Dies ist umso dramatischer, als mit Klimakollaps, Faschismus und Krieg die Katastrophe im wahrsten Sinne dieses Wortes vor uns steht. Eine gesellschaftliche Gegenkraft ist nicht in Aussicht. Eine solche kann, aufgrund der radikalen Zuspitzung unserer Situation, nur mehr in einer revolutionären Politik bestehen. Doch eben diese kann mit den politischen Grundlagen der Linken nicht mehr formuliert werden, die darum in der gegenwärtigen Situation zu keiner effektiven Praxis mehr in der Lage ist und sich in einer unauflösbaren Krise befindet. Diese historische Zäsur erfordert einen politischen Neuanfang, und dafür zunächst den Bruch mit der Linken, und in der Folge die Neugründung eines Milieus revolutionärer Intellektueller. Erste, noch unkoordinierte Entwicklungen in diese neue Richtung vollziehen sich bereits.
Eine historische Bewegung
„Die Linke“: dies gilt heute als durch und durch positive Kategorie von fast universaler Reichweite. Es versteht sich von selbst, dass, wer sich als progressiv, widerständig, emanzipatorisch positioniert, sich als links identifiziert. Andererseits versteht es sich sogar in gewisser Weise von selbst, links zu sein: Linkssein ist gleichsam „die“ politische Identität. Die Linke erscheint heute als das übergreifende Kollektiv aller progressiven Kräfte, und drückt, so differenziert und zerstritten sie auch sein mögen, deren gemeinsamen Kern aus: die emanzipatorische Identität. Dies scheint ganz selbstverständlich so zu sein, immer schon so gewesen zu sein.Tatsächlich handelt es sich bei der Linken nicht um progressive Identität überhaupt, sondern um eine historisch spezifische Politik- und Organisationsform, die sich erst ab Anfang der 1990er Jahre herausgebildet hat. Erst damals wurde – wie Walter G. Neumann beobachtete – das Linkssein zur allgemeinverständlichen Vokabel politischer Identität. Der Begriff der Linken wurde schliesslich so selbstverständlich, dass ihn die Partei „DIE LINKE“ in den 2000er Jahren für sich beanspruchen konnte.
Auch die radikale Linke ist widersprüchlicher Teil dieser historischen Formation: Zwar würde sie sich darin von der Linken abgrenzen, dass sie die Systemfrage stellt und auch extralegale Mittel anwendet. Andererseits versteht sie sich doch als Teil der übergreifenden Linken und agiert in ihr und auf sie einwirkend, um ihrer Radikalität gegenüber der Gesellschaft oder auch nur der Linken Geltung zu verschaffen. Das Wort „links“ an sich hat zwar eine lange Geschichte. Früher wurde es aber hauptsächlich für die parlamentarische Positionierung verwendet, daran orientiert dann auch für links-/rechts-Unterscheidungen innerhalb von politischen Strömungen: zum Beispiel die Hegelsche Linke, Zimmerwalder Linke, der linke Radikalismus, Linksabweichler, Linkskommunismus. Der Begriff einer Linken sui generis als real handelndes Kollektiv und Kern politischer Identität ist demgegenüber, obwohl er so überhistorisch wirkt, neu. Das übergreifende Kollektiv der emanzipatorischen Bewegung wurde früher nicht „die Linke“ genannt, sondern etwa Arbeiterbewegung, Internationale, Antifaschismus, sowie als Teil-Kollektive Kommunismus, Anarchismus, Sozialismus, Frauenbewegung, Antiimperialismus und dergleichen.
Was es früher jedoch durchaus gab, waren Versuche, eine Linke sui generis zu gründen, eben wegen der teils extremen Gegensätze „in der Linken“ (die es damals eben nicht so wie heute gab) und angesichts gemeinsamer Feinde. Beispielsweise versuchte in Deutschland die 1931 gegründete zentristische Sozialistische Arbeiterpartei (SAPD, ein prominentes Mitglied war Willy Brandt), die Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden, blieb aber gegenüber den verfeindeten SPD und KPD relativ bedeutungslos.
1969 brachte die von Oskar Negt herausgegebene Publikation Die Linke antwortet Jürgen Habermas eine Reihe linker Stimmen zusammen, die sich gemeinsam den Attacken von Habermas gegen die westdeutsche Studierendenbewegung entgegenstellten. Auch in seiner Rede auf dem grossen Solidaritätskongress für Angela Davis im Jahr 1972 entwarf Negt die Strategie einer verschiedene Strömungen und gesellschaftliche Gruppen übergreifenden Linken.
Insbesondere sollte diese Linke die Neue Linke – die 68er – und die „alte“ Linke – die Arbeiterbewegung – verbinden. Zu dieser gehörte etwa Wolfgang Abendroth, der auch in Negts Sammelband geschrieben und auf dem Angela-Davis-Kongress gesprochen hatte, und Negt Strategie teilte. Allerdings schlossen Negt und Abendroth damals die RAF und ihre Solidaritätsbewegung kategorisch aus der Linken aus. Die RAFler seien einfach nur unpolitische Kriminelle. Die von Negt und anderen damals verfolgte Gründung einer Linken ist nicht zuletzt wegen dieses Ausschlusses von Linken aus der Linken gescheitert.
Mit der Neuen Linken bezeichnete sich erstmals eine kollektive politische Strömung als Linke. Sie war jedoch, im Gegensatz zu Negts Projekt, noch keine Linke sui generis. „Neu“ meinte hier immer noch etwas Konkretes: die Überwindung des Ökonomismus der Arbeiterbewegung, antiautoritäre Emanzipationsprinzipien, die Befreiung der Bedürfnisse und die Einbeziehung des Antikolonialismus und später auch des Feminismus.
Mit diesen neuen Prinzipien eröffnete 1968 ein politisches Feld, in dem sich alle seitherigen Bewegungen – seien es die K-Gruppen, die Ökologiebewegung, die Autonomen, die Wertkritik – verortet haben. Dennoch haben sie den Begriff der Linken nicht benutzt, um sich in ein übergreifendes, als real unterstelltes Kollektiv der Linken zu einzubeziehen. Die Grünen haben den Begriff der Linken in ihrer Anfangszeit sogar explizit für sich abgelehnt, wie an dem Buchtitel Die Grünen. Nicht links nicht rechts sondern vorne (1985) von Fritjof Capra und Charlene Spretnak deutlich wird.
Kritik der Linken
1990 änderte sich die Situation sehr grundlegend, so dass es in der Folge möglich war, eine Linke sui generis aufzubauen, der sich auch die Alte Linke anschliessen konnte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte zu einem endgültigen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Linken und liess sie den Druck des Antikommunismus mit voller Schärfe spüren, also den Druck, sich von Kommunismus und Revolution zu distanzieren. Die übergreifende politische Identität der Neuen Linken, wie sie trotz aller Zerwürfnisse in den 1980er Jahren noch gegeben war, ging zunächst verloren. Es wurde jedoch bald notwendig, angesichts dieser Marginalisierung und einer neuen Qualität rechtsradikaler Mobilisierung („Baseballschlägerjahre“), alte Differenzen beiseitezulegen und ein neues, übergreifendes Kollektiv zu begründen. Man machte aus der Not der fehlenden übergreifenden Identität eine Tugend, und bezeichnete sich als Linke – und distanzierte sich damit zugleich von Kommunismus bzw. Stalinismus. Schlusspunkt und Zementierung dieser Entwicklung markierte das Umfallen der Grünen in der rot-grünen Koalition 1998.Diese historischen Ursachen der Linken zeigen aber auch schon ihre Probleme an. Anders als frühere politische Identitäten und Kollektive wie Arbeiterbewegung oder die Neue Linke ist der Begriff der Linken ganz abstrakt: Er enthält keinerlei Bezug mehr auf eine soziale Situation oder Strategie, sondern bezieht sich allein auf die Orientierung in der bürgerlichen repräsentativen Demokratie. Links zu sein heisst im Grunde nur, für die Verwirklichung der bürgerlichen Ideale zu kämpfen, also für Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Wofür die Linke wirklich eintritt, bleibt unbestimmt, und darum kann sie auch nur moralisch an politische Probleme herangehen, sie anhand ihrer Ideale bewerten und ihnen Utopien – „wie es eigentlich sein sollte“ – gegenüberstellen.
Auch das Kollektiv der Linken ist als real immer nur unterstellt, oder real nur in der Anrufung, links zu sein. Für diese Anrufung muss sie ihre abstrakten Ideale zu einem „wahren“ Links konkretisieren, was jedes Mal dazu führt, ein „falsches“ Links auszuschliessen. Diese „falschen“ Linken verstehen sich dabei selbst durchaus als links: Antiautoritäre Linke schliessen beispielsweise Grüne und Leninist*innen aus, Grüne dagegen Linke, die die Systemfrage stellen und für sie gewaltbereite, verfassungsfeindliche Linksextreme sind. Andererseits verstehen sich auch Stalinistinnen und Maoistinnen als links, obwohl ihnen das sonst vielleicht nur noch von Leninistinnen zugestanden wird. Solche Spaltungen gibt es zwar schon seit langer Zeit, sie entzünden sich heute aber meist an den Definitionen des Linksseins, was den „Spaltpilz“ nochmal verschärft hat. Paradoxerweise, denn die Abstraktheit der Linken sollte ja gerade verbinden, doch konnte sie dies von Anfang an nur durch Ausschlüsse realisieren.
Trotz dieser Probleme stellte die Linke dabei durchaus eine gewisse Gegenkraft zur herrschenden Politik dar, nicht zuletzt durch die Impulse der Antiglobalisierungsbewegung, den Mobilisierungen gegen die Agenda 2010 und die Proteste nach der Weltwirtschaftskrise von 2008, mit diversen Erfolgen wie den Zapatistas, dem sozialen Brasilien unter Lula oder dem Sturz Mubaraks. Sie konnte dies, weil sie programmatisch auf breite Bündnisse setzte und eine grosse Kompromissbereitschaft zeigte. Dies ermöglichte es ihr, sowohl innerhalb bürgerlicher Institutionen wie Universitäten, Gewerkschaften und Kulturinstitutionen erfolgreich zu agieren, als auch eigene bürgerliche Institutionen, nicht zuletzt die Linkspartei aufzubauen. Der Preis dafür war zwar eine gehörige Entradikalisierung, also eine Distanz von einem offensiven Antikapitalismus, dennoch gelang es ihr damit, einen Gegenpol zum Neoliberalismus sowie auch zum Kapitalismus insgesamt aufzurichten, indem in der Linken die reale Möglichkeit einer ganz anderen Welt (Altermondialismus) lebendig gehalten wurde.
Abschliessung der Linken gegen die Revolution
Diese Strategie gelangte jedoch Anfang der 2010er Jahre mit den Niederlagen der globalen Aufstände und Krisenproteste an ihr Ende und hat sich seither ins Gegenteil verkehrt. Im Verlauf der 2010er Jahre wurde die deutsche Linke gewissermassen ein Kopf ohne Körper, da ihr die Bewegungsbasis abhanden ging und sie auf die bürgerlichen Institutionen reduziert wurde. Sie ist heute im Grunde lediglich noch ein Konglomerat von linken Institutionen bzw. linken Teilen von Staatsapparaten, und besteht im Wesentlichen aus Intellektuellen, die durch ihr Linkssein Geld verdienen.Nicht selten konnten diese auch ihren Aktivismus in den Bewegungen in bürgerliche Karrieren überführen. Dieses institutionelle Konglomerat umfasst linke NGOs, Sozialarbeiter*innen, linke Stiftungen, Professuren an den Universitäten, linke Gewerkschaftsfraktionen, Behinderteninklusion, Linkspartei, Kulturinstitutionen, Influencer*innen, Journalist*innen. Darüber hinaus arbeitet eine grosse Zahl weiterer Intellektueller darauf hin, in diesen Bereichen ein komfortables und unbefristetes, also nicht nur prekäres Einkommen zu erzielen. Es geht um bürgerliche Sicherheit. Diese institutionelle Linke reproduziert sich nicht in erster Linie politisch, sondern durch die Karriereinteressen linker Intellektueller.
Mit der Repräsentation linker Opposition in bürgerlichen Institutionen, also auch der Kanalisierung von Kritik und Protest in bürgerliche Bahnen produziert dieses institutionelle Konglomerat sehr nützliche Effekte für den derzeitigen Kapitalismus. Die Einstiegsvoraussetzung ist darum auch die Unterwerfung unter den Antikommunismus, das heisst, dass die Systemfrage nicht gestellt wird. Stattdessen wird das sogenannte realpolitische Argument bemüht, nämlich dass es „real“ vielfältige Möglichkeiten für progressive Politik gibt, die sich immer wieder eröffnen und in denen man konkret viel Gutes tun kann. Von Utopien und einer anderen Gesellschaft zu sprechen, ist hier kein Widerspruch, weil die Utopie nur versprochen, von der anderen Gesellschaft nur erzählt werden muss, ohne dass es damit Ernst sein muss. Solange es keine revolutionäre Bewegung gibt, ist es eben ein schöner, aber auch ungefährlicher Traum. Ernst mit der Revolution würde dann gemacht werden, wenn die Systemfrage nicht abstrakt, sondern konkret gestellt wird, d.h. für aktuelle Probleme ausbuchstabiert wird. Das würde nicht zuletzt bedeuten, die Herrschaftsfunktionen der eigenen Institution und die eigene Rolle im System öffentlich zu benennen.
Dass konkrete antikapitalistische Minimalforderungen mehrheitsfähig sind, zeigt die Verstaatlichung von Immobilienkonzernen, für die 2021 die Mehrheit der Berliner*innen im Volksentscheid gestimmt hatten. Die Berliner Linkspartei, die die breite Zustimmung für den Volksentscheid im Wahlkampf für sich benutzt hatte, nahm nach der Wahl die Verstaatlichungsforderung zurück, um 2022 eine erneute rot-rot-grüne Koalition eingehen zu können. Auch wenn die Linkspartei sich im Parteiprogramm zum Sozialismus bekennt, bleibt dieser eine Phrase. Sie bedeutet im Konkreten nichts.
Während es in den linken Institutionen früher, auch noch in den 0er Jahren, noch recht erheblichen Raum für solche radikale Kritik gab, schliessen sie sich zuletzt zunehmend dagegen ab. Dies liegt an der fortschreitenden Marginalisierung der Linken und der Bedrohung der gesellschaftlichen Anerkennung der linken Intellektuellen, die deren Einkommens- und Karrieremöglichkeiten gefährdet. Die Linke reagiert darauf durch Abschliessung gegen die Bemühungen, die Systemfrage in Theorie und Praxis zu konkretisieren. Argumentiert wird dabei unterschiedlich: die Linke stelle bereits die Systemfrage, da sie für den Sozialismus eintrete und zuletzt vermehrt an neuen utopischen Erzählungen gearbeitet habe; die Interventionen für eine systemkritische Wendung der Linken seien zu vage und müssten erst ausgearbeitet werden, um ernsthaft diskutiert zu werden; oder sie werden unmittelbar mit dem Neoleninismus in eins geworfen und als „autoritär“ ausgegrenzt. Innerhalb der Linkspartei wurden diese schon länger vorhandenen Abschliessungstendenzen durch die in grossem Konsens erfolgte Wahl der neuen Vorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken im Oktober 2024 zementiert. Die Partei hat sich damit für eine qualitativ neue Ausrichtung entschieden: eine Synthese des sozialpolitischen und des minderheiten- und umweltpolitischen Lagers, deren Streit die Partei in den letzten Jahren nahezu zerrissen hatte. Diese Synthese gelang, indem der utopistisch-moralische Stil des letzteren Lagers („wir sind die Progressiven und Guten, hört endlich auf uns“) mit den sozialpolitischen Inhalten des anderen verbunden wurde. Der alte Widerspruch, der die Partei zu zerreissen drohte, ist damit auf durchaus raffinierte Weise in einen Modus gebracht worden, in dem der Streit befriedet ist: in einen Sozialpopulismus, der den sozialen Inhalt in moralischer Form artikuliert.
Die beiden neuen Vorsitzenden traten in den Reden zu ihrer Wahl genau damit auf: Van Aken erklärte, dass die Reichen reich seien, weil sie den Armen das Geld weggenommen hätten – was schlicht falsch ist. Schwerdtner erklärte, dass die Linkspartei jetzt Klassenkampf mache – aber eine parlamentarische Partei kann keinen Klassenkampf machen. Beides klingt gut und radikal, hat aber mit Systemkritik nichts zu tun. Gerade um die Forderung nach Verstaatlichung von Wohnimmobilien hat die Linkspartei in Wahlprogramm und -kampagne für die jüngste Bundestagswahl einen Bogen gemacht, obwohl sie die Mietensituation zu ihrem zentralen Wahlkampfthema gemacht hatte. Jan van Aken hat sie nur einmal gegen Ende des Wahlkampfes kurz aufgeworfen, dann verschwand sie wieder.
Nach dem enormen Wahlerfolg der Linkspartei und 50.000 Neumitgliedern sehen viele Linksradikale in ihr nun eine neue sozialistische Klassenpartei mit antikapitalistischem Potenzial entstehen. Diesen Zuspruch hat die Partei aber nicht aufgrund einer antikapitalistischen Perspektive, sondern weil sie sich zu Themen wie Grundeigentum und Krieg nicht positioniert hat, von einer grundsätzlichen Kritik des neoliberalen Kapitalismus abgesehen und sich stattdessen mit wenigen und konkreten reformistischen Forderungen begnügt hat. Erst dieser Revisionismus hat den Zustrom derer, die mit dem Rechtsruck von SPD und Grünen unzufrieden waren, ermöglicht. Nach der Wahl ist die Partei diesem Revisionismus treu geblieben und hat sich bei weiterhin radikaler Rhetorik als respektable Oppositionspartei verhalten.
Die Zustimmung der regierenden Linksparteien in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern zur imperialistischen Wiederaufrüstung Deutschlands stellt daher keinen Bruch dar, sondern zeigt lediglich die Sozialdemokratisierung der Linkspartei in aller Deutlichkeit. Der neuen Linkspartei geht es um begrenzte materielle Interessen im Hier und Jetzt. Sie ist damit vollends Teil des Systems geworden, gerade in ihrer Inszenierung von Radikalität.
Bruch mit der Linken
Auf dem Boden des Kapitalismus wird die Klimakatastrophe nicht abgewendet werden können, und der gemeinsame Kampf mit den demokratischen Kräften gegen die Faschisierungstendenzen verteidigt nur die Krise, die dieselben hervorbringen. Um angesichts dieser auf uns zurollenden Katastrophe agieren zu können, ist eine offensive revolutionäre Praxis nötig. Zu eben dieser ist die Linke aber nicht mehr in der Lage. Mit ihrer strukturell bedingten Abschliessung gegen eine revolutionäre Erneuerung kommt damit der 1968 begonnene Bewegungszyklus zu seinem Ende. Der damalige Aufbruch, der so immense Energien freigesetzt hatte, dass wir bis zuletzt davon gezehrt haben, ist heute erschöpft: Seine Energien wurden vom System teils angeeignet, teils zerschlagen, teils haben sie sich selbst zerstört. Der Zyklus ist zu Ende gegangen, ähnlich wie der vorige der Arbeiterbewegung, der zwischen Sozialdemokratie, Faschismus und Stalinismus zermalmt wurde.
Heute stellt sich die Aufgabe einer Neugründung der revolutionären Bewegung. Dafür muss der Bruch mit der Linken vollzogen werden. Erste, noch unkoordinierte Schritte in diese Richtung entwickeln sich in einem derzeit neu entstehenden radikalen Milieu politischer Intellektueller, das beispielsweise in der Ausstellung „Illiberal Arts“ im Haus der Kulturen der Welt (HKW) aus dem Jahr 2021 oder auf dem NON-Kongress vom Juni 2024 (beides in Berlin) in Erscheinung getreten ist. Dieses Milieu ist noch kein organisierter Zusammenhang, sondern eine gesellschaftlich-kulturelle Strömung, es sind viele Einzelne, die unabhängig voneinander in eine gemeinsame Richtung gehen.
Ihnen ist gemein, dass sie ein neues revolutionäres Subjekt in jener absoluten Subalterne erkennen, die sich in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren als eine qualitativ neue Klasse auf globaler Stufenleiter entwickelt hat, und die sie mit Begriffen wie Surplus-Proletariat, Non-Bewegungen oder Identitätslose zu fassen versuchen. Sie hat nichts mehr mit der gut integrierten, verbürgerlichten Arbeiterklasse der letzten Jahrzehnte zu tun; eher kehrt in ihr das Proletariat des 19. Jahrhunderts wieder, wie es von Marx beschrieben wurde. Heute wären dies etwa die saisonalen migrantischen Landarbeiter*innen; Menschen aus der kapitalistischen Peripherie, deren Lebengrundlagen von der Klimakatastrophe zerstört werden; Queers, die jede geschlechtliche Kategorie sprengen; oder all diejenigen, die durch KI ihrer Verdienstmöglichkeit enteignet wurden oder deren Arbeit radikal degradiert wurde.
Es sind absolute Randgruppen, die, wiewohl vom System produziert, nirgends eine Zugehörigkeit zu ihm beanspruchen können. Darin unterscheiden sie sich von den Klassen der letzten Jahrzehnte, etwa von der Industriearbeiterklasse, den Bauern und Landarbeiter*innen, der Dienstleistungs- und kreative Klasse, selbst vom Prekariat. Einiges spricht dafür, dass diese neue Klasse, die nichts zu verlieren hat als ihre Ketten, sich künftig als zentrale Dimension der globalen Herrschaftstotalität geltend machen wird.
In diesem Milieu haben sich zwei divergierende Richtungen herausgebildet:
1. Die eine Richtung ist eine im weitesten Sinne an den Marxismus anschliessende Theoriearbeit, die auf eine Konstruktion des gegenwärtigen Systems in seiner Totalität hinarbeitet. Dazu gehört wesentlich die Auseinandersetzung mit Antonio Negri und Empire, dem letzten grossen (post-)marxistischen Entwurf, der um 2000 versuchte, das System des globalen Imperialismus in seiner Gesamtverfassung darzustellen, und der auf breiteste Resonanz in der damaligen Bewegung stiess. Ausgehend davon wird diskutiert, wie und an welchen Stellen sich das System bis heute verändert hat und wo Negris strategische Schlussfolgerungen, die ja gescheitert sind, von heute aus zu kritisieren ist. Ein weiteres Feld bilden die Arbeiten um die Wiederaufnahme der praktisch-revolutionären Rezeptionslinie der Kritischen Theorie, die insbesondere mit dem Namen Hans-Jürgen Krahl verbunden ist und die nach 1968 europaweit äusserst einflussreich wurde, aber spätestens um 1980 abgebrochen sind. Ebenfalls gehören die Analysen um die Neuformierung des Kapitalismus im Angesicht der Klimakatastrophe hinzu. Denn zur Zeit ist eine neue Struktur des Kapitalismus, zwischen ökologischem und fossilem Kapitalismus, autoritärem Neoliberalismus und Faschisierungstendenzen in Entwicklung begriffen (Stichwort „Zeitenwende“), auch wenn deren konkrete Gestalt noch nicht absehbar ist. Ein Beispiel für diese Analysen ist die Publikation „Zeit der Ökologie – das neue Akkumulationsregime“ des Autor*innenkollektivs aus der brennenden hütte.
2. Die andere Richtung dieses Milieus ist kulturrevolutionär sowie literarisch-künstlerisch ausgerichtet und schliesst daher weniger an die objektive marxistische Tradition als an kulturrevolutionäre, etwa surrealistische Experimente an. Am deutlichsten wird sie derzeit wohl in der militanten Queer-Bewegung (Paul Preciado), die sich auch den neuen queeren Identitäts- und Verwandtschaftsangeboten verweigert, und einer neuen negativistischen Kunst (Virginie Despentes). Sie versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, was radikale Befreiung unter den gegenwärtigen Bedingungen und zukünftig heissen kann. Ihr Einsatzpunkt ist eine grundsätzliche Kompromisslosigkeit gegenüber dem Bestehenden. Das Einverständnis mit diesem macht seine Gewalt erträglicher – für den eigenen Körper, aber auch in Karriereperspektiven –, verlangt dafür aber eine freiwillige Unterwerfung. Diese „grosse Verweigerung“ (Marcuse) hat jedoch ihren Preis. Sie erfordert eine radikale Des-Identifikation und widersetzt sich den erleichternden „emanzipatorischen“ Re-Identifikationen in utopistischen Narrativen, Rauschzuständen oder subkulturellen Freizeiterlebnissen. Oft hat sie selbstzerstörerische Konsequenzen, da es nur mehr die prekäre Solidarität ist, die gegen die Gewalt des Systems schützt. Die Befreiung, wie sie hier gefasst ist, kann sich nur als Bruch mit den bürgerlichen Institutionen (Familie, Kunstwelt, die „gute Gesellschaft“) und damit als Beginn einer Kulturrevolution vollziehen. Hier wird ein neuer Befreiungsbegriff kenntlich, der durch seine radikale Desidentifikation negativistische und eben darum ungemein produktive Energien zu entbinden imstande ist. Indem er kulturrevolutionär um Liebe und Sexualität und ästhetisch um eine revolutionäre Sinnlichkeit kreist, lässt er die Möglichkeit des Glücks erneut erahnen.
Der Gegensatz zwischen diesen beiden Richtungen verspricht, anders als in der Linken, kein selbstbezüglicher Grabenkampf, sondern in seiner Schärfe enorm produktiv zu werden. Er ist genau genommen nicht neu, sondern hat die radikalen Bewegungen immer schon bestimmt, zum Beispiel als Sozial- und Künstlerkritik von 1968 oder auch schon 1789 (dazu Peter Weiss: „Marat/Sade). Wenn auch dieses heutige Milieu noch unscharf ist und vieles noch zu entwickeln und zu konkretisieren ist, tut sich in ihm daher eine neue, seit langem verlorene Radikalität auf, die sich nicht mehr auf die Suche nach dem richtigen Links begibt, und sich nicht mehr in taktischen Zugeständnissen verliert, während tatkräftig am Betrieb des bestehenden Systems mitgearbeitet wird, um einige kleine Erfolge durchzubekommen. Sie wird zwar mit hergebrachten Gewissheiten und vertrauten sozialen Milieus brechen müssen, eröffnet dafür aber einen neuen Weg des Widerstands und einer radikalen Freiheit.
Dieser neue Anfang wird nicht unmittelbar in einer revolutionären Bewegung und Organisation zum Tragen kommen. Es sind sehr wenige Militante, die hier neue Wege suchen, und es besteht heute keine Perspektive mehr für die kurzfristige Bildung einer revolutionären Gegenkraft, wie sie nötig wäre, um die Katastrophe effektiv verhindern zu können. Vielleicht kann dies aber in einiger Zeit gelingen. Die Perspektive wäre es dann, in der Katastrophe Widerstand und Solidarität zu organisieren und so gegen die noch schlimmere Katastrophe zu kämpfen – gegen weitere Klimakippunkte, gegen die Abschottung vor Massen, die vor dem steigenden Meeresspiegel fliehen, gegen weitere Faschisierung.
Es kommen düstere Zeiten auf uns zu – daran gibt es nichts schön zu reden. Dennoch sollten wir uns nicht dem Pessimismus und der Resignation hingeben. Eine Perspektive des Widerstands und des Kampfes in der Katastrophe ist möglich. Damit diese Möglichkeit real wird, ist jedoch einiges an Vorbereitungsarbeit nötig.