Die Vorgeschichte
Im Anschluss an die russische Revolution versuchten die Bolschewiki von 1918 bis 1921, die Wirtschaft durch Zentralplanung und Naturalrechnung zu steuern. Diese Bestrebung beruhte auf der Überzeugung, dass die sozialistische Gesellschaft nicht länger auf der Vermittlung durch Geld beruhen dürfe, sondern dass Produktion und Verteilung direkt in Gütern, „in natura“, zu organisieren seien. Die Lohnarbeit und damit jede Form der Ausbeutung sollten abgeschafft werden; die Güterverteilung sollte stattdessen nach einem gesamtgesellschaftlichen Plan erfolgen.Entsprechend erhielt der Oberste Volkswirtschaftsrat die Aufgabe, die Produktion und Verteilung sämtlicher Güter ohne Geld und Handel zu organisieren. Er sollte festlegen, wie viel Brot, Butter, Kleidung oder Kohle jeder Bürger erhält – nicht in Geldwerten berechnet, sondern nach physischen Mengen wie Gewicht, Länge oder Stückzahl. Ab 1919 wurden Post, Transport, Gas, Wasser und Elektrizität kostenlos bereitgestellt und bis zu 85 % der Löhne wurden in Naturalien ausgezahlt. Das Ziel war das „Absterben des Geldes“. Die Idee war es, eine statistisch fundierte Planwirtschaft aufzubauen, in der der zentrale Wirtschaftsrat die Bedürfnisse der Bevölkerung direkt ermittelt und deckt, ohne dass Marktmechanismen oder Preisbildung eine Rolle spielen.
Der Versuch, Produktion und Verteilung ohne allgemeines Mass zu organisieren, offenbarte jedoch sehr schnell seine innere Widersprüchlichkeit. Diese Widersprüchlichkeit wurde von Ludwig von Mises und Max Weber etwa zur gleichen Zeit theoretisch formuliert.[2] Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Auffassung, dass es die Aufgabe einer rationalen Wirtschaftsführung sei, Mittel auf ökonomische Weise in den Dienst von Zwecken zu stellen. In einem System der Naturalrechnung, in dem Güter lediglich in physischen Mengen erfasst werden, fehlt jedoch ein einheitliches Mass zur Bewertung ökonomischer Alternativen. Gewicht, Volumen oder Stückzahlen können dafür nicht herangezogen werden, da sie kein Verhältnis des gesellschaftlichen Aufwands widerspiegeln. Wo es keine Märkte gibt, gibt es keine Preise; und ohne Preise, so argumentierte Mises, kann es keine wirtschaftliche Kalkulation geben. Mises und Weber sahen darin ein unüberwindbares Rationalitätsproblem des Sozialismus. Die Folge sei, dass die Produktion nicht nach Wirtschaftlichkeit, sondern nur nach administrativer Anordnung ablaufen könne. Wirtschaftliche Rationalität würde demnach durch politische oder bürokratische Entscheidungen ersetzt.
Sowohl Mises als auch Weber richteten ihre Kritik also nicht primär gegen die politischen Ziele des Sozialismus, sondern gegen seine ökonomische Ausgestaltung. Sie argumentierten, dass die Naturalrechnung ein System ohne funktionsfähige Informations- und Entscheidungsmechanismen sei. Während Mises den Sozialismus daher grundsätzlich für ökonomisch unmöglich hielt, zeigte sich Weber zurückhaltender. Er hielt eine „administrative Planwirtschaft” zwar für denkbar, jedoch nur unter dem Vorbehalt des Verlusts wirtschaftlicher Rationalität und der Zunahme bürokratischer Kontrolle. Insofern sah Weber in der sozialistischen Naturaltrechnung keine Befreiung, sondern die Gefahr einer autoritären Bürokratie, die an die Stelle des Marktes tritt.
Ein Gedanke, der sich im weiteren Verlauf der russischen Planwirtschaft eindrucksvoll bestätigte. Denn neben den ökonomischen Schwierigkeiten trat deutlich zutage, dass der Versuch, ein kommunistisches Produktionsverhältnis auf der Grundlage einer naturalwirtschaftlichen Zentralplanung aufzubauen, eine grundlegende politische Konsequenz beinhaltete. Die Konzentration der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel im Staat führte dazu, dass die Arbeiterklasse weder über ihre Arbeitsbedingungen noch über das gesellschaftliche Produkt bestimmen konnte. Die entscheidenden Befugnisse lagen bei staatlichen Organen, welche die noch vorhandenen Arbeiterräte entmachteten. Die formale Vergesellschaftung der Produktionsmittel bedeutete somit in der Realität die Unterordnung der Produzenten unter eine bürokratische Verwaltung – ein Prozess, in dem sich die „Diktatur des Proletariats“ in eine Diktatur über das Proletariat verwandelte.
In seiner Kritik an Lenins Schrift „Staat und Revolution“ kommentierte Jan Appel die Widersprüche in der leninistischen Staatstheorie 1927 folgendermassen:
„Wenn das Absterben des proletarischen Staats mitsamt seiner Demokratie erreicht werden soll, kann man nicht zugleich die Gesellschaft politisch und wirtschaftlich unter straffste zentrale Verfügungsgewalt der Regierung zwingen. Denn dies bedeutet das Dasein eines neuen Staates mit grösserer und weitgehender Machtbefugnis, wie sie der Staat des Bürgertums im Kapitalismus hat. Dass aber dieser Staat zu einem gegebenen Zeitpunkt seine Macht von selbst von sich geben würde, ja, auch nur könnte, ohne Zertrümmerung des ganzen zentral aufgebauten Wirtschafts- und Verwaltungsapparates, dürfen nur politische Kinder glauben.“[3]
Drei Jahre nach der Oktoberrevolution konnte die katastrophale Lage der russischen Wirtschaft nicht länger ignoriert werden. Zwar waren der bis Ende 1920 andauernde Bürgerkrieg und der überaus rückständige Agrarsektor schwere Belastungen, sie allein konnten den drohenden Zusammenbruch jedoch nicht erklären. Ein entscheidender Faktor war die innere Irrationalität der Naturwirtschaft selbst – ein Aspekt, den Lenin nicht akzeptierte. Seine politischen und wirtschaftlichen Massnahmen zeigen, dass er die Krise nicht auf ein unzureichendes Wirtschaftssystem zurückführte, sondern als Ergebnis äusserer Umstände betrachtete. Anstatt die Folgen der Abschaffung des allgemeinen Massstabs für die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit zu analysieren, reduzierte Lenin das Scheitern auf eine „Unfähigkeit, die Wirtschaft zu verwalten”. Diese Fehleinschätzung prägte seine Reaktion: die Neue Ökonomische Politik (NÖP). Als vorübergehende Massnahme konzipiert, führte die NÖP regulierte Marktmechanismen wieder ein – in der Hoffnung, dass der Staat nach Wiederherstellung der Stabilität zu einer zentral verwalteten Naturwirtschaft zurückkehren könnte. Die NÖP löste jedoch nicht den zugrunde liegenden Widerspruch. Die mit ihr verbundene Forderung nach „sozialistischer Buchführung und Kontrolle” blieb unbestimmt. Sie ersetzte nicht das Geld als Mittel zur Koordinierung einer komplexen, voneinander abhängigen Wirtschaft. Entstanden ist somit keine Brücke zum Kommunismus, sondern ein Übergang zum Staatskapitalismus.
Die folgende Entwicklung – von der NÖP über den Stalinismus bis hin zu Gorbatschow – kann als Versuch verstanden werden, die Kontrolle über eine dysfunktionale Ökonomie wiederherzustellen. Unter Stalin trat an die Stelle der privaten Verfügung über die Produktionsmittel deren weitgehende Konzentration im Staat, der nun als kollektiver Kapitalist auftrat. Die Entscheidungen über Arbeitsbedingungen und Arbeitsergebnisse blieben weiterhin von den Produzenten getrennt und der Tauschcharakter der Produktion wurde nicht aufgehoben, sondern lediglich durch administrative Zuteilung ergänzt.
Über Produktion, Preise und Verteilung entschieden die Planbehörden. In dieser Form führte die Aufhebung des Marktes nicht zur Aufhebung der Warenproduktion, sondern lediglich zu deren Verstaatlichung. Der Staat trat an die Stelle der Kapitalistenklasse und reproduzierte damit die wesentlichen Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise – nur unter dem Vorzeichen des „Gemeineigentums“. So blieb der Sozialismus ein Staatskapitalismus, in dem der Mehrwert nicht von privaten Unternehmern, sondern von der Bürokratie des „Arbeiterstaates“ angeeignet und verwaltet wurde. Die Bolschewiki beseitigten das Kapital nicht als gesellschaftliches Verhältnis, sondern lediglich in seiner Form als Privateigentum. Sie ersetzten den Markt durch den Plan, aber nicht die Lohnarbeit durch eine bewusste, gemeinschaftlich organisierte Produktion.
Nachdem die Naturalrechnung und die anschliessende „bewusste Anwendung des Wertgesetzes” im Rahmen der Planwirtschaft gescheitert waren, führte die Kommunistische Partei mit der Aufgabe von Preis- und Mengenvorgaben zunehmend marktwirtschaftliche Elemente wieder ein. Dieser Reformversuch blieb keineswegs auf die Sowjetunion beschränkt. Bereits 1978 leitete Deng Xiaoping in China mit der Parole „Bereichert euch“ den Übergang zur Marktwirtschaft ein und verankerte ihn institutionell durch die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen. 1990 erklärte Michail Gorbatschow als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion den Kommunismus für gescheitert und gab zu Protokoll: „Die Erfahrungen der ganzen Welt haben die Lebenstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft eindeutig bewiesen.“[4]
Das ursprüngliche Experiment der Naturalrechnung scheiterte letztlich an seiner eigenen ökonomischen Unmöglichkeit. Die Naturalrechnung sollte den Kapitalismus überwinden, führte in der Praxis jedoch nicht zur Befreiung von Ausbeutung und Herrschaft, sondern zur Aufhebung der wirtschaftlichen Rationalität. Lenin selbst fasste das Fiasko bereits 1921, zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution, in einem Satz zusammen, der die Tragik der bolschewistischen Politik in seltener Klarheit offenbart: „Wir verstehen nicht zu wirtschaften. Das ist im Laufe eines Jahres bewiesen worden.“ [5]
Die Durchsetzung der Arbeitszeitrechnung in der sozialen Revolution
Mehr als ein Jahrhundert ist inzwischen vergangen, seit Otto Neurath die Vorstellung einer Wirtschaftsplanung in Sachwerten, also in physischen Mengeneinheiten, entwarf. Doch bis heute existiert kein tragfähiges Verfahren, mit dem Produzenten eine komplexe, arbeitsteilige Wirtschaft auf dieser Grundlage selbstverwaltet steuern könnten. Dass eine solche Methode nie gefunden wurde, liegt nicht am fehlenden theoretischen Scharfsinn derjenigen, die sich über Generationen hinweg damit befasst haben. Vielmehr ist eine selbstverwaltete Ökonomie ohne ein gemeinsames Mass für Aufwand und Ertrag tatsächlich unmöglich. Selbstverwaltung bedeutet, dass Entscheidungen von den Betroffenen beschlossen werden, die über unmittelbare Kenntnisse der Produktionsprozesse verfügen.Dies geschieht dezentral in den Betrieben und ihren Zusammenschlüssen. Physische Mengeneinheiten liefern hierfür keinen einheitlichen Bezugspunkt, an dem sich die Produzenten orientieren könnten. Physische Mengen können nur in gigantischen Input-Output-Schemata zentral verarbeitet werden. Für eine dezentrale Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, die von den Produzenten selbst getragen wird, sind sie grundsätzlich untauglich. Die Selbstorganisation der Produktion benötigt ein gemeinsames Mass, anhand dessen die Produzenten beurteilen können, ob eine bestimmte Technik oder ein bestimmter Einsatzstoff ökonomischer ist als ein anderer. Im Kapitalismus übernimmt diese Funktion das Geld. Im Kommunismus übernimmt diese Funktion die Arbeitszeit. Die Erfahrungen mit dem bolschewistischen Experiment und dessen Scheitern unter den Bedingungen einer naturalwirtschaftlichen Zentralverwaltung markieren den historischen Punkt, an dem sich die Frage nach der Möglichkeit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung nicht mehr nur als praktisches, sondern auch als theoretisches Problem stellte. Die Kritik von Mises und Weber an der Naturalrechnung machte deutlich, dass eine Ökonomie ohne allgemeines Mass weder rational geplant noch demokratisch gesteuert werden kann. Mises und Weber verengten ihre Analyse jedoch auf das Problem der technischen Koordination. Dabei interessierte sie nicht, dass die Frage des Massstabes im Kommunismus nicht nur eine Frage effizienter Allokation, sondern vor allem eine Frage der gesellschaftlichen Emanzipation ist.
Die Auseinandersetzung mit der Arbeitszeitrechnung betrifft nicht nur die Frage, ob dieses Mass technisch praktikabel ist, sondern vor allem die Frage, welche gesellschaftliche Bedeutung seine Durchsetzung im Rahmen einer sozialen Revolution hätte. Indem Mises und Weber die Arbeitszeitrechnung ausschliesslich als alternative Kalkulationsmethode behandeln und danach beurteilen, ob sie die gleichen Funktionen wie die kapitalistische Preisrechnung erfüllen kann, ignorieren sie den entscheidenden Punkt: Die Arbeitszeitrechnung ist kein Ersatzinstrument, sondern die gesellschaftliche Form, in der die Produzenten ihre Abhängigkeit vom Kapitalverhältnis abschütteln. Sie ist kein technisches Werkzeug, sondern ein revolutionärer Bruch mit der Lohnarbeit.
Die soziale Revolution besteht ihrem Wesen nach darin, dass die Arbeiter alle gesellschaftlichen Funktionen unter ihre eigene Verwaltung bringen. Sie ernennen und entlassen die Betriebsleiter, organisieren die Zusammenarbeit zwischen den Produktionsstätten über vernetzte Räteorganisationen und übernehmen die Verantwortung für den gesamten Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion. In diesem Prozess wird die kapitalistische Trennung von Arbeiter und Produktionsmittel aufgehoben. Die Produzenten kontrollieren die Betriebe und damit die Bedingungen und Ergebnisse ihrer Arbeit selbst.
In diesem Zusammenhang ist die Arbeitszeitrechnung nicht nur ein Detail, sondern das zentrale Organisationsprinzip der neuen Produktionsweise. Sie verhindert die Fortführung der kapitalistischen Ausbeutung, bei der fremde Arbeitsleistungen über die Lohnform angeeignet werden. Gleichzeitig wird jene Form politischer Entfremdung aufgehoben, die entsteht, wenn nicht die Produzenten selbst, sondern eine von ihnen getrennte Instanz – Kapitalisten, Staat, oder Partei – über ihre Arbeit entscheidet. Im kapitalistischen Produktionsverhältnis haben die Produzenten keinen Einfluss auf den Inhalt und die Bedingungen ihrer Arbeit sowie die Ergebnisse ihres eigenen Tuns. Die Durchsetzung der Arbeitszeitrechnung bricht mit diesem Verhältnis, da sie die Trennung zwischen den Produzenten und den gesellschaftlichen Funktionen ihrer eigenen Arbeit aufhebt. Indem die Kontrolle über das gesellschaftliche Produkt dorthin zurückgegeben wird, wo es entsteht – zu den Produzenten selbst –, wird die materielle Grundlage für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel geschaffen und den Arbeitern die bewusste Verfügung über ihre gemeinsamen Lebensbedingungen ermöglicht.
Der Kern der Selbstverwaltung ist die Schaffung einer transparenten Beziehung zwischen Aufwand und Ertrag. Infolge der Durchsetzung der Arbeitszeitrechnung bestimmen die Produzenten nicht nur, wie die Arbeit ausgeführt werden soll. Sie verstehen auch, dass ihr Beitrag ihnen einen entsprechenden Anteil am gesellschaftlichen Produkt begründet. Das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag wird nicht mehr durch Preise verschleiert, sondern ist für alle transparent und überprüfbar. Dadurch wird Planung zu einem bewussten, kollektiv getragenen Prozess, der sich aus der Abwägung individueller Bedürfnisse und des dafür erforderlichen Arbeitsaufwandes speist. Die Entscheidung darüber, was produziert und konsumiert wird, beruht nicht länger auf der Profitkalkulation einer Minderheit, sondern auf einem transparenten gesellschaftlichen Verhältnis zwischen dem, was Mitglieder einer Gesellschaft haben wollen, und dem, was sie dafür zu leisten bereit sind.
Dies hat eine grundlegende Veränderung der gesamten Arbeitswelt zur Folge. Jene Bereiche der kapitalistischen Produktion, die ausschliesslich der Mehrwertproduktion für eine Minderheit dienen, verlieren ihre Existenzgrundlage. Es werden keine Ressourcen mehr für aufwendige Werbekampagnen eingesetzt, die einzig dazu dienen, Bedürfnisse künstlich zu erzeugen. Ebenso werden keine technischen Geräte mehr produziert, die durch eingebaute Kurzlebigkeit schnell ersetzt werden müssen, und keine Produkte mehr hergestellt, die primär der Markenwirkung oder dem Prestige dienen. Da die Produzenten ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen müssen, sondern sie gesellschaftlich organisieren, verschwinden Tätigkeiten, die nur dem Absatz und der Vermarktung von Waren dienen, aber keine gemeinschaftliche Bedürfnisfunktion erfüllen.
Konkurrenz wird durch Kooperation ersetzt. Standorte werden nicht mehr bezogen auf niedrige Lohnkosten ausgewählt, sondern orientieren sich an den sachlichen Anforderungen der jeweiligen Produktion. Forschung und Entwicklung dienen nicht mehr der Maximierung des Absatzes, sondern der gemeinschaftlichen Versorgung. Produktivitätssteigerungen zielen nicht mehr darauf ab, Menschen überflüssig zu machen, sondern gesellschaftliche Arbeitszeit freizusetzen. Effizienz bedeutet nicht mehr, die Mehrheit der Menschen auf die Rolle eines Kostenfaktors in den Kalkulationen einer Minderheit zu reduzieren. Vielmehr bedeutet sie, dass die Produzenten gemeinsam daran arbeiten, den Zusammenhang von Aufwand und Ertrag im Interesse aller zu optimieren. Arbeitslosigkeit verwandelt sich somit nicht mehr in einen sozialen Abgrund, sondern kann zur Verkürzung der Arbeitszeit oder zur Entwicklung neuer gemeinsamer gesellschaftlicher Aufgaben genutzt werden.
Im umfassenden Transformationsprozess der vom Kapitalismus hinterlassenen Verhältnisse wird die Arbeitszeitrechnung zu einem Schlüsselinstrument einer selbstverwalteten Wirtschaft. Nur ein gemeinsames und überprüfbares Mass für gesellschaftliche Arbeit ermöglicht eine nicht hierarchische wirtschaftliche Koordination. Wenn die Arbeitszeit als gesellschaftliches Mass für den individuellen Anteil am gesellschaftlichen Produkt durchgesetzt wird, wird das Verhältnis zwischen Arbeit und Konsum von Geld- und bürokratischen Zwängen befreit. Produzenten und Konsumenten können ihre gegenseitigen Beziehungen auf einer bewusst gewählten Grundlage regeln. Die Arbeitszeitrechnung ist somit die wirtschaftliche Form der Vereinigung freier und gleicher Individuen.
Die Kritik von Mises und Weber an der Arbeitszeitrechnung
Nachdem Mises und Weber die Vorstellung einer Planung in physischen Einheiten ohne Rechnungseinheit verworfen hatten, wandten sie sich der von Marx und Engels skizzierten Arbeitszeitrechnung zu. Sie nahmen diese durchaus ernst, lehnten sie jedoch aus zwei wesentlichen technischen Gründen ab. Einerseits bezweifelten sie, dass eine Wirtschaftsrechnung auf der Grundlage gesellschaftlicher Durchschnittsarbeitszeit zwischen einfacher und komplexer Arbeit unterscheiden könne. Andererseits hielten sie die Bewertung nicht-menschlicher Inputs, insbesondere naturgegebener und nicht reproduzierbarer Ressourcen, für unmöglich. Mit diesen Argumenten wollten sie zeigen, dass die Arbeitszeitrechnung weder Knappheiten abbilden noch qualitative Unterschiede von Arbeit erfassen könne und somit als allgemeines Mass ökonomischer Vernunft ungeeignet sei.Diese Kritik verfehlt jedoch sowohl die theoretischen Grundlagen der Arbeitszeitrechnung als auch ihre praktische Ausgestaltung in einem kommunistischen Produktionsverhältnis. Die Arbeitszeitrechnung ist keine – wie von Mises und Weber unterstellt – primitive, eindimensionale Erfassung von Arbeitsstunden, sondern eine bewusste, gesellschaftlich vermittelte Darstellung sämtlicher für die Produktion erforderlicher Arbeitsaufwände. Sie beruht auf einer klaren Methode: Alle Formen lebendiger Arbeit sowie die in Produktionsmitteln, Roh- und Betriebsstoffen enthaltene vergangene Arbeit werden dezentral in den Betrieben erfasst, offen in der gesellschaftlichen Buchführung bezogen auf den gesellschaftlich durchschnittlichen Aufwand dokumentiert und entlang der Lieferketten bis zum Endprodukt verrechnet. So wird jedes Produkt zu einem transparenten Ausdruck des in ihm verkörperten, gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitsaufwands.
In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf komplexe Arbeit kein Hindernis, sondern ein integraler Bestandteil der Arbeitszeitabrechnung. In jeder Gesellschaft erfordert qualifizierte Arbeit – egal ob technisch oder fachlich – längere Ausbildungszeiten und einen höheren sozialen Aufwand, um reproduziert zu werden. Selbst in einer kapitalistischen Gesellschaft basiert die Entlohnung für qualifizierte Arbeit nicht auf einem „Mehrwert” der Arbeit selbst, sondern neben Machtfaktoren auf den gesellschaftlichen Kosten, die für ihre Produktion erforderlich sind – beispielsweise für Ausbildung, längere Lernzeiten und andere Vorabinvestitionen. Die Arbeitszeitrechnung sorgt demgegenüber für eine transparente gesellschaftliche Rechnungslegung, indem sie allein die für die Ausbildung und Training hochqualifizierter Arbeitskräfte erforderlichen Aufwendungen in die gesellschaftlichen Produktionskosten einbezieht.
Auf der Produktionsseite kann komplexe Arbeit in die Berechnung der gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit einbezogen werden, indem ein Faktor angewendet wird, der die gesellschaftlich notwendige Ausbildungszeit dieser spezifischen Art von Arbeitskraft widerspiegelt. Auf der Verbraucherseite bleibt die Regel dagegen einfach und für alle gleich: Eine Stunde entspricht einer Stunde. Der Komplexitätsfaktor spiegelt lediglich den gesellschaftlichen Aufwand wider, der in die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen einfliesst. Er erzeugt keine Hierarchie von Ansprüchen.
Die zusätzlichen Aufwendungen auf der Produktionsseite werden durch die Produkte, an deren Herstellung sie beteiligt sind, amortisiert. Dadurch können die für das öffentliche Ausbildungswesen gebildeten Fonds in der öffentlichen Buchhaltung entlastet werden. Somit stellt der Unterschied zwischen einfacher und komplexer Arbeit kein Rationalitätsproblem für die Arbeitszeitrechnung dar. Im Gegenteil: Die Arbeitszeitrechnung macht die realen Unterschiede im gesellschaftlichen Aufwand sichtbar.
Auch nicht reproduzierbare natürliche Ressourcen stellen keine unüberwindbare Schwierigkeit dar. Knappheit, die nicht durch menschliche Arbeit entsteht, kann kollektiv und ökologisch reguliert werden. Die Gesellschaft kann die Bedingungen festlegen, unter denen der Zugang zu begrenzten Ressourcen erfolgt, und diese Beschränkungen können als zusätzliche Zeitaufwendungen ausgedrückt werden. Diese fungieren nicht als Marktpreise, sondern als kollektiv festgelegte Signale für ökologische Kosten und soziale Verantwortung. Sie fliessen über die gesellschaftliche Buchhaltung transparent in den Gemeinschaftsfonds ein.
Damit erweisen sich die beiden Einwände von Mises und Weber nicht als Argumente gegen die Arbeitszeitrechnung, sondern als Hinweise auf gesellschaftliche Fragen, die die Arbeitszeitrechnung präziser und transparenter beantwortet als die kapitalistische Marktwirtschaft. Während der Kapitalismus Knappheiten zerstörerisch oder zufällig reguliert und komplexe Arbeit über soziale Machtverhältnisse entlohnt, macht die Arbeitszeitrechnung die tatsächlichen gesellschaftlichen Aufwendungen transparent. Beide Systeme ermöglichen dezentrale Entscheidungen. Während der Markt sie über die entfremdete Form des Preises organisiert, erfolgt die Organisation über die Arbeitszeitrechnung durch ein bewusst reguliertes und offen überprüfbares Mass für den gesellschaftlichen Aufwand.
Der strukturelle Widerspruch im Kern der Sozialisierung
In der vergleichenden Betrachtung zeigt sich, dass die Arbeitszeitrechnung und die kapitalistische Preisrechnung in ihrer Funktion zur dezentralen Koordination nicht grundsätzlich verschieden sind. Beide ermöglichen es voneinander unabhängigen Produzenten, Entscheidungen ohne zentrale Planautorität zu treffen. Während die Preisrechnung diesen Prozess jedoch über Marktverhältnisse vermittelt, die auf Ausbeutung und Entfremdung beruhen, verwirklicht die Arbeitszeitrechnung denselben dezentralen Mechanismus bewusst, transparent und ohne die Herrschaft des Kapitals. Die Mitglieder der Gesellschaft entscheiden eigenverantwortlich, wie viel Arbeitszeit sie leisten und welche Güter sie im entsprechenden Verhältnis konsumieren möchten. Dabei wird das Verhältnis von Geben und Nehmen nicht durch die Konkurrenz auf dem Markt bestimmt, sondern durch eine offene, überprüfbare und gemeinschaftlich regulierte Messung gesellschaftlicher Arbeit.Sowohl der Kapitalismus als auch der Kommunismus benötigen einen Teil der individuellen Arbeitszeit, um kollektive Dienstleistungen wie Bildung, das Gesundheitswesen, die Infrastruktur oder die Grundlagenforschung zu finanzieren. Im Kapitalismus werden diese öffentlichen Bedürfnisse durch Steuern und öffentliche Ausgaben gedeckt. Im Kommunismus sind Abzüge für kommunale Fonds erforderlich. Aus diesem Grund kann keines der beiden Systeme vollständig dezentral gesteuert werden. Dieses gemeinsame strukturelle Merkmal markiert die Grenze beider Wirtschaftsformen.
Diese strukturelle Grenze macht einen grundlegenden politischen Widerspruch sichtbar: Je umfassender eine Gesellschaft Güter sozialisiert und zur freien Verfügung stellt, desto mehr bewegt sie sich in Richtung einer Naturalrechnung. Für die Marktwirtschaft wie für ein kommunistisches Wirtschaftssystem im Sinne der „Grundprinzipien“ gilt daher gleichermassen: Mit wachsender Sozialisierung schrumpft der Raum marktwirtschaftlicher Koordination ebenso wie der Spielraum kommunistischer Selbstverwaltung. Je grösser die in gewissem Umfang notwendigen kollektiven Fonds werden, desto mehr verliert der allgemeine Massstab seine Funktion als Grundlage bewusster Selbstbestimmung, mit der Folge, dass dezentrale wirtschaftliche Rationalität durch politische oder bürokratische Entscheidungen ersetzt wird.
Die Durchsetzung der Arbeitszeitrechnung ermöglicht es der Gesellschaft die Produktion auf der Grundlage freier und gleicher Assoziation zu organisieren und damit an die Stelle der Regierung über Personen die kollektive Verwaltung und Leitung von Produktionsprozessen zu setzen. Die weit verbreitete, ökonomisch unreflektierte Parole – „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!” – ist eine Abkehr von der rationalen Wirtschaft.
Mit ihr geht jene spezifische Gestalt des Kommunismus verloren, die Marx und Engels als Assoziation freier und gleicher Individuen beschrieben haben: eine Produktionsweise, in der die Produzenten ihr Verhältnis zueinander selbst gestalten können, da die gesellschaftliche Arbeit in einem gemeinsamen, offen nachvollziehbaren Mass im Verhältnis zum gesellschaftlichen Produkt geregelt wird. Wenn die bewusste Verbindung zwischen Aufwand und Ergebnis entfällt, tritt unweigerlich Rationierung an ihre Stelle – und Rationierung ist das Gegenteil von Arbeiterselbstverwaltung.
Sie ebnet den Weg für Bürokraten, moralisierende Eliten und politische Parteien, die vorgeben, im Namen der Arbeiter zu sprechen, während sie sich an ihre Stelle setzen. Ersetzt die Rationierung die individuelle Arbeitszeitrechnung, verschwinden Transparenz und Autonomie – und damit der wesentliche Inhalt der kommunistischen Vergesellschaftung.
Die vergessene Logik des Kommunismus ist nicht eine Moral der Gleichheit oder eine Utopie des Überflusses, sondern eine bestimmte Organisationsform: ein transparentes System, in dem gesellschaftliche Arbeit von denjenigen gemessen, koordiniert und verteilt wird, die sie verrichten. Nur wenn die Produzenten gemeinsam die Bedingungen und Ergebnisse ihrer Arbeit regeln, nimmt das Versprechen des Kommunismus – die Assoziation freier und gleicher Individuen – konkrete wirtschaftliche Gestalt an.



