Morgenschock im Zürcher „Café Odeon“ Der Onkel stirbt nicht

Prosa

Hubertus war mein Schachpartner.

Das Café Odeon in Zürich.
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Das Café Odeon in Zürich. Foto: Otto Normalverbraucher (CC BY 2.0 cropped)

11. Juli 2021
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Morgenschock im Zürcher „Café Odeon“ Der Onkel stirbt nicht Hubertus war mein Schachpartner. Wir trafen uns zwischen 1963 bis 1968 (mit wenigen Ausnahmen) jeden Sonntag um elf Uhr im „Café Odeon“, in jenem legendären Zürcher Etablissement, dessen „heilige Aura“ ich auch heute noch zu spüren glaube, wenn ich auch nur einen winzigen Augenblick an das herrliche Ambiente dieses Cafés und an all die illustren Namen weltberühmter Künstler denke, denen dieses Café zwischen 1933 und 1946 zur zweiten Heimat geworden war und die dort im Verlauf von über sechzig Jahren täglich ein und ausgegangen sind, vielleicht auf den selben Stühlen vor den selben Tischen gesessen haben, auf denen auch ich damals (zwischen 1963 bis 1968) fast jeden Sonntag Platz genommen habe, um mit meinem Freund Hubertus Schach zu spielen.

Freund Hubertus?

Nein, ein mir sehr vertrauter Freund war er nicht und wenn sich gelegentlich doch eine kleine Vertrautheit zwischen uns bemerkbar gemacht hatte, dann dauerte dieser Gefühlszustand jedes Mal nur wenige Minuten, manchmal auch nur Sekunden, wozu Hubertus nicht nur durch sein spiessbürgerliches, linkisches Verhalten wesentlich beigetragen haben mag, sondern vor allem, weil es ihm an Emotionen mangelte, ich habe nie heraus finden können, ob er seine Gefühle vor mir (und auch vor anderen Menschen) nur verbergen wollte oder ob er vielleicht überhaupt keine Gefühle in sich trug und daher auch nicht zu einer Freundschaft fähig war.

Hubertus ist mir jedenfalls von Anfang an fremd gewesen und blieb dieser fremde Mann auch bis zum Ende unserer Schach-Beziehung, der ich also nicht das Prädikat einer Freundschaft verleihen kann. Aber irgendwie mochte ich ihn doch. Er war zwei Jahre älter als ich und mit seinen 165 Zentimetern Länge nicht gerade ein Hüne. Mit seinen spärlichen, stets pomadisierten schwarzen Haaren und einem kleinen Schnauzer (ebenfalls schwarz und täglich nachgefärbt) über auffallend schmalen Lippen ähnelte er auf fatale Weise ein wenig jenem Österreicher, der einst als Kunst-Maler gescheitert war und danach Deutschland und die ganze Welt ins Unglück gestürzt hatte.

Was aber konnte der arme Hubertus dafür, dass er aussah wie eines der grössten Monster in der Geschichte der Menschheit?

Ein „kleines Monster“ aber war auch er, wenngleich eben nur ein kleines. Hin und wieder spielten wir auch während der Woche miteinander Schach. Dann kam er mal zu mir, das andere Mal besuchte ich ihn in seiner kleinen Dachwohnung in Aarau.

Besuchte er mich, so bewirtete ich ihn natürlich stets grosszügig, so wie ich es von meiner ostpreussischen Familie gewohnt war und gelernt hatte, also jedes Mal mit einer warmen Mahlzeit (zum Beispiel mit Hähnchen im Römertopf, mit Wiener Schnitzel und mit anderen mir damals schon wohl bekannten Köstlichkeiten), dazu servierte ich selbstverständlich einen guten Wein, manchmal gab es zur Begrüssung sogar Sekt. Hubertus war über meine Grosszügigkeit jedes Mal zutiefst entzückt, was er allerdings vor mir zu verbergen versuchte, was ihm natürlich nicht gelang.

Wenn ich dann das nächste Mal zu ihm kam, in seine unaufgeräumte Wohnung, so befanden sich auf dem lieblos gedeckten Tisch nur ein paar (meistens abgezählte) Schwarzbrotscheiben, etwas fettarme Margarine in einem silbernen, sehr schönen Jugendstil-Schälchen mit der eingravierten und provozierenden Aufschrift „Butter“, dazu gab's jedes Mal zwei kleine Natur-Jogurts und als Getränk lauer Hagebuttentee. Das war alles, von Wein und Sekt keine Spur.

Hubertus begründete die spartanische Mahlzeit stets mit dem fast schon kategorischen Hinweis, dass es uns beiden sehr gut täte, abends nicht zu fett und zu viel zu essen, da der Mensch nun einmal mit vollem Bauch nicht gut schlafen könne und fettes Essen nach neuesten Erkenntnissen ohnehin der Gesundheit sehr schaden würde. Mein Trost und Motiv, dennoch weiterhin mit ihm Schach zu spielen und dabei jedes Mal lustlos speisen zu müssen: Von jeweils zehn gespielten Partien gewann ich acht. Das war dann quasi meine Rache für das Nichtvorhandensein von Esskultur in seinem Umfeld.

Wenn ich so gegen Mitternacht endlich wieder in meiner gemütlichen Wohnung angekommen war, dann befasst ich mich intensiv mit dem Inhalt meines Kühlschranks, warf mir rasch ein paar Eier samt Speck in die Pfanne, öffnete eine Flasche Rotwein und tafelte allein und glücklich wie einst nur die französischen Könige und schlief danach trotzdem sofort tief und fest ein und erwachte am nächsten Morgen mit klarem Kopfe, frei von jedem schlechten Gewissen und verschont von jedem Völlegefühl im Bauch.

Soviel also zu meinem Schachpartner Hubertus und damit zurück ins „Café Odeon“.

Nachdem wir unsere Stammplätze eingenommen hatten, bestellten wir zunächst (bereits seit drei Jahren) jeweils zwei Scheiben Weissbrot, die dick mit Gänseschmalz bestrichen und mit genügend Salz und Pfeffer versehen waren. Wenn wir diese archaischen bäuerlichen „Köstlichkeiten“ verzehrt und unseren Magen auf das nachfolgende Ritual vorbereitet hatten, wurde uns der „Morgenschock“ serviert: Ein vierfacher Cognak, dazu zwei grosse Tassen mit schwarzem, sehr starken Café.

Ich weiss nicht mehr, wie ich es fertig gebracht habe, Hubertus für diesen „Morgenschock“ überhaupt zu begeistern. Ich vermute, dass es das besondere, eigentlich nicht zu benennende Ambiente im „Café Odeon“ gewesen sein muss, dass den Spiessbürger Hubertus dazu verführen konnte, etwas zu tun, was mit seinem Lebensbild überhaupt nicht zu vereinbaren war. Aber einmal etwas anders sein, warum nicht?

Wenn wir den ersten „Morgenschock“ (dem so manches Mal ein zweiter nachfolge) hinter uns gelassen und gut überstanden hatten, dann bauten wir die Figuren auf. Meistens spielten wir zwei bis drei, an manchen Sonntagen aber auch nur eine Partie, oftmals über mehrere Stunden. An einem der Sonntage war es mittlerweile bereits kurz vor zwölf Uhr und Hubertus war noch immer nicht erschienen. Hubertus ist übrigens gar nicht sein richtiger Name. Eigentlich hiess er Anton Huber. Ich nannte ihn spontan eines Tages einfach Hubertus, das klang so schön römisch. Er freute sich diebisch darüber und stelle sich (zu meinem grossen Erstaunen) unter diesem Namen auch anderen Menschen vor.

Hubertus war im Allgemeinen sehr pünktlich, sogar überpünktlich. Seit drei Jahren trafen wir uns nun bereits im „Café Odeon“, er war noch kein einziges Mal zu spät gekommen. Das beunruhigte mich, in diese Unruhe mischte sich aber auch etwas Ärger, er hätte doch im Café anrufen können.

Als ich gerade damit begonnen hatte, die inzwischen aufgebauten Figuren wieder in den Kasten zu räumen, da stand Hubertus plötzlich vor mir, völlig aufgeregt und atemlos, er musste offensichtlich die letzten Meter gelaufen sein. Er keuchte, kleine Schweisstropfen standen ihm auf der Stirn.

„Entschuldige, dass ich mich verspätet habe“, stiess er mit belegter Stimme hervor.

Er setzte sich, ich stellte die bereits verstauten Figuren wieder auf, wir knobelten um die Eröffnung.

„Warum kommst Du so spät?“ frage ich so nebenbei und versuchte, meinen Ärger vor ihm zu verbergen.

„Ja, weisst Du, ich habe meinen Onkel besucht, er ist sehr krank, er hat Krebs, ich glaube, dass er bald sterben wird“.
„So, so !“

Ich eröffne mit dem dritten Bauern, Hubertus zieht den Königsbauern vor.

„Ich werde in den nächsten Wochen wohl nicht zum sonntäglichen Schach und „Morgenschock“ kommen, ich muss den Onkel besuchen, mich um ihn kümmern, wer weiss, wie lange er es noch macht“.

Ich nicke und schiebe den weissen Läufer vor seinen König, geschützt von einem Bauern: „Schach!“

„Du gehst doch sonst nie zu Deinem Onkel“, werfe ich beiläufig ein.

Hubertus schweigt zunächst, schaut kurz auf: „Ich glaube, dass er wirklich bald stirbt“ sagt er leise, er hat ein sehr schönes Haus, es liegt an einem Abhang, ganz ruhige, allerbeste Lage, vom Balkon siehst Du den Zürcher See, vielleicht erbe ich ja das Haus, seine Frau ist schon lange tot, er hat ausser mir keine weiteren Angehörigen, deshalb muss ich den Onkel besuchen“ erklärt er mir ruhig mit belegter Stimme.

Ich erinnere mich, dass Hubertus mir auf einem Spaziergang ein Haus gezeigt hatte, von dem er sagte, es gehöre seinem Onkel. „Wie alt ist denn Dein Onkel?“
„Er wurde vor kurzem zweiundsechzig, das hat er mir heute früh gesagt“.
„Und hat er wirklich Krebs?“ frage ich.
„Ja, das hat er, es sterben heute doch viele Menschen an Krebs, auch in diesem Alter“ erklärt mir Hubertus und lächelt. Mir gefällt dieses Lächeln nicht. Ich schaue ihn an und frage mich: „Kenne ich ihn eigentlich?„

Drei Jahre spielen wir nun bereits miteinander (gegeneinander) Schach, jeden Sonntag und manchmal auch noch zuhause. Was aber weiss ich wirklich über ihn?

Ja, ich weiss, dass er Innenarchitekt ist, dass er auch einmal verheiratet war und längst geschieden ist, mehr weiss ich jedoch nicht über ihn. Seltsam ! Ich habe mich auch nie intensiver mit seiner Person befasst. Hubertus als Erbschleicher, der auf den Tod seines Onkels wartet?

Hubertus wirkt zerstreut, macht falsche, unnötige Züge, ich gewinne die Partie.

Hubertus seufzt erleichtert auf, seine Gedanken waren wohl beim schönen Haus des Onkels.

Er steckt sich eine Zigarette an, wird zunehmend hektischer. Schliesslich steht er auf und verabschiedet sich hastig.

„Wir sehen uns sicher bald wieder“ erklärt er und reicht mir die Hand, murmelt mit leiser Stimme: „Der macht's nicht mehr lange, ich fühle das“ fügt er hinzu und verlässt fluchtartig das „Odeon“.

Ich räume ein zweites Mal die Figuren weg, bezahle und verlasse ebenfalls das Café.

Eines Abends, etwa drei Wochen später klingelt mein Telefon, Hubertus ist am anderen Ende er Leitung: „Ich komme am nächsten Sonntag wieder ins „Odeon“ höre ich ihn sagen.

„Wieso, ist Dein Onkel gestorben, bist Du nun stolzer Besitzer eines wertvollen Hauses mit Blick auf den Zürcher See?“
„Nein“, erklärt er mir mit trockener Stimme, „mein Onkel lebt, er ist wieder gesund geworden, es war gar kein Krebs, der Arzt meint, dass der Onkel noch hundert Jahre alt werden kann“.

Hubertus schien sehr traurig zu sein über die Gesundung und über das wieder gefundene Leben seines Onkels.

„Gehst Du trotzdem Deinen Onkel gelegentlich besuchen, seid Ihr Euch menschlich etwas näher gekommen?“ frage ich ihn.
„Ich weiss noch nicht, bei meinem letzten Besuch hat er mir zu verstehen gegeben, dass ich sein Haus nicht bekommen werde“.
„Hat er Dir denn auch gesagt, warum er sich so entschieden hat?“

Hubertus druckste ein paar Sekunden herum, dann gestand er mir, dass sein Onkel ihm nahe gelegt habe, ihn nicht mehr zu besuchen, denn er habe sehr wohl bemerkt, worum es ihm gegangen sei, nämlich einzig um das Haus und nicht um die Krankheit und Gesundheit, das Haus würde der Onkel dem Tierschutzverein in Zürich vermachen.

Wir sprachen noch eine Weile miteinander, es waren nur unbedeutende Dinge, dann verabredeten wir uns für den kommenden Sonntag wieder einmal im „Café Odeon“. Ich freute mich schon sehr auf die nächste Schachpartie, ich hatte mir inzwischen einen erstklassigen Eröffnungszug ausgedacht.

Axel Michael Sallowsky

Auszug aus „Treibgut nur im Strom der Zeit“