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Wer soll das alles ändern? Die Ambivalenz des „Realismus”.

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Die Ambivalenz des „Realismus” Wer soll das alles ändern?

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Politik

Mentalitäten, Auseinandersetzungen und soziale Bewegungen für eine grundlegende Gesellschaftstransformation.

Sascha Kohlmann
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Sascha Kohlmann Foto: Autor (CC-BY-SA 2.0 cropped)

Datum 13. Oktober 2025
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Wer wenig um die sozialen Kräfte weiss, die zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation beitragen können, wird bereits aus diesem Grund kaum bereit sein, sich an entsprechendem Engagement zu beteiligen. Dieser Text vergegenwärtigt mit vielen empirischen Beispielen befürwortenswerte gesellschaftliche Tendenzen sowie unterstützenswerte soziale Kräfte.

Häufig verbreiten Medien, wie schrecklich es auf der Welt doch zugeht. „Warum wird uns pausenlos von Terror, Krisen, Katastrophen […] und den daraus resultierenden Sachzwängen und Alternativlosigkeiten erzählt? Ich sage euch warum: Furcht gebiert Gehorsam“ (Marc-Uwe Kling). Zu ergänzen wäre: Pessimismus in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung geht einher mit Passivität und Anspruchsreduktion sowie mit der Bereitschaft dafür, das Glück allein im privaten Winkel zu suchen.

Wir fragen, wie die Wirklichkeit zur Idee drängt, und vertrauen nicht darauf, dass die Idee sich gegen eine Realität durchsetzt, die ihr die kalte Schulter zeigt. Wir gehen aus vom Gegensatz zwischen Wirklichkeiten in einer Gesellschaft und nicht vom Gegensatz zwischen Idee und Wirklichkeit. Die von uns beschriebenen sozialen Kräfte für eine grundlegende gesellschaftliche Transformation resultieren aus Widersprüchen innerhalb der Gesellschaft und nicht aus edelmütigen Sonntagsreden oder einem Schwärmen für das Wahre, Schöne und Gute, das sich an sich selbst erbaut.
Angesichts der gegenwärtigen Übermacht der Gegner steht die Suche nach sozialen Kräften für eine anstrebenswerte grundlegende Gesellschaftstransformation in der Gefahr, das Gras wachsen zu hören, also vergleichsweise sympathische Entwicklungen sowie Kräfte zu überschätzen. Wunschdenken bzw. Hofferei sind ebenso zu vermeiden wie die pauschale Annahme, die moderne bürgerliche Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie vermöge alles systemkonform zu absorbieren.

Dieser Text vergegenwärtigt Konvergenzen zwischen unterschiedlichen Auseinandersetzungen. „Sinnvolle Arbeit und Tätigkeit” sowie „Lebensqualität in der Arbeit” bilden – so unser Vorschlag – dabei die übergreifenden Themen. Skizziert wird, wie sie sich dazu eignen, verschiedene soziale Kräfte in eine einander bestärkende Resonanz zu bringen und zu so etwas wie einer Wahlverwandtschaft zu führen.

Dieser Text beansprucht keine Vollständigkeit bei den empirischen Beispielen. Er verdeutlicht unterstützenswerte Auseinandersetzungen und Mentalitäten. Feststellungen über eine Gesamtheit (à la „Die Bevölkerung präferiert x”) sind nicht beabsichtigt. Die Aufmerksamkeit einer Einzelperson für die vielen Dimensionen des Themas bleibt notwendigerweise begrenzt. Umso mehr, wenn diese Person kein Bewegungsforscher ist. Insofern lässt sich kaum vermeiden, dass Beispiele, die das jeweils Gesagte besser vergegenwärtigen, nicht vorkommen. Dieser Text ist ein Diskussionsvorschlag. Der Autor ist unter info (at) meinhard-creydt.de erreichbar.
Die Ambivalenz des „Realismus”

Eine realistische Vergegenwärtigung wirkt zu Recht positiven zukunftsgläubigen Illusionen entgegen. Zugleich verbirgt sich in dem, was als „Realismus” bezeichnet wird, häufig eine problematische Erwartungsreduktion.

„Das Bedürfnis, sich gegen die Macht des Kapitals (vermittelt über die Vorgesetzten) aufzulehnen, löst gleichzeitig Existenzangst aus wegen des damit verbundenen Risikos. Die häufig anzutreffende Übertreibung der realen Machtverhältnisse entlastet von diesem Konflikt und den Anforderungen zur Gegenwehr, gibt der Unterordnung etwas Schicksalhaftes und nimmt ihr damit das Odium persönlicher Schwäche. So machen sich viele Beschäftigte kleiner als sie sind“ (Wiethold 1985, 28).

„Man könnte die Leute […] fragen, welche Seite sie denn gern als Sieger sehen würden. Wenn nämlich ein Zyniker alle Bemühungen um eine bessere Welt mit der Begründung abtut, dem stünde schon die menschliche Natur entgegen, dann habe ich immer das Gefühl, der will es gar nicht anders haben. […] Wenn man erlebt, wie diese Leute auftreten, wie sie argumentieren, wofür sie sich einsetzen, wie starrköpfig sie keiner Alternative auch nur die kleinste Chance geben, dann muss man daraus schliessen, dass die am liebsten in ihren Befürchtungen bestätigt werden wollen“ (Albert 2006, 284).

Der Eifer, mit der der „Realismus“ einer vermeintlich abgeklärten Verabschiedung aller positive Erwartungen in Bezug auf eine grundlegende gesellschaftliche Transformation vertreten wird, provoziert dazu, nach den latenten Motiven für diesen Drang zu fragen. Diese Einstellung möchte nicht wahrnehmen, dass „man sich aus Furcht vor dem Risiko nicht dagegen (gegen gesellschaftlich bearbeitbare Probleme – Verf.) engagieren möchte und sich daher sonst seiner Untätigkeit schämen müsste, oder weil man als Nutzniesser derselben sein Gewissen beruhigen will“ (Ebd.). Man möchte nur bei etwas dabei sein, dessen Erfolg sicher ist. Das ist bei einem Handeln, das sich an grundlegender gesellschaftlicher Veränderung orientiert, ausgeschlossen.

In Bezug auf die gesellschaftlichen Perspektiven haben sich viele angewöhnt, sich nichts Positives zu erwarten, um keine Enttäuschung erleiden zu müssen.

Meinhard Creydt

Vollständiger Artikel zum Download als PDF Wer soll das alles ändern?