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Zur Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November 1938

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Zur Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 1944/1945 – Todesmärsche, Menschenjagden

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Politik

Vortrag auf der Gedenkveranstaltung des Jüdischen Lehrhauses Göttingen am 9. November 2025 zur Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November 1938.

Zivilisten beobachten eine Reichskristallnacht: Nazi-Offiziere zerstören jüdisches Eigentum, höchstwahrscheinlich in Fürth bei Nürnberg, 9. November 1938.
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Zivilisten beobachten eine Reichskristallnacht: Nazi-Offiziere zerstören jüdisches Eigentum, höchstwahrscheinlich in Fürth bei Nürnberg, 9. November 1938. Foto: Anonymous (PD)

Datum 11. November 2025
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Als die Rote Armee die deutsche Invasion im Februar 1943 vor Stalingrad stoppte und danach siegreich nach Westen vordrang, gerieten die Nazi-Grössen, vor allem die Kommandanten der Konzentrationslager und ihr Mordpersonal, in Panik; insbesondere die der Vernichtungslager in Polen wie Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Sobibor, Kulmhof, Belzec.

Dasselbe galt für die KZs im Reich selbst, als die alliierten Truppen vorrückten. Die Frage war, was mit den Häftlingen geschehen solle. Auf keinen Fall sollten sie Zeugnis von den KZ-Gräueln ablegen. SS-Reichsführer Himmler erwog den Plan, die Häftlinge den Alliierten zu übergeben, in der Hoffnung, deshalb mit einem günstigen Friedensvertrag davonzukommen. Als das als unrealistisch sich erwies, wurde die Ermordung der Häftlinge beschlossen.

Es gibt zu diesem letzten Kapitel der NS-Zeit eine Fülle von Untersuchungen. Die materialreichste und differenzierteste ist das 2010 erschienene und 2011 ins Deutsche übersetzte Buch des israelischen Historikers Daniel Blatman von der Universität Jerusalem.
Der Beginn der KZ-Auflösungen datiert auf den 17. Juni 1944. An diesem Tag ordnete Himmler an, die Häftlinge nicht in die Hände der Alliierten oder der Sowjets fallen zu lassen, und gab den Befehl, die Lager aufzugeben, falls sie nicht mehr zu halten wären. Wie die

Räumung praktisch erfolgen sollte, blieb den KZ-Kommandanten überlassen. Es war der Auftakt zu den Todesmärschen.

Ende 1944 begannen die Lagerauflösungen in Ostpolen und im Baltikum, im Januar 1945 folgte Auschwitz, von wo die Gefangenen ins Innere des Reichs deportiert wurden, im März und April wurden auch die letzten Lager aufgelöst. Mitte 1944 waren etwa 750.000 Menschen in den KZs gefangen, ein Drittel von ihnen starb im Zuge der Räumungen. Vom KZ Flossenbürg nach Dachau z.B. wurden 15.000 Menschen getrieben, 5000 von ihnen fand man tot am Strassenrand. Andere packte die SS in Viehwaggons, in denen viele starben. Hier ein Beispiel eines Todestransports von Buchenwald nach Dachau.

Es waren zum grössten Teil Jüdinnen und Juden, aber nicht zu vergessen: auch Roma und Sinti, Homosexuelle, Menschen aus dem Widerstand der Arbeiterbewegung, Oppositionelle aus bürgerlichen und christlichen Kreisen.

Da die KZ-Wachmannschaften nicht ausreichten, wurden örtliche Amtsträger einbezogen wie Bürgermeister und Parteifunktionäre, ferner Angehörige des Volkssturms und der Hitlerjugend, schliesslich auch weitere beamtete Bürger, die mehr oder minder willfährig mitmachten.

Exemplarisch für viele möchte ich die Räumung des KZ Sachsenhausen darstellen.
Im Herbst 1944 begannen zwischen Himmler und dem KZ-Kommandanten Gespräche über die Räumung des Konzentrationslagers. Ursprünglich wurde beabsichtigt, alle Häftlinge durch Bombenabwürfe oder Massenerschiessungen zu töten. Doch als die Rote Armee Anfang Februar 1945 die Oder erreichte, wurde das verworfen. Daraufhin erhielt der Erste Lagerarzt den Befehl, alle kranken Häftlinge zu selektieren, sie entweder gleich hier zu ermorden oder sie in die Vernichtungslager Bergen-Belsen und Mauthausen abzuschieben. Die übrigen Häftlinge sollten durch den Korridor, der zwischen den Fronten der Westalliierten und der Roten Armee verblieben war, nach Nordwesten getrieben werden.

Bei der Räumung des KZ wurden noch kurz vor der Befreiung mehr als tausend Häftlinge ermordet. Am 20. und 21. April 1945 wurden 33.000 Männer, Frauen, Kinder von Sachsenhausen nach Norden durch Brandenburg getrieben.

Schlecht gekleidet und halbverhungert mussten die Häftlinge, Männer, Frauen, Kinder, täglich bis zu 40 Kilometer bei nasskaltem Wetter marschieren und in überfüllten Scheunen oder unter freiem Himmel übernachten. Wer nicht mehr weiter konnte, wurde erschossen, am Strassenrand liegengelassen.

Dasselbe geschah, wenn manche versuchten, sich am Wegesrand mit Wasser oder Nahrung zu versorgen. Die Kolonnen marschierten auf Waldwegen und Landstrassen, durchquerten Ortschaften, unter den Augen der Bevölkerung. Die meisten Zuschauer reagierten auf die Elendsgestalten mit Gleichgültigkeit, oft sogar verächtlich, nur einzelne boten Hilfe an.

Der Marsch endete mit der Befreiung durch sowjetische und amerikanische Truppen zwischen dem 2. und 4. Mai in Mecklenburg, 200 Kilometer von Sachsenhausen entfernt. Von 33.000 hatten 16.000 überlebt; für sie gehört der Todesmarsch zu den schrecklichsten Erinnerungen an ihre KZ-Haft. Einige Zeugenberichte mögen das veranschaulichen.

Mündliche Zeugenberichte:

Peter Heilbut, (1920-2005), Deutscher:

Kaum ist der Zug, ist unsere Fünfhundertschaft aus Oranienburgs Bebauung heraus, kaum im freien Gelände, da passiert es zum ersten Mal. Einer, einige Reihen vor uns, bricht zusammen, fällt, liegt da. Liegt da, in Erwartung, wie es nun weitergehe. [...] Oder gibt er sich der simplen Hoffnung hin, dass weitermarschiert und er hier liegen- und zurückgelassen werde? „Das ganze halt!“ Auf SS-Befehl wird er beiseite getragen, neben den Weg gelegt. Ein Schuss knallt. Wir haben den ersten Toten.
Wladimir Wojewodschenko, (1925-2020), Ukrainer:

Ich habe auf dem Marsch zwei meiner minderjährigen Kameraden aus meinem Block verloren – Vanja Doroschenko und Kolja Kavun. Während des Marsches sahen wir Haufen von Viehfutter, Steckrüben. Die Häftlinge stürmten aus der Kolonne zu der Miete. Auch wir sind mitgelaufen. Ich schnappte mir eine Steckrübe und rannte zurück, aber Vanja und Kolja befanden sich im Chaos neben der Miete. Die Wachmänner eröffneten das Feuer, und viele wurden getötet oder verwundet. Meine Freunde kehrte nicht zur Kolonne zurück, sie sind für immer auf diesem Acker geblieben. Sie gaben ihr junges Leben bei dem Versuch, ihren Hunger mit Viehfutter zu stillen.

Von den zahllosen Verbrechen soll nur ein einziges beschrieben werden, es ist allerdings das furchtbarste: das Massaker von Gardelegen (vormals Sachsen, heute Sachsen-Anhalt). Dort wurden am 13. April 1945 in einer Feldscheune 1016 KZ-Häftlinge ermordet.

Zum Hintergrund: Anfang April 1945 wurden die KZ-Aussenlager im Südharz geräumt. SS und Wehrmacht trieben die Häftlinge über den Harz, teils eingepfercht in Güterwaggons, teils in Fussmärschen; Ziel waren die KZs im Norden. Nach mehrtägigen Fahrten kamen die Züge zum Stehen. Wegen zerstörter Gleisanlagen, defekter Loks und der herannahenden Front waren die Zielorte nicht mehr zu erreichen. Etwa 4000-5000 Häftlinge befanden sich in der Region. Sie wurden in verschiedene Richtungen zu Fuss weitergetrieben. Ein Teil gelangte nach Gardelegen. Dort befanden sich am 13. April 1945 etwa 1100 Häftlinge.

Der NS-Kreisleiter ordnete die Ermordung der Häftlinge an. Am Abend des 13. April wurden sie zu einer Feldscheune am Stadtrand getrieben. Dort wurden sie in das steinerne und mit einem Ziegeldach gedeckte Gebäude eingesperrt, die Tore verriegelt.

Der Boden der Scheune war mit Stroh bedeckt, das mit Benzin getränkt war. Als es entzündet wurde, konnten die Gefangenen zweimal den Ausbruch des Feuers verhindern, indem sie es mit Kleidungsstücken und Säcken erstickten. Daraufhin schossen die Wachmannschaften mit Maschinengewehren und Panzerfäusten in die Scheune, warfen dazu Handgranaten und Phosphorgranaten hinein. In der Nacht wurde Benzin herbeigeschafft, um das Innere der Scheune in Brand zu setzen und die Leichen zu verbrennen. Die Opfer stammten aus Polen, der Sowjetunion, Frankreich, Italien und anderen Ländern, einige aus den französischen Kolonien Algerien und dem südamerikanischen Surinam. 1016 Menschen wurden ermordet.

An den Mordtaten beteiligt waren: SS, Wehrmacht, Polizei. Die Spuren beseitigten: Reichsarbeitsdienst, Volkssturm, Hitlerjugend, Technischer Notdienst, Feuerwehr.

Am 14. April 1945 gegen 17 Uhr nahm die US-Armee Gardelegen ein. Am Tag danach entdeckte sie den Ort des Geschehens.

Zwanzig SS-Männer als Täter des Massenmords wurden von den entsetzten und zornentbrannten Amerikanern an Ort und Stelle erschossen. Der NSDAP-Kreisleiter und SS-Obersturmbannführer Thiele, Hauptverantwortlicher, konnte mit falschen Papieren untertauchen; er wurde nie gefasst, starb 1994 und wurde erst danach enttarnt. Einer der Transportführer, SS-Hauptscharführer Brauny, wurde 1947 zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt und starb 1950.

Nach der Entdeckung des Massakers zwangen die Amerikaner die Einwohner Gardelegens zum Tatort, um sich das Grauen anzusehen.

Alle männlichen Einwohner über 16 Jahre, 250 bis 300 Personen, wurden mit Laken, Spaten und Grabkreuzen zur Scheune beordert und mussten die teils noch in der Scheune liegenden, teils schon in Massengruben verscharrten Opfer exhumieren und in Einzelgräbern bestatten. Die Gräber wurden mit einem weissen Kreuz oder, bei Kenntnis jüdischer Religionszugehörigkeit, mit einem weissen Davidstern versehen.

Dies wurde gefilmt. Diese Szenen sind Bestandteil des Dokumentarfilms Die Todesmühlen, gedreht vom österreichisch-amerikanischen Regisseur Billy Wilder. (Youtube: Wilder, Todesmühlen)

Der Film zeigt darüber hinaus die Aufdeckung der Verbrechen in anderen KZs. Er dauert 22 Minuten und ist nicht zu ertragen. Er macht verständlich, weshalb die US-Soldaten, von Entsetzen und Grauen überwältigt, gleich 20 SS-Männer erschossen haben.

Die Bestattungen dauerten vier Tage. Der Friedhof erhielt bei seiner Einweihung am 25. April 1945 den Status eines militärischen Ehrenfriedhofs, für dessen Schändung schwerste Strafen angedroht wurden. Von der US-Militärverwaltung wurden die Einwohner von Gardelegen zur persönlichen und lebenslangen Pflege eines bestimmten Grabes verpflichtet. In der DDR wurde diese Aufgabe der FDJ, Schulklassen und Betriebsbrigaden übertragen.

Seit etwa 15 Jahren, mit dem aggressiven Wiederaufleben der Nazi-Ideologie, kommt es zu Grabschändungen: Grabkreuze wurden herausgerissen und zu einem Hakenkreuz zusammengelegt, Gedenktafeln gestohlen, 2019 urinierten zwei Männer auf die Gräber und zeigten den Hitlergruss, immerhin wurden sie gefasst und verurteilt.

Wie stand die Bevölkerung zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik?

Nun, sie war bestens vorbereitet: sowohl für Verachtung und Hass – als auch für Gehorsam und Unterordnung:

Nach dem Krieg waren zwei Positionen populär:

• Wir haben nichts gewusst.

• Es muss nun ein Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit gezogen werden. Hier ein Wahlplakat aus dem Jahr 1953:

Wie sieht es heute aus mit der Forderung nach einem Schlussstrich? Hier die neuesten Ergebnisse des UmfrageInstituts Dimap aus dem vergangenen Jahr: Immerhin eine deutliche Mehrheit gegen den Schlussstrich; sogar die 26% der AfD-Mitglieder lassen doch aufmerken.

Zur Entschuldigung „Wir haben nichts gewusst“: Wirklich nichts? Zu fragen ist: Was konnten

die Menschen wissen, oder: Was mussten sie wissen?

Nach 1940 gab es nach Berechnungen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ 3846 Konzentrationslager, darunter sieben Vernichtungslager. Dazu kamen tausende von Nebenlagern, ferner Lager für Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, Zwangsbordelle, Judenghettos, Zwangsanstalten für vorgesehene Opfer der sog. Euthanasie. Nimmt man diese hinzu, kommt man nach Berechnungen des „Holocaust Memorial Museum Washington“ in von den Deutschen besetzten Ländern auf 42.500 NS-Lager, im Deutschen Reich allein auf 24.000.

Im KZ Auschwitz verrichteten während dessen Bestehens insgesamt 8500 SS-Männer Dienst. Dazu kam eine enorme Zahl von weiterem Personal: Wachleute, Sanitätsdienst, Handwerker, Küchendienst, Verwaltung. Nimmt man allein die Konzentrationslager, so waren Hunderttausende in diesen Mordfabriken direkt involviert. Diese hatten ihrerseits Familien, Verwandte, Freunde. Und auch wenn die in den KZs Tätigen unter einer Verschwiegenheitspflicht standen, konnte engen Angehörigen und Freunden nicht verborgen bleiben, was dort geschah. Der Film „Zone of Interest“ zeigt auf beklemmende Weise, wie Familienidylle und Vernichtungsfabrik nebeneinander existieren konnten. Hannah Arendts Diktum von der „Banalität des Bösen“, hervorgegangen aus ihrer Berichterstattung des Auschwitz-Prozesses, lässt sich auch umkehren als das „Böse der Banalität“.

Hinzukommen die Verbrechen von Wehrmacht und Polizei mit ihren Jagden auf Juden und Massenerschiessungen in Polen und der Sowjetunion. Eine persönliche Erinnerung: Als Student wohnte ich in einer Kammer bei einer Frau, einer aufrechten Sozialdemokratin. Sie erzählte mir von ihrem Mann, der am Polenfeldzug teilgenommen hatte. In einem Brief schrieb er nach Haus: „Was wir hier machen, ist so schrecklich, dass wir werden dafür bezahlen müssen“ – und er gebrauchte eine biblische Formulierung – „bis ins dritte und vierte Glied.“ Er fiel dann in Russland.

Der kanadische Historiker Robert Gellately hat jetzt die Lüge von den ahnungslosen Deutschen widerlegt. Nach jahrelanger Forschung in deutschen Archiven hat er ein Buch veröffentlicht: Backing Hitler, auf Deutsch etwa: Unterstützung für Hitler. Es ist 2001 erschienen, 2004 bei dtv verlegt und hat 640 Seiten.

Gellately zieht den Schluss: „Die Deutschen sollten von den KZs wissen. Das Regime erhoffte sich Zustimmung nicht trotz der KZs, sondern gerade wegen der KZs."

Gellately hat auch die Presse von damals ausgewertet. Hier wurden die KZs nicht etwa versteckt, sondern in Fotoreportagen dargestellt. In Dachau gab es sogar einen Tag der offenen Tür. Gellately schreibt: „Die Anwohner der KZs, etwa in Dachau, waren stolz auf ihr KZs. In der Überschrift einer Lokalzeitung heisst es etwa, das KZ sei der Wendepunkt für die Dachauer Geschäftswelt."

Einige Volksgenossen boten sich sogar als ehrenamtliche Henker an. Im Krieg etwa ging es oft darum: Was tun mit Frauen, die Sex mit Polen hatten? Die Einheimischen wollten sie gleich mithängen. Allerdings lehnten Hitler und Himmler ab.

Unzählig waren auch die Augenzeugen der Todesmärsche, die durch die Orte zogen. Sie gafften am Strassenrand oder schauten hinter ihren Gardinen zu.

Selten warfen Zuschauer den vorbeiziehenden Elendsgestaltgen ein Stück Brot zu. Oft aber reagierten sie mit Hass und Häme. Der Holländer Albert van Dijk berichtet, dass er eine feindselige Bevölkerung erlebte, die angelaufen kam, um der SS beim Morden zuzusehen. Und erzählt, wie ein Häftling von einem Wachmann erschossen wurde:

Bericht des Albert van Dijk (1925 – 2021):

„Dann hat er den zusammengebrochenen Körper zerschossen mit seiner Maschinenpistole. Und dann haben die Bürger gesagt: Warum macht Ihr euch so viel Mühe, mit diesen Leuten noch weiterzuziehen, legt sie doch alle um. [...] Ein Häftling hat gefragt: Bitte gnädige Frau, bitte, haben Sie etwas zu trinken für mich? Und dann hat sich das Weib - ich sag das Weib - auf den Häftling gestürzt, hat ihn ins Gesicht gekratzt, ihn angespuckt und gesagt: Da hast du Wasser, du Dreckiger."

Bericht des Jaroslav Vrabec, Tscheche (1921 - 2010):

Zwölf Tage und Nächte sind wir gelaufen, wir wurden nass, wir froren, wir fielen um vor Erschöpfung und Hunger. Wer aus der Reihe trat, wurde erschossen. Zwölf Tage und Nächte im Schatten des Todes. Immer im Kontakt mit der zurückgeschlagenen deutschen Armee und fanatisierten deutschen Jugend, die uns bespuckte und beschimpfte, dass wir es gewesen sind, warum sie den Krieg verloren haben.

Wem es zu flüchten gelang, wurde von der Bevölkerung gejagt und der SS übergeben. Was in den Todesfabriken der Vernichtungslager nicht mehr produziert werden konnte, weil die Befreier nahten, wurde von den Volksgenossen zu Ende geführt: Verlagerung der sog. Endlösung auf die Strasse.

Doch am Schluss mussten die Wegseher hinsehen. So wie die Alliierten die Bevölkerung zwangen, in den befreiten KZ-Lagern sich die Leichen anzusehen, so auch die Leichen der Todesmärsche: Wie war so ein Nicht-Sehen-Wollen und Verleugnen möglich? Eine solche Gleichschaltung des Empfindens und Verhaltens? Hannah Arendt hat das Wesen dieser Gleichschaltung herausgearbeitet.

Hannah Arendt beschreibt in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft von 1951, wie aus dem Zusammenbruch der Bourgeoisie der Typus des Spiessers entstand, jenes Bürgertyps, der vor allem besorgt war um die eigene Sicherheit und das Wohlergehen seiner Familie: „Hier waren keine Leidenschaften, verbrecherische oder normale, sondern lediglich eine Gesinnung, die es selbstverständlich fand, bei der geringsten Gefährdung der Sekurität alles – Ehre, Würde, Glauben – preiszugeben.“

Es waren nicht Fanatiker, Kriminelle oder Pervertierte, auch kein aufgepeitschter Mob, sondern „ganz normale Bürger“, die hier agierten. Auch Hauptverbrecher wie Himmler oder Eichmann waren nichts andres als Inkarnationen dieses Typus. Das meinte Arendt mit ihrer Formel von der „Banalität des Bösen“.

In voller Bestialität zeigte sich dieser Menschentypus bei den Geschehnissen am KZ Mauthausen. Dort waren 200.000 Menschen gefangen, von denen 100.000 starben. Neben Juden und anderen Verfolgten waren dort auch sowjetische Kriegsgefangene inhaftiert. Die Deutschen hatten über 5,7 Millionen sowjetische Kriegsgefangene in ihren Lagern; davon starben 3,3 Millionen. Sie wurden ermordet, starben an Hunger und Krankheiten, das sind 58%. Man liess sie einfach krepieren. Da man sie als „Untermenschen“ betrachtete, galt die Genfer Konvention für sie nicht. Die Sterberate von gefangenen Amerikanern und Briten lag bei 3,5%

In der Nacht zum 2. April 1945 unternahmen fünfhundert Häftlinge des KZ Mauthausen unter Führung sowjetischer Offiziere erfolgreich einen Ausbruch. Es war strenger Winter mit acht Grad Kälte. Viele der ausgehungerten Flüchtenden brachen gleich erschöpft zusammen oder starben im Kugelhagel der Maschinengewehre. Fünfundsiebzig im Krankenblock Verbliebene wurden gleich ermordet. Über dreihundert Häftlinge konnten fliehen und versteckten sich in den Wäldern. Noch am selben Morgen rief die SS-Lagerleitung eine „Treibjagd“ aus, an der sich neben SS, SA, Wehrmacht, Gendarmerie, Feuerwehr, Volkssturm, Hitlerjugend auch die mit Schusswaffen versehene Zivilbevölkerung beteiligte.

Die SS erfand dafür die Metapher „Mühlviertler Hasenjagd“. Diese dauerte drei Wochen. Die meisten Ergriffenen wurden an Ort und Stelle erschlagen oder erschossen, die Leichen auf dem Hof einer benachbarten Volksschule wie Beutegut zu einem Haufen gestapelt.

Siebenundfünfzig Geflüchtete überlebten. Nicht verschwiegen werden soll aber auch: Versteckt in den Wäldern, wurden sie von Bäuerinnen und Bauern mit Kleidung und Lebensmitteln versorgt, manche nahmen sie sogar unter eigner Lebensgefahr bei sich auf. Ein nicht hoch genug zu schätzender Akt der Courage und Humanität. Drei Monate später ging der Krieg zu Ende, Geflüchtete und Helfer waren nun sicher.

Darüber sind mehrere Romane geschrieben worden, und es gibt auch eine eindrucksvolle Verfilmung von Andreas Gruber.

Die Deutschen waren beeindruckt und suchten nun ihrerseits den Anschluss an Österreich. In Salzgitter, 90 km von hier entfernt, waren die „Reichswerke Hermann Göring“ mit mehreren Aussenlagern. Beim Heranrücken der Alliierten stellte die SS einen Transport für 3000 bis 4000 Zwangsarbeiter, Männer, Frauen, Kinder, ins KZ und Vernichtungslager Bergen Belsen zusammen. Nach der Ankunft in Celle wurde der Bahnhof bombardiert, wobei etwa 400 bis 1000 Menschen zu Tode kamen. Die andern versteckten sich in der Stadt oder in einem nahen Wald. An der Suchaktion bis zum 10. April beteiligten sich SS, Wehrmacht, Polizei, Volkssturm, Zivilisten. Besonders hervor tat sich die fanatisierte Hitlerjugend mit der Parole „Zebras schiessen!“ - Zebras deshalb, weil die Häftlinge an ihrer gestreiften KZ-Kleidung kenntlich waren.

In Anlehnung an das österreichische Vorbild wurde der Ausdruck „Celler Hasenjagd“ geprägt.

Am 12. April rückten die Briten in die Stadt ein und erblickten mit Entsetzen die zahllosen Leichen und die elenden halbverhungerten Menschen. Sie liessen die Bevölkerung ihren Zorn spüren. Denn auch hier waren wieder „ganz normale Bürger“ dabei, wenige, immerhin, halfen. Aus dem Bericht der britischen Untersuchungskommission:

Nachdem der Luftalarm geendet hatte, begannen einige SS-Leute, Soldaten und Helfershelfer aus der Zivilbevölkerung, Jagd auf die Häftlinge zu machen. Eine unbekannte Anzahl wurde aufgegriffen und erschossen. Andere wurden erschlagen. Auf jene, die zu Gruppen zusammengetrieben worden waren, wurde blindlings das Feuer eröffnet. Die Verwundeten wurden durch Genickschuss getötet.

… Viele Häftlinge versuchten zu fliehen, waren aber zu schwach dazu, sodass sie erbarmungslos erschossen wurden. Das Schiessen hielt die ganze Nacht an und dauerte bis zum Mittag. Viele Häftlinge flehten um Gnade und baten um ihr Leben, wurden aber von den an der Jagd auf sie Beteiligten nur ausgelacht. Viele Bürger versuchten, den Häftlingen zu helfen, indem sie sie versorgen wollten, wurden aber von denen bedroht und geschlagen, die an der Ermordung der Häftlinge teilgenommen hatten. (Blatman, S. 441 f.)

Ermittlungen führten ab dem 2. Dezember 1947 zum „Celle Massacre Trial“ vor einem britischen Gericht. Drei Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, vier erhielten Haftstrafen zwischen vier und zehn Jahren. Die Todesurteile wurden in der BRD in Haftstrafen umgewandelt; alle Angeklagten wurden 1952 vorzeitig entlassen. Auch eine Form der Entnazifizierung.

Menschenjagden gibt es heute wieder. In den USA jagt die Nationalgarde sog. Illegale, in Polen fahnden selbsternannte Bürgerwehren nach Geflüchteten. Aber kehren wir vor unsrer eignen Tür. Hier und vorerst noch spricht man von „Remigration“.

Das Schlusswort soll Bertolt Brecht haben. In seiner Kriegsfibel zeigt er ein Foto: Hitler mit aufgerissenem Maul bei einer Parteitagsrede, darunter setzt Brecht die Verse: "Das da – mehr Abscheu geht nicht. Historisch und gegenwärtig".

Hermann Engster

Zuerst erschienen auf streifzuege.org