Die Geschichte einer Denunziation in Aarau Plötzlich war ich ein kommunistischer Spion

Prosa

Die Erzählung einer unspektakulären Überwachung in den unruhigen 60'er der Schweiz.

Plötzlich war ich ein kommunistischer Spion.
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Plötzlich war ich ein kommunistischer Spion. Foto: Yannick Bammert (CC BY 2.0 cropped)

2. Februar 2021
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Ich weiss aber auch heute noch genau, was mich damals, ich war gerade mal 24 Jahre alt, völlig überraschend in diese ehrbare eidgenössische „Stadt der schönen Giebel“ geführt hat:

Im Juli 1963 lud mich ein Freund ein, mit ihm nach Lausanne zu kommen, ich könne dort drei Wochen gratis Ferien im Haus seiner Eltern machen, wenn ich mich an den Benzin-Kosten für sein Motorrad beteiligen würde, mit dem er die Reise antreten wollte, mit mir auf dem Sozius. Ich sagte freudig zu. An einem späten Abend in Lausanne angekommen, erklärten mir die Eltern meines Freundes überraschend und unverhohlen, dass sie Deutsche nicht mögen, ich daher auch nur eine Nacht bleiben dürfe und ihr Haus am nächsten Morgen zu verlassen habe.

Da ich dieses Erlebnis (das mich zutiefst verschreckt hatte) und die damit für mich verbundenen dramatischen Konsequenzen in einem anderen Kapitel ausführlich beschrieben habe, kehre ich jetzt doch rasch an den Anfang der Geschichte zurück, die ich hier erzählen möchte. Das Schicksal hatte mich also von Lausanne direkt nach Aarau geführt, wo ich durch die Vermittlung eines Freundes in der alteingesessenen Druckerei Huber & Anacker überraschend eine Anstellung als Reprofotograf gefunden hatte (eine entsprechende Lehre absolvierte ich zuvor einst in Hamburg).

In dieser kleinen und feinen Druckerei gab es einen Grafiker, der mich (was mich zunächst erfreute) wohl zu seinem Freund erkoren hatte, jedenfalls gab er sich so, vertraute er mir doch, wenn wir mitunter recht fröhlich und heiter-kollegial in der Mittagspause unsere kleine Vesperstunde abhielten, so manches an, was ihm offensichtlich sehr wichtig zu sein schien. Sehr wichtig zum Beispiel war ihm, was er stets betonte, das Thema Frauen. Gleich danach kam das Militär.

Das erstere interessierte mich, den Vierundzwanzigjährigen sehr wohl und jederzeit. Das zweite Thema hingegen, also das Militär, das war mir, dem Pazifisten nicht nur fremd, sondern auch höchst peinlich bis abartig. Rasch fand ich heraus, dass das Thema Frauen für meinen Kollegen deshalb so wichtig war, weil er, unter dem Pantoffel seiner resoluten Ehefrau stehend, zwar davon träumte, doch nicht den Mut hatte, jemals mit einer anderen Frau zu flirten und ihr den Hof zu machen.

Er liess diese stark ausgeprägte männliche Neigung in sich regelrecht verkümmern und so hatte sich mit den Jahren in ihm ein fast schon krankhafter Hass eingestellt gegenüber allen schönen Frauen, die er begehrte und von denen er träumte, wohl wissend, dass er niemals eine Chance hatte, seine Träume ausserhalb des häuslichen Schlafzimmers ausleben zu können. Und so war das Thema Militär mit der Zeit sein alleiniger, ihn absolut ausfüllender und glücklich machender Lebensinhalt geworden. Was ich damals natürlich nicht sogleich zu erkennen vermochte, erst langsam erkannte ich den Charakter und das Tragi-Komische im Leben dieses verquasten Mannes.

Wenn er mir also zwischen dem Verzehr eines Käsebrotes und einem Schlückchen Sprudelwasser während unserer Mittagspause etwas von riesigen Kanonen, etwas über angeblich unzerstörbare Panzer, von Maschinengewehren, dann ausführlicher über Raketen und von modernsten Schweizer Flugzeugen berichtete, dann hielt ich es für reine Höflichkeit und auch für meine Pflicht, hin und wieder mal nachzufragen, wenn ich (der Pazifist und Wehrdienstverweigerer) etwas nicht verstanden hatte. Ich wollte es auch gar nicht verstehen, denn es interessierte mich nicht.

Aber dennoch fragte ich aus reiner Höflichkeit ab und zu mal konkret nach. So stellte ich ihm zum Beispiel, nachdem er ausführlich und mit grosser Leidenschaft über diverse Kriegsmaschinen und Wunderwaffen der Schweizer Armee zur Zeit des 2. Weltkrieges gesprochen hatte, die Frage: „Was war das denn für eine Kanone, konnte die weit schiessen, und der Panzer, was konnte der alles? Und eure Flugzeuge, waren die wirklich besser als die Flugzeuge der deutschen Luftwaffe damals?“

Meine Fragen waren gewiss sehr naiv, denn ich wusste nichts über Waffen und ich interessierte mich auch nicht dafür. Ich wusste aber, was Waffen anrichten können, was sie bereits im 1. Weltkrieg und dann im 2. Weltkrieg angerichtet hatten. Aus diesem Grunde hatte ich einst den Militärdienst verweigert, aus diesem Grunde bin ich Pazifist geworden. Natürlich habe ich längst vergessen, was er mir damals auf meine Fragen so alles geantwortet hatte.

Vergessen hingegen habe ich nicht, dass eines Tages zwei Herren, unauffällig gekleidet in schwarzen Ledermänteln mit hoch gestülpten Kragen und schwarzen Hüten (nur die schwarzen Sonnenbrillen fehlten), an meiner Aarauer Wohnungstür klingelten und höflich um Einlass baten. Auf meine Frage, wer sie sind und was ihr Begehr sei, sagte der eine, ein freundlich drein schauender Mann so um die vierzig Jahre, dabei seinen Ausweis als Angehöriger der eidgenössischen Fremdenpolizei vorzeigend: „Sind Sie Herr Axel Michael Sallowsky“?

Ich konnte die Frage mit einem klaren Ja beantworten und mit meinem Ausweis auch noch belegen, dass ich tatsächlich der bin, der ich für sie in diesem Augenblick zu sein hatte. Auf meine nächste Frage, was mir die Ehre ihres unangemeldeten Besuches verschaffe (ist etwas mit meiner Aufenthaltsgenehmigung nicht in Ordnung?), antwortete der bereits erwähnte und so überaus freundliche Herr im schwarzen Ledermantel: “Bitte, lieber Herr Sallowsky, regen Sie sich nicht auf, wir müssen, leider, nur unserer Pflicht nachkommen“.

„Welcher Pflicht, bitte schön“?

„Sie sind angezeigt worden, ein kommunistischer Spion zu sein, dass Sie sich für militärische Geheimnisse der Schweiz interessieren und damit die Sicherheit unseres Landes gefährden“. Ich schaute die beiden Herren an, begann dann, ich konnte nicht anders, laut zu lachen, denn nur dazu war mir in dieser Sekunde zumute: absurder, abwegiger konnte nichts mehr sein. Ich hatte kurz den Eindruck, als wollten auch die beiden Herren in Gelächter ausbrechen, doch sie widerstanden heldenhaft. Als ich mich abermals um den wahren Grund ihres Besuches erkundigen wollte (denn noch immer hielt ich alles für einen makabren Scherz), unterbrach mich der andere Herr im schwarzen Ledermantel, ebenfalls aussergewöhnlich freundlich und mit angenehmer Stimme: „Herr Sallowsky, wir müssen Sie natürlich überprüfen, Sie wissen, das Gesetz“.

Ach ja, das Gesetz !

Nachdem die beiden Herren mir in der Art eines „zwanglosen Kreuzverhörs“ noch einige lapidare Fragen gestellt, ich diese wohl glaubwürdig und auch zu ihrer vollen Befriedigung beantwortet hatte, verabschiedeten sie sich und versicherten mir erneut, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche, da der „Denunziant“ offensichtlich in jedem Deutschen (mit dem er gerade gesprochen hat) einen kommunistischen Spion sähe, den anzuzeigen seine vaterländische Pflicht sei. Pflichtbewusstsein ist in jedem Land und in jeder Gesellschaft tief im Denken und Handeln der Menschen verwurzelt, hat ebenso viele rationale wie irrationale Ursachen, kennt verschiedene Formen und Namen, man denke nur an die Gestapo in der Zeit zwischen 1933 und 1945 oder an das böse Spiel der Stasi in der einstigen DDR, wo Freunde ihre Freunde und selbst Eheleute sich gegenseitig bespitzelten und ihre „Erkenntnisse“ an ihre perfiden Auftraggeber weiter leiteten. Man tut halt eben nur seine Pflicht, das taten auch jene Menschen, die einst Anne Frank an die Gestapo verrieten.

Der „Denunziant“ war, das verrieten mir die beiden Herren in den schwarzen Ledermänteln beim Verlassen meiner Wohnung, zu meiner nicht geringen Überraschung mein gesprächiger Kollege, der mich zu seinem Freund erkoren hatte. Er muss also meine eindeutig naiven Fragen sehr ernst genommen haben, was in ihm den begründeten Verdacht aufkommen liess, dass ich mit Gewissheit ein kommunistischer Spion sein müsse. Natürlich verzichtete ich „mit sofortiger Wirkung“ darauf, mich mit diesem reizenden Eidgenossen auch nur noch ein einziges Mal über „militärische Geheimnisse“ zu unterhalten, da ich nun wirklich keinen Wert auf einen erneuten Besuch der beiden unauffälligen Herren in den schwarzen Ledermänteln legte (obwohl die beiden Herren mich durch ihre Freundlichkeit und Höflichkeit in grosses Erstaunen versetzten).

Als ich dann diesen pflichtbewussten Schweizer Bürger einige Zeit später darauf ansprach, ihn also direkt fragte, ob und warum er mich denunziert habe, da schaute er mich zunächst tief entrüstet an, wurde etwas nervös und begann zu stottern, liess mich dann wissen, wie sehr er enttäuscht von mir und wie empört er sei, ausgerechnet in ihm einen feigen Denunzianten zu vermuten. Wenn ich es nicht schwarz auf weiss gewusst hätte, dass er der Denunziant war, dann wäre ihm meine Frage ganz gewiss erspart geblieben. Gehören Bürger-Pflicht, Lüge und Denunziantentum also in ein und dieselbe Familie? Offensichtlich, die Wahrscheinlichkeit ist jedenfalls ziemlich gross. Ja, so enden mitunter vermeintliche Freundschaften. Muss man da traurig sein?

Halt, eine kleine Episode, die ich mit diesem braven Eidgenossen eines Tages erlebte (wir waren ja immer noch Kollegen), die muss ich nun aber doch noch rasch erzählen, denn auch sie ist nicht weniger absurd und vielleicht auch nur in der Schweiz möglich? Als wir wieder einmal in der Mittagspause auf die Strasse schauten, er an dem einen, ich an einem anderen Fenster, ohne Gespräche über militärische Geheimnisse geführt zu haben, geschah überraschend folgendes: Ein kleiner blauer Lieferwagen mit Appenzeller Kennzeichen und voll beladen mit gigantischen Käserollen, näherte sich unserem Aussichtsplatz.

Da öffnete sich plötzlich aus unerfindlichen Gründen die Tür zur Ladefläche hinten und zwei gewaltige „Käse-Räder“ (gross wie Autoreifen) sprangen mit Verve auf die Strasse, rollten und polterten in ihr Verderben, zersprangen dabei in mehrere Dutzend kleiner und grösserer Teilchen.

Der Fahrer des Wagens, der offensichtlich von der Flucht der beiden grossen gelben Käseräder nicht das Geringste bemerkt hatte, fuhr weiter. Die nachfolgenden Personenwagen aller Klassen, deren Fahrer offensichtlich überrascht waren vom plötzlichen Käse-Regen auf der Strasse zur Mittagszeit, sie hielten kurz an, stiegen aus und sammelten die vor die Räder ihrer Autos gerollten Käsestückchen ein und fuhren weiter, sich vielleicht bereits lustvoll ausmalend, was sie mit diesen riesigen Käsebrocken im Laufe des Tages oder abends alles anfangen können.

Und was machte mein Kollege?

Er hatte sich in Windeseile ein Stück Papier geholt und notierte, ich war sprachlos, doch tatsächlich die Nummern all jener Autos, deren Fahrer sich die zerstückelten Käseteilchen aufgesammelt hatten, raste beflissentlich ans Telefon und gab stolz die von ihm aufgeschriebenen Autonummern eifrig an die Kantonspolizei durch. Mein Kollege war eben ein äusserst pflichtbewusster Schweizer Bürger. Aber das hatte ich ja bereits vorsichtig angedeutet. Und von diesen pflichtbewussten Staatsbürgern schien es damals in der schönen Schweiz tatsächlich mehr zu geben, als ich glauben mochte, wovon ich mich dann einige Jahre später und zu meiner allergrössten Überraschung auf ganz besondere Weise abermals überzeugen konnte.

Ich lebte mittlerweile in Zürich, studierte dort Gesang und Musikgeschichte. Eines Tages rief mich ein Freund an, dem als Anwalt das Kunststück gelungen war, mir bei der Schweizer Fremdenpolizei eine Aufenthaltsgenehmigung zu beschaffen, obwohl ich meine Tätigkeit als Reprofotograf inzwischen aufgegeben, also offiziell nicht mehr berufstätig und auch keine Einnahmen mehr hatte. Das war damals nicht so einfach, aber es gelang. Ja, dieser Freund bat mich also um einen Besuch in seiner Anwaltskanzlei, um mir, wie er sich leise und sybillinisch ausdrückte, etwas „gar Unglaubliches“ zu zeigen: Meine „Schweizer Akte“. So wie einst Hildegard Knef einen Koffer in Berlin, so hatte ich ab jetzt eine „Schweizer Akte“, abgelegt als Kopie in der Kanzlei eines eidgenössischen Anwalts in der schönen Stadt Zürich (die „Originale“ waren irgendwo in einem Amt gebunkert).

Musste ich einst beim Erscheinen der beiden Herren in Schwarz in meiner Aarauer Wohnung laut auflachen, so verspürte ich beim ersten flüchtigen Durchblättern meiner „Schweizer Akte“ im Büro meines Freundes allerdings keinerlei Bedürfnis zu lachen, denn was ich da lesen musste, das raubte mir für Sekunden fast den Atem. Zunächst wollte ich meinen Augen einfach nicht trauen, doch die Buchstaben auf weissem Grund waren schwarz und der Inhalt noch anschwärzender als schwarz.

Mein Erstaunen beim aufmerksamen Lesen meiner „Schweizer Akte“ war wohl deshalb so gewaltig, weil ich einfach nicht glauben und es auch nicht wahrhaben wollte, was da unübersehbar und fein säuberlich geschrieben stand, war ich doch gerade erst einem Staat und einem System der totalen Überwachung (DDR) entronnen - und musste nun, mit kaltem Entsetzen feststellen, dass ich möglicherweise und völlig unerwartet in einem durchaus ähnlichen Staat inmitten Europas mit einem vergleichbaren ausgeklügelten Bespitzelungssystem gelandet war? Das durfte doch nicht wahr sein. War da nur ein böser Traum über mich her gefallen, ein quälender Alptraum sogar, der nun plötzlich bedrohliche Wirklichkeit geworden war? Ich wollte es noch immer nicht glauben.

Doch wie lange ist Täuschung möglich?

Die von neugierigen und europasüchtigen Touristen aus aller Welt geliebte und heimgesuchte, diese ach so schöne Schweiz (und das ist sie ja wirklich), dieses aus hohen Bergen bestehende und von tiefen Seen übersäte Märchenland, weltpolitisch neutral, stets konservativ, fast jeder Schweizer ein Hausbesitzer und jeder Schweizer ein glühender Patriot, der lieber mit seiner Uniform und mit seinem Sturmgewehr als mit seiner Frau schlafen geht, dieses kleine Land, das Neutralität für sich in Anspruch nimmt, mental ein gewaltiges Bollwerk gegen widersprüchliche Ideologien und ins Rutschen geratene Volkswirtschaften aus Ost und West, dieses viersprachige Volk, das stets auch ein wenig liberal und recht selbstbewusst auftritt und dennoch gequält wird von einem bereits durch die Jahrhunderte geisternden Minderwertigkeitskomplex den Deutschen, der deutschen Sprache und der deutschen Kultur gegenüber, wirtschaftlich und technologisch unglaublich stark und autark in allen Geldfragen und in der Bewahrung von Traditionen – und nun das?

Gehört es, so fragte ich mich damals, ja, gehört es zu den gewachsenen eidgenössischen Tugenden und Traditionen etwa auch, dass jeder Schweizer seinen Nachbarn, seine Kollegen und vielleicht auch noch seine Freunde und sogar seine Partner heimlich „observiert“ und seine „Erkenntnisse“ dann pflichtbewusst den Behörden meldet? Auf etwa fünfzehn Seiten stand, was ich während eines Jahres in zwei Aarauer Wohnungen und danach in meiner Wohnung in Zürich gesagt habe. Selbstverständlich sprach ich niemals mit mir selbst (damals war ich noch nicht soweit), also stets nur dann, wenn Freunde kamen oder Freundinnen mich besuchten und über Nacht blieben.

So waren nicht nur allgemeine Gespräche oder Liebesgeflüster akribisch festgehalten, nein, sogar die Namen, Adressen und Autonummern einiger meiner Besucher. Ich bin auch heute noch fest davon überzeugt, dass die unsichtbaren „Observierer“ und Denunzianten nicht aus meinem Freundeskreis kamen. Es konnten also nur die jeweiligen Vermieter oder Nachbarn gewesen sein. Hatten die etwa „Wanzen“ in meinen beiden Wohnungen versteckt? Wem unter uns „normalen Bürgern“ wird denn eine solche Ehre zuteil?

Ja, die „Lauscher an der Wand“, sie hatten wahrlich gute und ganze Arbeit geleistet. Wozu doch Gesetze im Verbund mit bürgerlichen Prinzipien und mit patriotischer Gesinnung so führen können: Totale Bespitzelung, Tag und Nacht, perfekt gemeistert von unauffälligen und braven Bürgern, die nichts anderes taten als ihre Pflicht. War es die panische Angst der Eidgenossen vor dem Kommunismus oder war es das in fast allen Schweizern immer schon latent vorhandene Misstrauen gegenüber allen Deutschen, vor allem jenen gegenüber, die es wagten, bereits 24 Jahre nach Kriegsende in die Schweiz zu kommen, um dort zu arbeiten, zu studieren, zu leben und dadurch ständig im Generalverdacht standen, entweder Kommunisten oder vielleicht doch noch (oder wieder) Nazis zu sein? Ich weiss es nicht.

Ich weiss nur noch, dass ich beim Durchblättern meiner „Schweizer Akte“ schockiert war. Meine ach so lieben Vermieter (oder wer auch immer es gewesen sein mag), denen ich mich ohne Argwohn anvertraute, meist jedoch nur höflich über Belangloses parlierte – sie alle sollen Spitzel, sollen Denunzianten gewesen sein?

Ich beschloss, an die mit eigenen Augen gesehenen und gelesenen und in meinen Händen gehaltenen Bespitzelungs-Protokolle nicht glauben zu wollen, da ich in fünf Jahren, zunächst in Lausanne, danach in Aarau und vor allem in Zürich eine wundervolle Zeit erlebte und nicht eine einzige böse oder mich bedrohende Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit den Eidgenossen hatte. Und so kann ich es mir eingestehen und allen meinen Freunden von damals und von heute auch ganz laut sagen, dass meine Jahre in der Schweiz zu den schönsten, glücklichsten und wichtigsten Kapiteln in meinem Lebensbuch zählen.

In jenen Jahren begriff ich erstmals auch, was mich zunächst etwas irritierte, dann jedoch glücklich machte: Es war die mich von einigen Zweifeln gegenüber dem Sinn meines Lebens und hin und wieder in mir auftauchenden Ängsten erlösende Erkenntnis, dass ich auf der einen Seite nichts anderes war, nichts anderes bin und auch nichts anderes jemals sein werde als „Treibgut nur im Strom der Zeit“, offenbar machtlos gegen alles, was in meinem Leben gerade geschieht und morgen geschehen wird, andererseits aber trägt mich zugleich das Wissen, dass es mir dennoch gelungen ist, das Ruder meines Lebensschiffes immer wieder selbst in die Hand zu nehmen und dieses zielbewusst stets in jene Richtungen gesteuert zu haben, in die ich ohnehin schon immer einmal reisen wollte. Dass ich dann doch einige Male vom Kurs abgekommen bin und an mir bisher unbekannten Ufern landete (so manches Mal auch strandete), das empfinde ich sogar noch nachträglich als eine wichtige Erfahrung, auch als ein grosses Glück und als ein besonderes Geschenk des Schicksals an mich.

Axel Michael Sallowsky

Auszug aus „Treibgut nur im Strom der Zeit“