Globalisierung und Globalisierungskritik „Make the nation state great again!“

Politik

Warum Globalisierungskritik längst keine Domäne der Linken mehr ist und was das mit dem Nationalstaat und seiner Krise zu tun hat.

Donald Trump verspricht, der durch die Globalisierung immer weiter vorangetriebenen „Entgrenzung der Welt“ (Leggewie) durch eine Grenzmauer zu Mexiko, Einreiseverbote und seinen „America-first“-Protektionismus Einhalt zu gebieten. Grenze zwischen den USA und Mexiko, Juni 2016.
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Donald Trump verspricht, der durch die Globalisierung immer weiter vorangetriebenen „Entgrenzung der Welt“ (Leggewie) durch eine Grenzmauer zu Mexiko, Einreiseverbote und seinen „America-first“-Protektionismus Einhalt zu gebieten. Grenze zwischen den USA und Mexiko, Juni 2016. Foto: CBP (PD)

17. Mai 2017
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Vom legendären „Battle of Seattle“ bei der WTO-Ministerkonferenz 1999 über den blutigen G8-Gipfel in Genua 2001 bis hin zu den letzten grossen Gipfelprotesten in Heiligendamm 2007 gehen einige der grössten und weltweit am stärksten beachteten Protestereignisse der vergangenen Jahrzehnte auf das Konto jener transnationalen sozialen Bewegungen (im Plural), die in den 1990er Jahren unter dem schillernden Banner der „Globalisierungskritik“ die Weltbühne betraten.

Das politische Spektrum dieser Protestbewegungen reichte von militanten Autonomen über Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen, Gewerkschaften, dem Netzwerk Attac, bis hin zu christlichen Dritte-Welt-Gruppen und handzahmen Lobby-NGOs. Es wäre sicherlich falsch, diesem breiten Spektrum insgesamt eine grundsätzlich antikapitalistische Orientierung zu unterstellen. Richtig ist jedoch, dass diese Bewegungen – von Ausnahmen abgesehen – durch den kleinsten gemeinsamen Nenner einer irgendwie gearteten Kritik an den Auswüchsen des neoliberalen Kapitalismus zusammengehalten wurden.

Zwar herrschte dabei stets grosse Uneinigkeit darüber, ob die ausgemachten Probleme durch einzelne Korrekturen und Reformen gelöst werden könnten oder es einer Revolution bedürfe. Dennoch schienen die Gemeinsamkeiten immer wieder gross genug, um spektrenübergreifend gemeinsam auf die Strasse zu gehen. Wiederholt gelang es den Globalisierungskritiker*innen rund um den Globus, Millionen von Menschen zu mobilisieren. Mit einiger Berechtigung lässt sich die Behauptung aufstellen, die Globalisierungskritik sei, bei aller Schwammigkeit des Begriffs, die längste Zeit ein von „Linken“ dominiertes Politikfeld gewesen.

In einem Boot mit Trump und Petry?

Fragt man sich heute, was von dieser Bewegung noch übrig ist, fällt die Antwort zunächst einigermassen ernüchternd aus. Viele der ehemaligen linken Globalisierungskritiker*innen beschränken ihren Aktivismus mittlerweile darauf, ihren Chai Latte „fair trade“ zu trinken oder bei Urlaubsflügen mit einem umweltbewussten Klick ihren CO2-footprint auszugleichen. Andere haben die Leidenschaft ihrer wilden Jugendjahre erfolgreich zum Beruf gemacht und sich in Brüssel oder Berlin als Politikberater*innen im politischen Business etabliert. Sind die globalisierungskritischen Bewegungen also tot?

Ein einziger Blick in eine beliebige Tageszeitung scheint in letzter Zeit täglich das Gegenteil zu beweisen. Und nein, nicht wegen der Handvoll Demos und Aktionen gegen TTIP und CETA. Die Globalisierungskritik scheint mittlerweile mächtige Fürsprecher aus einem ganz anderen politischen Lager gefunden zu haben: Donald Trump, Frauke Petry und Konsorten, so scheint es, treten heute in die Fussstapfen der Aktivist*innen von damals. In Deutschland ist die AfD zunächst als „Anti-Euro-Partei“ gross geworden. Mittlerweile beherrscht das Thema Flucht und Migration – beides gewissermassen Nebeneffekte der Globalisierung – und die Forderung nach geschlossenen Grenzen den Diskurs des gesamten rechtspopulistischen Lagers.

In den USA verspricht Donald Trump, der durch die Globalisierung immer weiter vorangetriebenen „Entgrenzung der Welt“ (Leggewie) durch eine Grenzmauer zu Mexiko, Einreiseverbote und seinen „America-first“-Protektionismus Einhalt zu gebieten. Selbst die Doktrin des „freien Handels“ scheint unter dem neuen Präsidenten zu bröckeln, so kündigte Trump etwa kurz nach seiner Amtseinführung an, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA kippen zu wollen. Wird nun also Trump zum Erfüllungsgehilfen der globalisierungskritischen Zapatistas, die das Inkrafttreten des Abkommens im Januar 1994 zum Anlass ihres bewaffneten Aufstandes nahmen?

Die Kritik an der Globalisierung ist in dieser verkehrten Welt längst keine Domäne der Linken mehr. Ihre mächtigsten und populärsten Kritiker*innen kommen heute von rechts. Im Mittelpunkt des Problems stehen dabei immer die Nation und der Nationalstaat. Wer gehört dazu und wer nicht? Wer darf einreisen und wer muss draussen bleiben? Wer muss an der Grenze Zölle bezahlen und wer nicht? Wo darf Kapital investiert werden und wo nicht? Welcher Konzern bezahlt an welchem Standort seine Steuern? Und schliesslich die bange Frage: Gibt es im „global age“ überhaupt noch eine Überlebenschance für die alte Nation und den Nationalstaat?

Was ist Globalisierung und was gibt es daran zu kritisieren?

Dass wir heute in einer globalisierten Welt leben, ist längst ein Allgemeinplatz. Wir kaufen Kleidung, die in Kambodscha, Bangladesch oder Nepal hergestellt wurde. Die meisten unserer Nahrungsmittel überqueren einen Ozean, bevor sie vor uns auf dem Teller landen. Über das Internet teilen wir Tag und Nacht Unmengen an Informationen in Echtzeit mit dem Rest der Welt. Daten, Waren, Kapital und Menschen (zugegeben: abhängig von ihrem Pass) bewegen sich heute scheinbar völlig ungehindert von nationalen Grenzen und schneller als je zuvor um den Globus.

Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass es schon längst keinen Ausweg aus der globalen Schicksalsgemeinschaft der Menschheit mehr gibt. Weltweite Wirtschaftskrisen, der Klimawandel oder etwa die durch Armut und Kriege grösser werdenden Migrations- und Fluchtbewegungen erinnern uns täglich daran, dass globale Probleme unweigerlich auch globale Auswirkungen haben. Letztlich sitzen wir alle in einem Boot – auch wenn es auf dem Sonnendeck der Superreichen derzeit noch deutlich gemütlicher ist, als im düsteren Rumpf der Economy Class, in dem vielen der Reisenden das Wasser nicht erst seit gestern bis zum Hals steht.

Der realhistorische Prozess, den wir heute als Globalisierung bezeichnen, also die weltweite ökonomische und kulturelle Vernetzung der Erdteile mit der Tendenz zur Herausbildung eines „Weltsystems“ (Wallerstein), ist so alt wie die ersten Keimformen der kapitalistischen Warenzirkulation selbst. Schon mit der „Entdeckung“ Amerikas und des Seewegs nach Indien um 1500 wurde erstmals ein dauerhaftes weltumspannendes Handelsnetz etabliert. Durch die industrielle Revolution erhielt diese Tendenz im 19. Jahrhundert einen gewaltigen Schub und eine exponentielle Entwicklungsdynamik setzte ein. Marx und Engels schrieben 1848 im Kommunistischen Manifest:

«Die Bourgeoisie reisst durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle […] Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schiesst. […] Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen.» (Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 466)

Der heutige (Epochen-)Begriff der Globalisierung und damit die Kritik an derselben wurde allerdings erst in den 1990er Jahren wirklich populär, ist also wesentlich jünger als der Prozess, den er beschreibt. Dieser Begriff ersetzte für grosse Teile der Restlinken, die dem 1989/90 ausgerufenen „Ende der Geschichte“ (Fukujama) zu trotzen versuchten, den klassisch-leninistischen Antiimperialismus, der nun scheinbar zusammen mit dem real existierenden Sozialismus endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet war. Gemeint war mit der Kritik an der Globalisierung allerdings nie, dass das Rad der Geschichte hinter den Beginn der weltweiten Vernetzung der Menschheit zurückgedreht werden sollte. Niemand forderte ernsthaft, die Globalisierung rückgängig zu machen, etwa indem bestimmte Kommunikationstechnologien oder Transportmittel wieder abgeschafft würden.

Die Globalisierungskritiker*innen waren nicht gegen die Globalisierung, sondern gegen ihre negativen Auswirkungen unter kapitalistischen Vorzeichen. Globalisierung wurde gewissermassen zum Synonym für Neoliberalismus, also für eine Wirtschaftspolitik, die sich seit den 1980er Jahren weltweit durchzusetzen begann. Diese Politik stand vor allem für Deregulierung der globalen Arbeits-, Waren- und Finanzmärkte sowie für den radikalen Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften in den Industrieländern. Die Durchsetzung dieser neuen Weltordnung wurde massgeblich mithilfe der supranationalen Organisationen des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der G8-Staaten forciert. Jedes Land, das auf Kredite oder „Entwicklungshilfe“ angewiesen war, musste sich im Gegenzug auf die neoliberale Agenda verpflichten und den eigenen Staat entsprechend umbauen.

Tötet die Globalisierung den Nationalstaat?

Vor diesem Hintergrund wurden in den 1990er Jahren zahlreiche Stimmen laut, die vor dem vermeintlich bevorstehenden Ende des Nationalstaats warnten. Viele westliche Sozial- und Politikwissenschaftler*innen sahen den Nationalstaat als das erste zu beklagende „Opfer“ der Globalisierung. Diese, so die These, unterspüle seine Grenzen, bedrohe seine nationale Identität und beraube ihn gegenüber dem deregulierten Weltmarkt seiner wirtschaftlichen und sozialen Steuerungskompetenzen. Kurz: Der Nationalstaat verliere im global age seine Handlungsmacht und damit seine Souveränität. Diese gemeinsame Sorge um die Nation bot natürlich schon damals Anknüpfungspunkte für konservative und rechte Globalisierungskritiker*innen, wurde aber keineswegs nur in deren Lager vertreten.

Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie stark diese Positionen auch in die sich als irgendwie links definierenden globalisierungskritischen Bewegungen hineinwirkten, gibt das Gründungsmanifest von Attac. Dort heisst es:

«Die Globalisierung des Finanzkapitals […] umgeht und demütigt die Nationalstaaten als die massgeblichen Garanten von Demokratie und Allgemeinwohl. Zudem haben die Finanzmärkte sich längst einen eigenen Staat geschaffen, einen supranationalen Staat. […] Dieser Weltstaat ist ein Machtzentrum ohne Gesellschaft. An deren Stelle treten immer mehr die Finanzmärkte und Riesenkonzerne, die der Weltstaat repräsentiert. Die Folge ist, dass die real existierenden Gesellschaften keinerlei Macht mehr besitzen.» (Ignacio Ramonet, Le Monde Diplomatique, Dezember 1997)

Natürlich war der Nationalstaat in Wirklichkeit nicht einfach zum tragischen „Opfer“ der Globalisierung geworden. Vielmehr handelte es sich um einen Transformationsprozess, den die jeweiligen staatlichen Eliten der Industrieländer bewusst und gesteuert einleiteten. Im Zuge dieser Transformation wurden in der Tat einige Steuerungskompetenzen an supranationale Strukturen abgegeben, allerdings nicht, ohne in diesen repräsentiert zu sein. Die Nationalstaaten waren also selbst Akteure dieser Veränderung und lösten sich dabei keineswegs auf. Ihre repressiven und sozialdisziplinierenden Funktionen beispielsweise verschwanden nicht etwa, sondern wurden weiter ausgebaut.

Was im Rahmen dieser Transformation jedoch tatsächlich unter die Räder der transnationalen Kapitalakkumulation geriet, waren der keynesianische Interventionsstaat und seine sozialen Sicherungsnetze. Dieser Staatstyp war während des „goldenen Zeitalters des Kapitalismus“ (Hobsbawm) in den 1960er und 1970er Jahren entstanden. Vor dem Hintergrund des Nachkriegsbooms, der Vollbeschäftigung und der Systemkonkurrenz hatte sich im nationalstaatlichen Rahmen der Keynesianismus als wirtschaftlicher Regulationsmechanismus durchgesetzt. Die Kapitalseite war zu verhältnismässig grossen Zugeständnissen gezwungen, verfügte aber auch um die notwendigen Spielräume. Dies machte sich in steigenden Löhnen, einem höheren Konsumniveau und einem starken Ausbau sozialstaatlicher Strukturen bemerkbar. Wenn nur alle fleissig mitarbeiteten und sich die Gewerkschaften mit Streiks zurückhielten, so die Botschaft an die Arbeiter*innen, dann würden alle vom Wirtschaftswachstum profitieren und am Ende ihr Stück vom grossen Kuchen abbekommen. Das war der sozialdemokratisch-keynesianische Konsens, auf dem die Nationalstaatsideologie dieser Zeit beruhte.

Die marxistische Staatstheorie hat dagegen (anders als Attac) den bürgerlichen Nationalstaat nie unkritisch als den „Garanten von Demokratie und Allgemeinwohl“ gesehen, sondern als „ideellen Gesamtkapitalisten“. Ökonomisch besteht dessen Aufgabe darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse so einzurichten, dass die Kapitalakkumulation reibungslos und bei möglichst hohen Profitraten funktioniert. Die ökonomische Rolle des Staates ist dabei untrennbar mit seiner politischen Funktion verzahnt.

Folgt man Theoretikern wie Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas, so gehört es auch zu den Aufgaben des Staates, einerseits die Bourgeoisie und ihre Verbündeten in einem „herrschenden Block“ zu organisieren, und andererseits die „Subalternen“, also die grosse Masse der Leute, die nicht direkt vom Kapitalismus profitiert, ruhig zu halten und zu integrieren. Dies gelingt den Herrschenden durch ein Zusammenspiel von Repression, materiellen Zugeständnissen und Integrationsideologien. Die Bourgeoisie vermittelt ihr partikulares Klasseninteresse als scheinbares Allgemeininteresse. Dadurch können die Beherrschten dazu gebracht werden, der Herrschaft zuzustimmen. Diesen Zustand hat Gramsci als Hegemonie bezeichnet. Gelingt das nicht und beginnen Interessenkonflikte offen zutage zu treten, so haben die Herrschenden es mit einer Integrations- oder Hegemoniekrise zu tun.

Genau das, so eine mögliche These, ereignete sich im Zuge der neoliberalen Transformation des Nationalstaats. Indem der Staat nun nicht mehr mit einiger Glaubwürdigkeit als eine Instanz auftreten konnte, die ein vermeintliches nationales „Allgemeinwohl“ durchsetzt, verlor er massiv an Legitimität, seine Integrationskraft begann zu schwinden. Die Herrschenden begegneten diesem Problem natürlich mit neuen Integrationsideologien. Auf dem deregulierten Weltmarkt, so hiess es nun, habe sich die internationale Konkurrenz derart verschärft, dass vom zu verteilenden Kuchen bald nichts mehr übrigbleiben würde. Man müsse jetzt also den Gürtel enger schnallen – das heisst Löhne senken und Sozialleistungen abbauen – um in der globalen Konkurrenz bestehen zu können.

Die neue Aufgabe des neoliberalen Nationalstaates bestand nun darin, den eigenen Standort für das weltweite Fressen und gefressen werden „fit“ zu machen. Ab jetzt herrschte das TINA-Prinzip: „There is no alternative“ (Thatcher). Dass diese bittere Pille nicht überall ohne Murren geschluckt wurde, zeigte sich in der plötzlichen Zunahme der sozialen Protestbewegungen ab Ende der 1980er Jahre.

Wir sitzen alle in einem Boot aber rudern in entgegengesetzter Richtung

Kein Teil des breit gefächerten Spektrums der Globalisierungskritik kommt, ob bewusst oder unbewusst, an der Frage des Nationalstaats und seiner (Integrations-)Krise vorbei. Für rechte Globalisierungskritiker*innen besteht das Problem mit der Globalisierung vor allem darin, dass diese die ideologische Essenz der Nation bedroht, auf der der Legitimationsmythos des Nationalstaats beruht. Das imaginäre Kollektiv eines angeblich homogenen Volkes wird durch Migration und Vermischung zersetzt, es zerfliesst förmlich durch die offenen Grenzen des Weltmarkts. Es droht also die halluzinierte „Islamisierung des Abendlandes“ oder schlimmeres.

Dem Nationalstaat wird von rechten Globalisierungskritiker*innen vorgeworfen, sich nicht um die eigene Bevölkerung zuerst zu kümmern („America first!“). Die Kapitalist*innen sollen gefälligst die „eigene“ Arbeiterklasse im eigenen Land ausbeuten und nicht dorthin abwandern, wo sich dank niedriger Löhne die grössten Profite machen lassen. Menschen aus anderen Ländern sollen bleiben, wo sie angeblich „hingehören“ – tun sie das nicht, soll der Staat sie mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln an der Einreise hindern. Auch diese Position ist letztlich eine Langzeitwirkung der Krise des Keynesianismus, der die Wirtschaft im Rahmen seiner nationalen Grenzen zu steuern versuchte und seinem Staatsvolk Beteiligung am Wohlstand und stetige Verbesserung des Lebensstandards versprochen hatte. Viele der heutigen AfD-Wähler*innen sind enttäuschte Anhänger dieser sozialdemokratischen Vision eines stabilen und krisenfreien Kapitalismus ohne Klassenwiderspruch.

Die rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen haben das durch das offensichtliche Scheitern dieser Vision entstandene Integrationsvakuum in den letzten Jahren mit grossem Erfolg genutzt. Seither sammeln sie weite Teile der Enttäuschten und sich abgehängt fühlenden unter dem Banner einer reaktionären Globalisierungskritik und eines chauvinistischen Nationalismus. Dabei geriert sich der Rechtspopulismus als vermeintliche Anti-Establishment-Bewegung, gleichzeitig kämpfen deren Führungsspitzen jedoch mit der Unterstützung einzelner Kapitalfraktionen längst um die Hegemonie im herrschenden Block und damit die Reintegration ihrer Anhängerschaft in die herrschende Ordnung. Ob sich auf dem erreichten Niveau der Transnationalisierung des Kapitalismus allerdings irgendwo auf der Welt tatsächlich ein protektionistisches Wirtschaftsprogramm hegemonial durchsetzen wird, bleibt bislang äusserst fraglich. Das ideologische Trommelfeuer verfängt jedoch unabhängig davon.

Reformistische linke Globalisierungskritiker*innen hetzen im Gegensatz zu den Rechten zwar nicht gegen Migrant*innen und Geflüchtete, aber auch sie wünschen sich meistens in irgendeiner Form Elemente des alten keynesianischen Nationalstaats zurück. Sie wollen letztlich den in die Krise geratenen hegemonialen Nachkriegskonsens wiederherstellen und altbewährte Rezepte neu aufwärmen. Der Nationalstaat, oder wahlweise auch ein supranationaler Steuerungsmechanismus, soll den Kapitalismus endlich wieder „zähmen“ und im „Allgemeininteresse“ regulieren, etwa indem er weltweit Finanztransaktionen besteuert und damit Geld für soziale Investitionen in seine Kassen spült. Dass es sich dabei im heutigen Entwicklungsstadium des Kapitalismus um reines Wunschdenken handelt, liegt auf der Hand.

Ein Zurück zu den Lohnsteigerungen und sozialstaatlichen Investitionen des Nachkriegs-Booms kann es schon allein deshalb nicht geben, weil diese nur in der damaligen Ausnahmesituation der hohen Profit- und Wachstumsraten, der Vollbeschäftigung und der Systemkonkurrenz denkbar waren. In der heutigen Situation sind aber Dauerkrise, langfristige strukturelle Arbeitslosigkeit und eine extrem geschwächte Arbeiter*innenbewegung die Norm in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Ein supranationaler Keynesianismus, wie er etwa Attac vorschwebt, ist nicht nur deshalb utopisch, weil die Herrschenden augenscheinlich keinerlei Interesse an einem solchen Projekt haben, sondern auch, weil er eine supranationale Staatlichkeit voraussetzt. Das in diesem Sinne am weitesten fortgeschrittene Projekt, in das manche vermeintliche Linke einst kühne Hoffnungen gesetzt hatten oder dies sogar immer noch tun, die EU, beginnt sich gerade vor unseren Augen zu zerlegen.

Aus der Perspektive einer marxistischen Kritik an den (global-)gesellschaftlichen Verhältnissen muss also klar sein, dass es keinen Weg zurück in das vermeintliche Idyll des „goldenen Zeitalters“ des nationalstaatlich organisierten Keynesianismus geben kann. Die „Rettung des Nationalstaats“, wie rechte Globalisierungsgegner*innen sie sich vorstellen, führt unweigerlich in die finsterste Reaktion. Die Globalisierung kann nicht aufgehalten oder rückgängig gemacht werden. Aber unter kapitalistischen Verhältnissen gehört die überwältigende Mehrheit der Menschheit unweigerlich zu den Verlierern dieses Prozesses. Dieser Widerspruch lässt sich innerhalb der Systemgrenzen nicht auflösen. Erst in einer Welt jenseits der Kapitallogik könnten das Potenzial der modernen Kommunikationstechnologien und einer weltweit vernetzten Produktion im vollen Umfang zum Wohle der ganzen Menschheit eingesetzt werden.

Lukas J. Hezel / kritisch-lesen.de

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