Macht lässt assoziieren: Vermögen, Herrschaft, Gewalt, Kraft, Stärke.2 Der auch (fach)wissenschaftlich vernachlässigte Gegenbegriff (oder das Antonym) von Macht3 ist Ohmacht. Etymologisch, von der geschichtlichen Wortbedeutung her, wird das Substantiv oder Hauptwort umschrieben als Bewusstlosigkeit, Schwäche, Machtlosigkeit. Entsprechend bedeutet das Eigenschaftswort oder Adjektiv ohne Bewusstsein, kraft- und machtlos, nicht handlungsfähig4. Damit geht es auch um jeweils fehlendes Bewusstsein und blockierte Handlungsfähigkeit.
Bewusstsein im Marxismus
Walter Benjamin forderte zu Beginn der 1930er Jahre eine marxistische Theorie von der »Entstehung des falschen Bewusstseins« - auch um der massenwirksamen Faszination des sich nationalsozialistisch nennenden deutschen Faschismus und seiner »Ästhetisierung des Politischen« (1936)5 wirksam begegnen zu können. Ernst Bloch, der deutsche »Philosoph der Oktoberrevolution« (Oskar Negt) und Vordenker des Nicht-Mehr-Seins im faktischen Realen und des Noch-Nicht-Seins im real Möglichen, der den »alten Menschheitstraum« von Freien und Gleichen als Geist der Utopie »philosophisch subtilisiert[e] zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft, einer visionären Utopie«6, nannte bereits 1924 den seit Anfang 1933 zwölf lange Jahre lang amtierenden letzten deutschen Reichskanzler »den schiefen Statthalter der Revolution.«7In seinem zweiten Schweizer Exil veröffentlichte Bloch seine theoretische Leitstudie zu Auffälligkeiten der damaligen deutsch-bürgerlichen Gegenwartsgesellschaft (vor allem Ungleichzeitigkeiten)8 und kommentierte auf dieser Grundlage auch selbstkritisch (1936):
»Die Linke hat das wahre Bewusstsein, aber auch dass es ein falsches, sich sperrendes Bewusstsein gibt, ist wahr. […] Daher schlugen die Erkenntnisse der fortgeschrittensten Klasse in all ihrer Wahrheit hier nicht ein. […] Daher konnte unter den Betrogenen […] die Lüge derart wahr wirken, die Wahrheit blieb derart ungesehen. Daher reüssierten die (höchst gleichzeitigen) Betrüger, hatten die ungeheuerliche Zahl der Betrogenen und Betrügbaren zur Verfügung, die nationalsozialistische Massenbasis aus ungleichzeitigem Widerspruch.«9
Politisch zugespitzt formulierte Bloch (1937): »Die Nazis haben betrügend gesprochen, aber zu Menschen, die Sozialisten völlig wahr, aber von Sachen; es gilt nun, zu Menschen völlig wahr von ihren Sachen zu sprechen.«10
Nach erneutem Weltkrieg, Nachkrieg, Wiederaufbau, Rekonstruktionsperiode und ihrem Ende wurden im neuen deutschen Wohlfahrtsstaat Hinweise Benjamins wieder aufgenommen: Reinhard Opitz skizziere Mitte der 1970er Jahre seine These der Bewusstseinsfalsifikation.11 Daran anschliessend, kennzeichnete Richard Albrecht Ende der ganzdeutschen Nullerjahre die dort empirisch vollständig herausgebildete wirkmächtige »Verdummungsindustrie« mit ihren »Verblendungs-, Verkehrungs- und Umwertungsmechanismen zur strategischen Verstärkung der durch den Warenfetisch jeder kapitalistischen Gesellschaft immer schon gegebenen spontanen Mystifikation als ›gesellschaftliche Gefolgschaft.‹«12
Inzwischen prangern auch andere deutschsprachige Autoren die »Fabrikation von Stupidität«13 und die »massenmedial gesteuerte Volksverblödung« als Merkmal der gegenwärtigen deutschen Gegenwartsgesellschaft an14.
Ohnmachtserfahrungen und Handlungsblockaden
Auch wenn es nicht so sein muss wie ein zeitweilig bekannter deutscher Autor behauptete: »Unbezähmbar ist der Drang, bei den Stärkeren zu sein«15 – auch Ohnmachtserfahrungen16 wollen ebenso bedacht werden wie historisch-kulturelle Umstände, gesellschaftlich-politische Verhältnisse und different-zukünftige Perspektiven17. Auch diese sind – wie bekannt – immer konkret18. Und auch auf sie trifft zu, dass erstens »menschliche Handlungen« in den »Lebensbedingungen ›begründet‹« sind19, dass zweitens in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren ungleichen und konkurrenzbestimmten Lebensbedingungen selbstbewusst-interessengeleitetes Handeln grundsätzlich erschwert und tendenziell verunmöglicht wird20, dass drittens entsprechend des Zwangscharakters auch (in) dieser Gesellschaft21 Konformität(snormen) von sozialen Gruppen und einzelnen22 erzwungen werden können, dass das Individuum sich daran halten muss, wenn es »handlungsfähig sein will«23 und dass es viertens auch gesellschaftliche Lagen und soziale Situationen gibt, in denen die gedankliche Vorwegnahme (»Antizipation«) künftiger Entwicklungen und (etwa widerständiger) Handlungen negativ handlungsbestimmend, handlungsvermeidend und speziell als Handlungsblockaden wirken, weil gegebene »stabile Strukturen Handlungsalternativen nicht zulassen.«24Damit sind einige weitergehende, auch mit Angst25 im allgemeinen und mit Identitätsverlust26 im besonderen zusammenhängende subjektwissenschaftliche Facetten, Gesichtspunkte und Felder angesprochen. Sie könnten, theoretisch, auch Engagierte jeder sozialen Bewegung interessieren.
Im Rückbezug auf Übergreifend-Allgemeines kann als gesichertes sozialwissenschaftliches Wissen gelten: immer dann, wenn es nicht um »lebende Menschen in ihrer ganzen Subjektivität« (Paul Feyerabend), sondern um die »Vertreibung der Seele«27 geht und immer dann, wenn »lebendige Menschen« (Franz Kafka) durch Justiz und Staatsbürokratie in »tote Registraturnummern«28 verwandelt werden – immer dann wirkt ›falsches‹ Bewusstsein als besondere Form gedanklicher Verkehrung und als Ausdruck der Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse. Dem entsprechen Fiktionen, aus denen sich utopische Entwürfe29 ergeben können, als »bewusst widerspruchsvolle oder falsche Annahmen. Sie werden zu dem Zweck aufgestellt, um schwierige oder unlösbar scheinende Probleme oder Situationen zu bewältigen.«30