sie lehnte ab. Sie wollte nach Hause, aber sie wollte allein sein. Mit sich und mit dem Rest des Tages. Auch Gadji zog es vor, nicht mit den anderen zu gehen, die Sandburgs Vorschlag folgen wollten: noch in ein Café zu gehen, falls sie noch eines fanden, und ein bisschen weiter zu trinken und zu quatschen. Ob es bei den Russen ein Ausgangsverbot gäbe und sie sich spätestens um 22 Uhr in der Küche – „kuchnja, hä, habe ich heute gelernt!“ – einfinden müssten bei der Mama, quakte Sandburg. Gadji grinste nur, winkte ab und ging als Erster. „Nach Hause.“

Wohin geht er, nach Hause? Vera schaute ihm hinterher und dachte Muij s toboij na kuchnje posodim - Setzen wir uns in die Küche hin.

Kotte, die Schaffner hatte sich bei ihm eingehakt, verabschiedete sich ebenfalls. Peter griente und meinte, dass Lehrer selbstverständlich auch ein Privat- und sogar Intimleben haben dürfen. Woraufhin die Physiklehrerin meinte, dass sie Peter nie für die hellste Kerze am Weihnachtsbaum gehalten habe, aber über pfiffige Einsichten ins Leben verfüge er gelegentlich: „Als gänzlich begriffsstutzig würde ich Sie nicht einschätzen, wenngleich Ihnen, Sandburg, schon mindestens sämtliche Äpfel eines Apfelbaums auf den Kopf fallen müssten, bis sie eine hervorragende Idee hervorbrächten!“, fertigte sie ihn ab; auch eine Lehrerin der Naturwissenschaften verfügt – zumal wenn sie mit einem Deutschlehrer liiert ist – über die Gabe des richtigen Gebrauchs des Konjunktives.

„Macht's gut!“ --- „Bis Montag!“ --- „Und dass mir keine Klagen kommen!“ --- „Hehe, und bleibt im Lande und nähret euch redlich.“ – „Bleibt im Lande und wehret euch täglich!“ --- „Na, das ist mir mal n Spruch.“

*

Vera pflückte von der Pinnwand neben dem Flurspiegel eine Nachricht ihrer Mutter. „Bin bei meinen Leuten. Wird spät. Bleibe über Nacht bei M. Kannst mich bei ihm erreichen. P. S.: Es scheint unruhig in der Stadt zu werden.“

M. war nicht Münch, der Dramaturg, in dessen Wohnung sich „meine Leute“ trafen. M. stand für Mühsam, Albert Mühsam. Den hatte Victoria Lothringen auf einem der Treffs kennen gelernt. Vera kannte die zupackende Art ihrer Mutter, Zögern und Zaudern war nicht ihr Ding, und Albert war schon ein paar Mal bei ihnen zu Hause gewesen, und Vera fand ihn sympathisch – und unheimlich. Mit seinen schwarztiefen Augen, mit dem Vollbart, in den sich erste graue Haare webten, mit seinen wallenden Locken glich er so recht einem Revolutionär, wie ihn Vera sich vorstellte. Auch einem ungeschorenen Räuber aus der Familie von Ronja Räubertochter. Eine Mischung aus Jesus, Marx, Che Guevara und Piratenkapitän. Dabei war Albert ein sehr bedächtiger und sanfter Mann, der lieber zuhörte als selber zu reden. Kein Wunder, wenn einer Buchhändler ist und auch sonst am liebsten mit Büchern umgeht. Allerdings, fand Vera, bekam dieser Albert ihrer Mutter sehr gut. Und wenn es eine Begleiterscheinung von Konspiration und Rebellion ist, dass sich Liebespaare finden, dann haben sich Konspiration und Rebellion schon mal gelohnt.

Vera zerknüllte den Zettel und warf ihn in eine Ecke. Was habt ihr vor, Mütterlein? wollt ihr die Ehrentribüne vor dem Palast der Republik in die Luft sprengen? Müsst ihr aber aufpassen, dass ihr nicht die Falschen erwischt. Etwa den Gorbatschow, von dem ihr so begeistert seid. Aber was heisst hier Falsche oder Richtige? Attentate sind unangebracht. Gewalt war sowieso. Und sie hatte mit Erleichterung gehört, dass „meine Leute“ stets betonten, es dürfte keine Gewalt geben. Veränderung ja, Gewalt nein. Niemand auf der Welt, war Veras feste Überzeugung, hatte das Recht, irgendwen anderen auf der Welt zu bekriegen, zu verletzten, zu töten. Ganz egal, ob das Amerikaner für Öl machten und weil sie sich als Weltpolizist aufspielten oder ob es die Rote Armee war, die gerade erst aus Afghanistan abzog.

Plötzlich musste Vera an Gadji denken, der irgendwo da hinten auf die Welt und von irgendwo da hinten nach Berlin gekommen war.

Vera setzte sich im Wohnzimmer auf das Sofa, zog die Beine an und kuschelte sich an ein Kissen. Gadji war anders als die anderen. Ruhiger, ernsthafter, sicherer. Ihrem Freund Gernot konnte niemand nachsagen, dass er nicht selbstbewusst und klug auftrat. Manchmal trat er so selbstsicher auf, dass es an Überheblichkeit grenzte. Er war der King. Er war der Gescheiteste. Seinem Urteil folgten alle. Allerdings vertrug Gernot Widerworte nicht. Er war sich seiner Wirkung auf andere Menschen sehr, sehr sicher, und jeder sagte ihm eine glänzende Laufbahn voraus. Als Diplomat, der er werden wollte, nach der Schule, nach den anderthalb Jahren Armee, dann nach Moskau und studieren, um später irgendwo in der Welt zu Hause zu sein. Am liebsten mit dir, Vera, hatte er erklärt, und auch diese Erklärung klang wie eine Feststellung, eine Inbesitznahme.

Vera war sich nicht so sicher. Erstens hatte sie vor, Tierärztin zu werden. Zweitens konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, als repräsentative Gattin eines Diplomaten in Kanada, im Kongo oder in China aufzutreten. Und drittens – es waren noch Jahre bis dahin. Konnte durchaus sein, dass Gernot sein Leben für die nächsten zwanzig Jahre geplant hatte, inklusive Ehe, Kinder und Ein-Familien-Haus. Vera wollte so weit nicht planen. Konnte man sein Leben überhaupt so weit voraus planen? Musste man nicht sehr davon überzeugt sein, dass man sich selbst und alles andere um einen herum in die Richtung entwickelte, die man sich vorstellte oder wünschte? Wer wusste schon, wie die Verhältnisse sich gestalteten. Blieben sie, änderten sie sich, änderten sich nicht auch die Menschen ständig? Wie berechenbar und überschaubar ist Zukunft überhaupt? fragte sich Vera. Sie schüttelte sich. Was sollten solche Gedanken am Ende eines heiteren Tages?

Vera stand auf und ging zum Telefon. Hoffentlich hast du dich warm angezogen, Mütterlein. Oktoberabende sind tückisch. Sie täuschen die Wärme des Sommers vor, sind aber schon die Vorboten des Winters. Ich sehe dich, Victoria Lothringen, mit wehendem Haar und im flatternden Rock auf der Barrikade stehen. Die Bajonette der Bösen stechen nach dir, Kugeln umsummen dein Haupt. Die Bluse über der Brust reisst du dir auf, Mütterchen, und du giesst Hohn und Spott über die angreifenden Feiglinge! Doch, auf diese Erwachsenen musste man aufpassen, entschied Vera, während sie die Nummer von Albert Mühsam wählte.

„Ja?“
„Vera. Ist meine Mutter bei dir?“
„Einen Moment …“
„Vera? Was ist? Warum rufst du an?“ Typisch! Seitdem die Mutter ihre Freizeit in den Höhlen der Verschwörer verbrachte und an der Revolution hobelte und fräste, vergass sie alles Normale. Wann hast du für mich das letzte Mal gekocht, Mutter? Ich wasche deine Wäsche, Mutter! Du debattierst inzwischen über Staat, Freiheit, Diktatur, während ich Käse einkaufe und Butter und Milch! Ich empfinde die Diktatur eines leeren Kühlschranks und eines Korbes voller schmutziger Wäsche am bedrückendsten. Und noch nie hast du, Mutter, ein Flugblatt von euren konspirativen Treffs mitgebracht, auf dem stand: „Gulaschsuppe ist ein Menschenrecht! Kinder brauchen ihren Gute-Nacht-Kuss! Fragt mindestens zweimal am Tag die Kinder, wie es ihnen geht!“
„Was ist! Was ist! Nichts ist! Alles ist! Ich wollte wissen, wie es dir geht. Ich wollte wissen, was du damit meinst, dass es unruhig in der Stadt ist. Vielleicht mache ich mir ja Sorgen um dich, wenn du dir schon keine Sorgen um mich machst!“
„Veralein! Verotschka! Natürlich mache ich mir Sorgen um dich. Ich bin deine Mutter und …“
„Vielleicht kann man so was ja vergessen.“
„Aber … He, du! Wie war euer Programm?“
„Grossartig. Wir sind vom Fleck weg vom Berliner Ensemble engagiert worden.“
„Sei doch nicht so sarkastisch. Steht dir nicht, mein Kleines.“
„Ich bin nicht sarkastisch. Und ich bin 1, 78 lang. Aber du hättest dabei sein können. Dann wüsstest du, wie das Programm war und müsstest nicht scheinheilig fragen. Du fragst ja auch nicht, ob ich heute schon was gegessen habe, ob ich einen neuen Freund habe, ob ich heute von der Schule geschmissen wurde.“
„Autsch! Hat es Ärger gegeben?“
„Quatsch! Eberlein hat uns gratuliert.“
„Veralein, lass uns morgen darüber reden. Jetzt …“
„ …'habe ich keine Zeit. Die Revolution wartet auf mich.' Im Bett?“
„Ausserdem … war es keine gute Idee, anzurufen. Wahrscheinlich hört die Firma mit.“ Setzen wir uns in die Küche hin, süss riecht hier das weisse Kerosin. Als stünde Gadji neben ihr und schaute sie aus seinen braunen Augen an, mit einem winzigen, spöttischen Leuchten darin.

Vera würde sich nicht aufregen. Sie war nicht empört. Warum sollte die Mutter sie wie ein Kleinkind behandeln, das noch nicht allein aufs Klo gehen konnte? Warum sollte die Tochter die Mutter zwingen, zu Hause zu bleiben? Andere Frauen, die noch nicht Vierzig und allein stehend sind, gehen tanzen, in die Kneipe, ins Theater. Das Hobby meiner Mutter ist das Ändern der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Unter so was macht es eine Victoria Lothringen nicht.

„Was ist Kerosin?“, fragte Vera.

„Was Kerosin ist?“
„Kerosin, ja.“
„Du rufst an und willst wissen, was Kerosin ist?“
„Wie ich Tütensuppe kochen muss, weiss ich. Deshalb würde ich nicht anrufen.“

War das nicht ein dussliges Gespräch? Fast musste Vera lachen. Ihr wurde fröhlich zumute, die Mutter war schon eine seltsame Heilige und Heldin.

„Ich glaube, Kerosin ist eine Bezeichnung für Petroleum. Flugzeuge brauchen das Zeug, glaube ich. Soll ich Albert fragen?“

Albert wüsste bestimmt, was Kerosin ist. Er verfügte über ein enzyklopädisches Gedächtnis; Albert war ein Lexikon auf zwei Beinen. Warum hatte sie nicht Gadji gefragt, seltsam, das wäre das Einfachste gewesen? Während sie das Gedicht geprobt hatten?

„Nicht nötig. Ist nicht so wichtig.“
„Ja, wenn weiter nichts ist …“
„Doch. Was war das Kind, das du zuletzt auf die Welt gebracht hast?“
„Ähm?“
„Heute. Ein Junge oder ein Mädchen?“
„Ein Mädchen. Hat auf sich warten lassen. Und der Vater war dabei.“ Victoria lacht auf. „Allerdings fiel er einmal kurz in Ohnmacht.“
„Hat das Mädchen schon einen Namen?“
„Helena, glaube ich. Ja, ich meine, die Mutter wollte es Helena nennen. Wie die, um die zehn Jahre Krieg geführt wurde.“
„Ich liebe dich, Mama.“
„Ich liebe dich, Vera.“ „Aber ich habe ein Problem damit, dass meine Mutter, die am liebsten Kohlrouladen isst und eine tolle Hebamme ist, plötzlich Rosa Luxemburg heisst. Oder trägst du mittlerweile den Tarnnamen Tamara Bunke?“
„Verotschka! Wir müssen mal wieder miteinander reden. Richtig ausquatschen.“
„Wann? Am Abend nach der Revolution?“
„Was du immer mit deiner Revolution hast!“
„Was du immer mit deiner Revolution hast!“
„Morgen?“
„Morgen?“
„Wir machen eine Demo. Ich hole dich vom Bahnhof Schönhauser ab. Sagen wir zehn Uhr?“
„So früh macht ihr eine Demo?“
„Es ist Samstag. Die Leute sind zu Hause. Die Republik feiert Geburtstag. Guter Zeitpunkt, um auf die Strasse zu gehen.“
„Kommst du heute noch heim?“
„Ich wollte, aber …“
„Du bleibst bei Albert. Schlaft ihr miteinander?“
„Du bist eine Knalltüte!“ Zärtlich klingt die Stimme der Mutter. „Kommst du morgen? Ich würde mich freuen.“
„Ich weiss noch nicht. Vielleicht habe ich auch einen Typen kennen gelernt. Heute. Privat geht vor Katastrophe, oder?“
„Ist es aus mit Gernot?“
„Wieso? Kann ich nicht zwei Kerle haben? Einen für Gut, einen für Schlecht. Ich muss doch nicht den einen zu den Akten legen, wenn der andere auftaucht? So viele gute Typen gibt's nun auch wieder nicht.“

Vera hält den Telefonhörer weg und sich den Mund zu, um nicht laut loszuprusten. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, warum sie sich gerade sehr, sehr leicht und glücklich fühlte. Es war so, basta.

„Wo du Recht hast, hast du Recht.“ Victoria lachte.

„Und küssen wir und lieben wir und umarmen wir uns, oja, mehr davon, das ist gut, nein hier nicht, nimm die Hände höher!“
„Vera?!“
„Oooh, das ist gut, ja!“

Es musste der Schwung der Bühne sein, der Vera tänzeln liess.

„Sind … Ich meine, ist einer von denen … Ist Gernot bei dir?“

Jetzt lachte Vera: „Phantasie an die Macht, Mutter! All you need is love! Tschüs bis morgen!”

Vera legte auf.

Vera ging zu Bett.

Vera schlief.

Sie hatte sich in das Bett des Vaters gelegt, in dem Zimmer, das sein Arbeitsraum war. Noch immer standen Werkzeugtaschen und lagen Kamerateile herum. Dominik hatte gern geknobelt und gebastelt. Keine Technik war so vollkommen, dass an ihr nicht gefeilt werden konnte, pflegte er zu sagen. Auch die ist nicht perfekt, fügte er gern hinzu, und blätterte in Fachzeitschriften, die grell und bunt waren, und die Dominik von irgendwem geliehen bekam, der Westbeziehungen hatte.

Es war ein historisches Bett. Der Vater hatte es eines Tages angeschleppt und erklärt, dass er in diesem Bett, genau in diesem Bett, die idiotischsten anderthalb Jahre seines Lebens verbracht hatte. Also in den Nächten. Als er mit achtzehn Jahren nach dem Abitur als Wehrpflichtiger zur Armee eingezogen wurde. Ein eisernes Gestell, der graue Lack stellenweise abgeplatzt, die Federn quietschten. Jedenfalls so lange, bis der Vater sie abgeschmirgelt und eingefettet hatte. Und angestrichen in der hellgrauen Farbe, die es als Kasernenmöbel einst hatte. Er hatte das Bett auf einem Müllhaufen in der Kaserne gefunden, wo er Einstellungen für einen Film über die Armee drehte.

„Woher weisst du, dass das dein Bett ist?“, hatte Victoria ihren Mann gefragt. Es war die Zeit, in der Mutter und Vater nur noch zänkisch miteinander umgingen. Vera stand zwischen ihren Eltern und sah den Ekel im Gesicht der Mutter und die kindliche Freude im Gesicht des Vaters.

„Das Bett“, erwiderte er, „war anderthalb Jahre lang mein bester Freund. Glaubst du, ich könnte meinen besten Freund vergessen?“
„Gewiss nicht“, höhnte Victoria. „Du wirst auch die Gesichter deiner Geliebten nicht vergessen. Und die Adressen hast du ja sorgfältig notiert. Nicht, dass du da mal was durcheinander bringst.“

Dominik hatte seiner Tochter das Bett geschenkt, als er auszog. Vera liebte es, in ihm zu schlafen. Sie widerstand dem Bemühungen der Mutter, das Bett aus der Wohnung und auf den Müll zu schmeissen. War es nicht gleich, ob das Bett genau das Bett ihres Vaters war oder ein ähnliches, ja gleiches?

*

Vera träumte. Sie lief durch eine Stadt, in der sie nie gewesen war. Enge Gassen. Die Häuser kriechen ineinander und übereinander. Sie klettern einen Hang hinauf. Über der Stadt spannt sich ein Regenbogen, der in einem Meer beginnt und in den Bergen endet. Irgendwo zwischen den Wellen, irgendwo in einer Schlucht. Vera bleibt stehen und sagt: „Wie schön! Schau, ein Regenbogen!“ Sie spricht zu einem Jungen, den sie nicht kennt. Der entgegnet:„Das ist kein Regenbogen! Das sind Ölpfützen, die sich im Himmel spiegeln.“ --- „Nein“, beharrt Vera. „Ich will, dass das ein Regenbogen ist. Ein Regenbogen, auf dem wir wohnen können.“ --- „Das möchte ich auch“, sagt der Junge ernst. „Aber ich weiss, dass es nur Pfützen sind. Öl aus dem Meer. Naphtha auf dem Meer. Die Fische sterben, im Wasser kann niemand baden. Manchmal werden Leichen ans Ufer gespült.“ --- „Das ist grausam. Ausserdem habe ich gelesen, das Meer ist sauber.“ --- „Lügen! Sie lügen so viel! Niemand sagt die Wahrheit!“ Jetzt will Vera endlich wissen, mit wem sie spricht. Aber sie kann ihren Kopf nicht drehen. Ausserdem ist der Regenbogen ein Magnet, der ihre Augen zwingt, in den Himmel zu schauen. „Wer bist du?“, fragt sie jetzt. „Muss ich Angst vor dir haben.“ --- „Kerosin“, antwortet der Junge und lacht. „Mein Name ist Kerosin. Und ich liebe dich. Tschtobuij nam ujechatsch na woksal, gdje buis nasch nikto nje otkuijsal.“ --- „ … wo uns niemand kennt …“, sagt Vera. Und dann spricht jemand vom Regenbogen herunter durch ein Megaphon: „Und zum Bahnhof gehen in der Frühe …“

Eckhard Mieder