Die organisierte Art von Ordnung Zu einigen Grundsätzen anarchistischer Organisationstheorie

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Der Einzelne aber ist einzig, kein Glied der Partei. Er vereinigt sich frei und trennt sich wieder frei (Stirner 2008: 260)

Zu einigen Grundsätzen anarchistischer Organisationstheorie.
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Zu einigen Grundsätzen anarchistischer Organisationstheorie. Foto: Karin Beate Nøsterud (CC BY 2.5 cropped)

28. Dezember 2011
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Organisation ist ein Kampfbegriff, sowohl innerhalb der anarchistischen Diskurse selbst, als auch innerhalb der aussenstehenden Diskurse über Anarchismus. Einerseits wird der anarchistischen Bewegung – zum Beispiel von marxistischer Seite – vorgeworfen, sich gegen Organisation als solches zu stellen, andererseits gibt es durchaus anarchistische Strömungen, die sich in eigener Beschreibung gegen Organisationen stellen [1].

In der Tat, existieren auch soziologische Beschreibungen, die das Prinzip von Organisation mit Herrschaft in Verbindung bringen, so zum Beispiel Max Weber [2]. Dennoch lässt sich gerade Weber als Grundlage für ein Verständnis von Organisation heranziehen, welches nicht essentiell herrschaftlich auftritt: Organisation wird verstanden als Ordnung von Menschen und Dingen [3] nach dem Prinzip von Zweck und Mittel (Weber 2008: 839). Eine Organisation tritt nach Weber also auf den Plan um bestimmte Zwecke zu erfüllen und bildet sich aus jenen Mitteln, die hierfür zur Anwendung kommen, ob es sich nun um Personen oder Aktenordner handelt.

Diese spezifische "organisierte" Art von Ordnung lässt sich nun durchaus mit einem anarchistischen Anspruch herstellen [4]. In unserem Alltag jedoch begegnen uns zahlreiche Organisationen, seien es nun Behörden oder Firmen, als durch und durch herrschaftliche Ordnungen. Wie lassen sich diese Formen von anarchischen unterscheiden?

Im Zuge der Trennung zwischen anarchischen und herrschaftlichen Organisationen wurden Kriterien aufgestellt, welche erfüllt sein soll damit eine Organisation eine anarchische sein soll. Eine der ältesten Spezifikationen dieser Art finden wir bei Max Stirner und seiner Trennung von Verein und Gesellschaft. Neuer und prägnanter, dafür an der Oberfläche verweilend, ist die Bestimmung notwendiger Grundlagen von Colin Ward. Dieser kennt genau vier Notwendigkeiten, die eine anarchische Organisation aufweisen muss [5]. Sie soll eine

1. freie

2. funktionale

3. temporäre

4. kleine

Assoziation sein (Ward 2010). Frei bedeutet hier, dass es keinen Zwang oder gesellschaftlichen Druck zur Mitgliedschaft gibt und keine Assoziation von aussen verhindert wird (zum Beispiel durch ein Gewerkschaftsverbot). Funktional zielt auf eben jene Charakteristik ab, die schon Max Weber in den Vordergrund stellte: die Relation von Zweck und Mitteln. Die Assoziation soll lediglich jenen Zwecken dienen, für die sie von ihren Mitglieder_innen vorgesehen ist. Die letzten beiden Punkte, Temporalität und kleine Grösse, der anarchischen Organisation, dienen dazu oligarchische oder anderweitige hierarchische Formationen im Keim zu ersticken.

An Wards Kriterien wird bereits deutlich, worauf die anarchistische Kritik abzielt. Durch diese Einschränkungen soll verhindert werden, dass sich das Prinzip einer Organisation verselbstständigt. Diese Verselbstständigung ist, was der Anarchismus befürchtet, und der Grund warum der Anarchismus jeden Staat ablehnt. Der Staat entwickelt seine eigenen Zwecke, die nicht mehr jenen der Einzelnen entspricht:

"Da der Staat sein eigenes oberstes Ziel darstellt, ist alles, was der Entwicklung seiner Macht günstig ist, gut; alles, was dieser Entwicklung entgegensteht, selbst wenn es die humanste Angelegenheit der Welt wäre, ist schlecht. Diese Art Moral nennt man Patriotismus." (Bakunin 2007: 89)

Ganz ähnliche Überlegungen trieben Stirner an seinen Verein von der Gesellschaft in Abgrenzung zu beschreiben:

"Ist die Gesellschaft mehr als Du, so geht sie Dir über Dich; der Verein ist nur dein Werkzeug oder das Schwert, wodurch Du deine natürliche Kraft verschärfst und vergrösserst; der Verein ist für Dich und durch Dich da, die Gesellschaft nimmt umgekehrt Dich für sich in Anspruch und ist auch ohne Dich; kurz die Gesellschaft ist heilig, der Verein dein eigen: die Gesellschaft verbraucht Dich, den Verein verbrauchst Du." (Stirner 2008: 351)

Wir sehen hier auch wiederum, dass von einer anarchischen Organisation gefordert wird ausschliesslich die Zwecke ihrer Mitglieder_innen zu verwirklichen. Dafür gibt es einen guten Grund: Es sind allein die Interessen von Einzelnen, welche in letzter Instanz von Interesse sind. Wird das scheinbare Interesse einer Organisation erfüllt ist noch kein lebendiges Interesse erfüllt. Erst die Einzelnen sind es, die den Interessen von Organisationen lebendig erscheinen lassen. Diesen Scheininteressen zu folgen, bedeutet, sich dem Sachzwang zu unterwerfen, und dieser Sachzwang kann, wie Bakunin schon anmerkte, äusserst grausam sein. Herrschaft ist hier nicht, die aktive Unterwerfung von einem oder mehreren Individuen, durch ein oder mehrere andere, sondern der stille Gehorsam gegenüber dem was die verdinglichte Organisation abverlangt. Wir enden in einer freiwilligen Knechtschaft [6].

Das Prinzip, dass Organisationen nur der Verwirklichung der Zwecke ihrer Mitglieder_innen dienen soll, ist in den momentanen Verhältnissen kaum verankert, ja geradezu unbekannt [7]. Angesichts dessen sind sie auch in neuren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen eine Seltenheit. In der systemischen Organisationstheorie wird Zweckrationalität zugunsten der Idee von verselbstständigten Organisationen [8] gar komplett verworfen:

"Die Zweckrationalität von Organisationen ist ein Mythos, […]" (Simon 2009: 29) Allerdings ist gerade diese Organisationstheorie stark an Firmen und Behörden orientiert, jenen Organisationen, die von anarchistischen Strömungen strikt abgelehnt werden. Dennoch sollte von Anarchist_innen damit das Problem der verselbstständigten Organisationen, nicht mit dem Verweis wir organisierten uns anders auf die leichte Schulter genommen werden. Allzuschnell wird aus einer anarchischen eine verselbständigte Organisation:

"Allerdings entsteht auch durch Verein eine Gesellschaft, aber nur wie durch einen Gedanken eine fixe Idee entsteht, dadurch nämlich, dass aus dem Gedanken die Energie des Gedankens, das Denken selbst, diese rastlose Zurücknahme aller sich verfestigenden Gedanken, verschwindet. Hat sich ein Verein zur Gesellschaft kristallisiert, so hat er aufgehört, eine Vereinigung zu sein" (Stirner 2008: 342)

So gibt es neben den vier von Ward aufgestellten Bedingungen für eine anarchische Organisation, zumindest noch eine weitere: Die Wachsamkeit der Mitglieder_innen und ihre aktive Arbeit an einem anarchischen Zustand. Das rastlose Denken ist nicht weniger als eine Notwendigkeit anarchischer Organisation. Anarchismus heisst Bewegung.

Tuli

[1] Insbesondere der insurrektionalistische Diskurs hat sich hier hervorgetan, für eine Darstellung der momentanen Situation siehe Gelderloos 2010.

[2]"Bei allen Herrschaftsformen ist die Tatsache der Existenz des Verwaltungsstabes und seines kontinuierlich auf Durchführung und Erzwingung der Ordnungen gerichteten Handelns für die Erhaltung der Fügsamkeit vital. Die Existenz dieses Handelns ist das, was man mit dem Wort »Organisation« meint." (Weber 2008: 196)

[3] Nicht menschliche Tiere werden bei Weber aussen vorgelassen, bzw. unter Dinge subsummiert.

[4] Die Beispiele hierfür strecken sich nicht nur über den klassisch organisierten Anarchismus, wie zum Beispiel die Syndikate, sondern auch über die individualanarchistischen Vereine, sowie das Prinzip des Black Bloc.

[5] Das Muss ist hier sehr weit gefasst, denn nicht alle anarchistischen Organisationen halten sich an alle dieser recht vagen Grundpunkte. Dennoch möchte ich diesen Organisationen nicht komplett ihren anarchistischen Charakter absprechen. Schliesslich existiert keine Person oder Menschengruppe die vollkommen frei von Herrschaft ist.

[6] Der Begriff der freiwilligen Knechtschaft stammt von Étienne de La Boétie, der jedoch Herrschaft noch stärker personal denkt (Boétie o. J.).

[7] In einem gewissen Sinne ist diese Art von Zweckrationalität durchaus bekannt, als Ideologie, als falsche Vorstellung über die Natur der staatlichen Organisationen.

[8] Im Anschluss an Niklas Luhmann lassen sich solche Organisationen auch als autopoietisches Systeme verstehen.