Sein Werdegang, geprägt von einem kompromisslosen Einsatz für die Ausarbeitung einer bestimmten Negation, hinterlässt ein Vermächtnis, das weiterhin jede Form der Nachsicht gegenüber der „generalisierten Lüge“, die die von den Situationisten entschlüsselte Welt des Spektakels strukturiert, ethisch und politisch in Frage stellt.
Gianfranco wurde 1948 in der Schweiz als Sohn von Teresa Mattei und Bruno Sanguinetti geboren, die beide den antifaschistischen Widerstand in Italien aktiv unterstützten. Teresa, ausgebildete Lehrerin, wurde 1946 von der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) in die verfassunggebende Versammlung gewählt. Sein Vater Bruno war jüdischer Abstammung und Sohn eines Grossunternehmers in der Lebensmittelindustrie. Als Intellektueller und grosser Kenner der französischen Literatur mit Hochschulabschlüssen in Ingenieurwesen und Physik beteiligte er sich an der Gründung der Gruppo Antifascista Romano und wurde während des Widerstands zu einem der wichtigsten Geldgeber des PCI.[1]
Von klein auf scheint Gianfrancos Leben den „weiten Räumen der Zeit bis zum Mittelpunkt der Gelegenheit“ gefolgt zu sein, von dem Baltasar Gracián sprach. Seine politische und kulturelle Ausbildung fand in der Zeit nach dem Ende des antifaschistischen Widerstands, in dem seine Eltern eine führende Rolle spielten, und vor der Rückkehr der Arbeiter- und Studentenkämpfe im „heissen Herbst“ 1969 statt. Dieser neue Zyklus brachte die revolutionären Bestrebungen wieder zum Vorschein, die seit dem biennio rosso („den zwei roten Jahren“) von 1919–1920 im Verborgenen lagen und die den jungen Sanguinetti aufgrund der neuen Umstände zu einem radikalen Bruch mit dem kommunistischen Antifaschismus der Generation seiner Eltern führten.
Die frühen von den Situationisten beeinflussten Jahre
Mit nicht einmal fünfzehn Jahren verstand Gianfranco bereits die neuen Formen, die der Klassenkampf zu dieser Zeit annahm. Diese Veränderungen waren nicht nur von der Krise der bürgerlichen Gesellschaft und dem italienischen Nachkriegskapitalismus geprägt, sondern vor allem vom Aufkommen eines neuen Proletariats. Prekär und losgelöst von den direkten Produktionsinteressen, begann diese Bevölkerungsschicht die dominante Stellung des Industriearbeiters als revolutionäres Subjekt par excellence zu bedrohen. Durch sie wurde die Hegemonie der Kommunisten an der Spitze der Arbeiterparteien und Gewerkschaften in Frage gestellt, ebenso wie die vorherrschende marxistische Orthodoxie selbst, die ökonomische und politische Kämpfe gegenüber den soziokulturellen Aspekten gesellschaftlicher Konflikte und Kämpfe bevorzugte.Sich dem Zusammenbruch traditioneller Werte des Bürgertums und der Arbeiterklasse bewusst, begann Gianfranco ab 1966 Treffen der Gruppo 63 zu besuchen, einer Bewegung junger Schriftsteller, die durch experimentelle Aneignung der Sprache mit dem akademischen Rahmen des italienischen Neorealismus brachen. Inspiriert von Joan Baez' pazifistischer „Grüner Welle“ in den USA, der Beatnik-Gegenkultur und den niederländischen Provos gründete er mit einer Gruppe junger Hippies die gleichnamige italienische Bewegung: Onda Verde.
Die Mailänder Beatniks verteidigten Anliegen, die die Interessen der Jugend betrafen, wie die Abschaffung der Wehrpflicht sowie das Recht auf Abtreibung, Scheidung und gleichgeschlechtliche Ehe. Sie waren an Gymnasien aktiv, die sie besetzten und in denen sie politisch-ästhetische Happenings realisierten. Das im Herbst 1966 eingegangene Bündnis zwischen Onda Verde und einer ähnlichen Gruppe führte unter dem neuen Namen Mondo Beat zu einem qualitativen Sprung und ersten Formulierungen situationistisch beeinflusster Theorien.
Als die letzte Ausgabe der gleichnamigen, von dieser Gruppe herausgegebenen Zeitschrift beim grössten linken Verlag Italiens ein Jahr später erschien, wurde dem Verlag Feltrinelli „Rekuperation“ vorgeworfen. Dieser Begriff, den man sich durch kollektive Lektüre der Zeitschrift Internationale Situationniste angeeignet hatte, wurde damals als Gegenmittel gegen die Vereinnahmung der Studentenkämpfe eingesetzt.
Im Jahr 1967 schlossen sich Gianfranco und andere Klassenkameraden – darunter die beiden späteren Mitglieder der Situationistischen Internationale Claudio Pavan und Paolo Salvadori – dem Zeitschriftprojekt S an. Diese auf Initiative des Mailänder Professors Carlo Oliva entstandene Publikation unternahm es, den in linken Parteien vorherrschenden ökonomischen Marxismus zu erneuern. Durch S gelangte die situationistische Theorie an die italienischen Universitäten und verbreitete sich im Zusammenhang mit der grossen Universitätsbesetzungsbewegung, die Ende desselben Jahres in Turin ausbrach und sich auf weitere Städte ausweitete. Daran anschliessend und noch durch den Schwung des französischen Mai 1968 gestärkt, hielten die sozialen Proteste in Italien ein Jahrzehnt lang an und wurden als „Schleichender Mai“ bekannt. Obwohl die Zeitschrift Internationale Situationniste im ganzen Land damals nicht mehr als zwanzig Abonnenten hatte, übte ihre Theorie doch eine starke Wirkung auf die italienischen Fachhochschul- und Universitätsstudenten aus.[2]
Die situationistischen Jahre
Im Spätherbst 1968 verfasste Gianfrancos Gruppe „Dialletica della putrefazione e del superamento“ eine Analyse der Studentenbewegung, die stark von der situationistischen Theorie sowie den Thesen des Rätekommunismus der deutsch-niederländischen Linken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Pannekoek, Gorter usw.) beeinflusst war. Während in Frankreich die revolutionäre Bewegung durch die Auswirkungen des „Grenelle-Abkommens“ besiegt wurde, bewegte sich Italien auf eine revolutionäre Krise zu.In dem Moment, in dem die französischen Situationisten die Krise vom Mai/Juni 1968 analysierten und sich in eine Debatte über die Organisation und Rolle der Situationistischen Internationale in künftigen Kämpfen verwickelten, nahmen Sanguinetti, Pavan und Salvadori Kontakt mit der französischen Sektion der Organisation auf, die damals von Guy Debord angeführt wurde. Auf diese Weise entstand die italienische Sektion, selbst wenn sie eigentlich nur aus den drei Mailänder Mitgliedern bestand.3 Die erste – und einzige – Ausgabe der Zeitschrift Internazionale Situazionista erschien im Juli 1969. Der Inhalt beeindruckte die Mitglieder der französischen Sektion und insbesondere Debord, der damals schrieb: „Ich glaube nicht, dass seit Machiavelli etwas so Mächtiges in Italien geschrieben worden ist.“[4]
Gianfranco hatte dabei die klarste Vision und das solideste theoretische Repertoire unter den jungen Mitgliedern der italienischen Sektion, die in ihre kleine Gruppe auch den Venezolaner Eduardo Rothe aufnahm, den einzigen Südamerikaner, der jemals Teil der SI wurde. Die Verschärfung der Arbeiterkämpfe zwischen 1968 und 1969 – gekennzeichnet durch wilde Streiks bei FIAT, Pirelli, Oficina 32 in Mirafiori und bei der RAI; durch das Errichten von Barrikaden in Mailand, Caserta, Turin und Neapel; durch Gefängnisrevolten, den Aufstand von Battipaglia, Strassenunruhen auf Sardinien und die Gründung von Aktionskomitees in Fabriken – führten zum Aufruf zu einem Generalstreik am 19. November 1969.
Zu diesem Anlass plakatierten die italienischen Situationisten in den Mailänder Strassen das Manifest Avviso al proletariato italiano sulle possibilità presenti della rivoluzione sociale („Mitteilung an das italienische Proletariat über die gegenwärtige Möglichkeit einer sozialen Revolution“), in dem die wichtigsten Aspekte der anhaltenden revolutionären Krise zusammengefasst, die auf dem Spiel stehenden Interessen erläutert und zur Bildung von Arbeiterräten aufgerufen wurde.
Als am 12. Dezember 1969 (ebenfalls in Mailand) in der Banca dell'Agricoltura eine Bombe explodierte, prangerten die Situationisten im Trubel der Ereignisse eine Provokation des italienischen Staates an – was jedoch erst 1990 vom damaligen Premierminister Giulio Andreotti bewiesen wurde. Von diesem Moment an waren Sanguinettis Erfahrungen mit revolutionärer Politik und dem Staat, wie McKenzie Wark bemerkte, „noch mehr als jene von Debord, hauptsächlich mit ihrer Polizeifunktion verbunden“.[5] Tatsächlich war Gianfranco bereits als Jugendlicher (auf Befehl des 1972 ermordeten Mailänder Polizeikommissars Luigi Calabresi) verhaftet worden, weil er im Königspalast in Mailand vor Francos Minister Manuel Fraga Iribarne die Flagge der Spanischen Republik von 1936 gehisst hatte.
1971 wurde er aus Frankreich ausgewiesen und war während dieser Zeit auch in Italien mit einer Reihe von polizeilichen und neofaschistischen Provokationen konfrontiert. Deshalb, und als Zeichen der Solidarität und Unterstützung für seinen Freund, wird Sanguinetti als Mitautor des von Debord verfassten und 1972 veröffentlichten Dokuments zur Auflösung der SI aufgeführt. Zwischen 1975 und 1976 wird Gianfranco erneut in Italien inhaftiert und aus Frankreich ausgewiesen, diesmal wegen einer anderen Angelegenheit.
Die post-situationistischen Jahre
Im März 1975 werden Gianfranco und seine Freundin Katharine Scott auf dem Weg nach Florenz angehalten und wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen – selbstverständlich hatte die Polizei die Waffen ins Auto gelegt. Während sie vier Tage in Haft sassen und verhört wurden, wurden gleichzeitig mehrere Wohnungen ehemaliger Mitglieder der italienischen Sektion der SI durchsucht. Auch Mario Masanzanica, der Besitzer des Wagens, den Gianfranco zum Zeitpunkt seiner Festnahme fuhr, geriet ins Visier der „Antiterror“gesetze und wurde unter dem ungewöhnlichen Vorwurf festgenommen, er wäre der „Killer“ der SI.Zwei Monate später kam er jedoch aus Mangel an Beweisen wieder frei. Zu dieser Zeit orchestrierte der italienische Staat eine von der Presse verbreitete Verleumdungskampagne, die die Situationisten sowohl mit dem anarchistischen „schwarzen Terrorismus“ als auch mit dem „roten Terrorismus“ der Brigate Rosse in Verbindung bringen sollte. Aber Gianfranco und Katharine hatten etwas Wichtigeres als Bomben oder Kriegswaffen bei sich: das Manuskript des Pamphlets Rapporto veridico sulle ultime possibilità di salvare il Capitalismo in Italia („Wahrhafter Bericht über die letzten Chancen, den Kapitalismus in Italien zu retten“).[6] 2017 verriet Gianfranco, dass Katharine das Manuskript in ihrem Geigenkasten versteckt hatte, was bei der Polizeikontrolle im Florenzer Frauengefängnis unbemerkt geblieben war.
Das subversive Potenzial des Pamphlets hätte Gianfranco und seiner Partnerin unter den damaligen Verhältnissen mehr als zwölf Jahre Gefängnis einbringen können – die Strafe für illegalen Waffenbesitz. Vor den Händen des Staates in Sicherheit gebracht, wurde das Manuskript von Gianfranco in der Bibliothek von Bergamo sorgfältig für eine Publikation vorbereitet. Nach seiner Fertigstellung wurde Sanguinettis Rapporto erstmals in Italien unter dem Pseudonym Censor, einem fiktiven zynischen und ultrakonservativen Bourgeois, veröffentlicht. Sein Zweck war es aufzuzeigen, wie nützlich es für den italienischen Staat war, auf den Terrorismus zurückzugreifen, um den Kapitalismus vor einem Scheitern und der proletarischen Subversion zu retten, die das Land in einen Bürgerkrieg trieb. Gleichzeitig kritisierte der Text die wiederholten polizeilichen und juristischen Fehler bei den Ermittlungen über das Massaker der Piazza Fontana und riet den Führern der Christdemokraten, die umfangreiche Erfahrung der Kommunisten mit der Kontrolle der Arbeiterklasse zu ihrem Vorteil zu nutzen.
In Zusammenarbeit mit Debord, der das Pamphlet ins Französische übersetzte, griff Gianfranco auf eine Methode zurück, die Bruno Bauer und Karl Marx 1841 gegen die Hegelianische Rechte (die Alt-Hegelianer) angewandt hatten, und schlug vor, „einen Staat von Provokateuren zu provozieren“.[7] Beide Texte benutzen Ironie und Denunziation, um die Widersprüche der vorherrschenden ideologischen Formen aufzudecken, die die gesellschaftliche Realität verschleiern. Bauer und Marx kritisierten die Philosophie der Hegelianischen Rechten für ihre ideologische Funktion, während Sanguinetti und Debord die Ironie strategisch einsetzten, um die Heuchelei der italienischen Eliten offenzulegen. Diese Eliten, verkörpert durch die Figur des „humanistischen Bankiers“ Raffaele Mattioli (dem Censor den Rapporto widmet), symbolisierten den Widerspruch zwischen dem wohlwollenden Schein und der unterdrückerischen Realität des Kapitalismus.
Im Dezember 1975 verkündete Sanguinetti – nachdem er die gesamte italienische Presse getäuscht hatte, die den Inhalt des Pamphlets in Unkenntnis des wahren Autors in ihren Medien wiedergegeben hatte – öffentlich die Nichtexistenz von Censor und enthüllte damit die wahren Motive seiner Provokation. Ziel der Operation war es, auf experimentelle und streng logische Weise zu demonstrieren, wie einfach es ist, die Bevölkerung mit den gleichen Inszenierungsmethoden zu täuschen, die auch der Staatsterrorismus verwendet.
Zu diesem Zweck wandte Gianfranco die Methode des Feindes gegen diesen selbst an. Er hatte unter vorgetäuschter Identität ein Pamphlet verfasst, um „das Unaussprechliche auszusprechen“. Indem er die Täuschung aufdeckte, überlistete er die professionellen Betrüger des Staates und verschärfte so die Diskreditierung der Institutionen in der Bevölkerung.
Nachdem ihn die Grenzbehörden in einem Nachtzug nach Italien erkannt hatten, wurde Gianfranco ein zweites Mal aus Frankreich ausgewiesen. Dieser Vorfall erzürnte Debord, und er überredete seinen italienischen Freund über Gérard Lebovici, den Besitzer des Champ Libre Verlags, eine halbe Seite in der Zeitung Le Monde zu kaufen. Am 24. Februar 1976 wurde dort eine Unterstützungserklärung für Sanguinetti veröffentlicht. Debords Medienintervention mit einem Humor, den André Breton als „swiftianisch“ bezeichnet hätte – einem, der Gelächter hervorruft, ohne sich an ihm zu beteiligen –, stand im Zusammenhang mit der Suche nach einem neuen Operationsfeld für die situationistische Theorie nach dem Ende der Situationistischen Internationale. Diese Art Vorreiter einer modernen Gegenöffentlichkeit brachte über einen Umweg eine post-situationistische Aktionsstrategie zum Ausdruck: die Waffen des Spektakels gegen das Spektakel selbst zu richten.
Im Verlauf dieser Jahre entfaltete die Kraft der von der SI formulierten Theorie dank der strategischen Partnerschaft zwischen den beiden Männern ihre grösste Wirkung in Italien. Diese Freundschaft, die Debord mit der von Marx und Engels verglich – wobei Gianfranco der wohlhabende Freund in dieser Beziehung war – bestand nach dem Ende der SI fort, bis sie aufgrund einer von Debord geführten Verleumdungskampagne gegen Sanguinetti zerbrach.
Beide veröffentlichten 1979 eine Analyse über die italienische Situation, in der sie sich jeweils direkt mit der Frage des Terrorismus befassten und sich auf die Aktionen der Roten Brigaden sowie die Entführung und Hinrichtung des christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro fokussierten. Debord wollte, dass sein ehemaliger situationistischer Weggefährte seine Thesen noch während Moros Entführung in Italien veröffentlichte, um die Manipulation der Roten Brigade durch den Geheimdienst aufzudecken. Sanguinetti tat dies jedoch erst nach dem Ende der Episode, fünf Monate nachdem Debord seine eigenen Thesen in Frankreich veröffentlicht hatte, in denen weder die Bewegung von 1977 noch Sanguinettis Buch von 1975 erwähnt werden.[8]
Debord brach nicht nur alle Beziehungen zu Sanguinetti ab, sondern begann auch Verdächtigungen gegen ihn zu verbreiten. Debord war überzeugt davon, dass sein Freund unter dem Einfluss seines Anwalts, den Debord mit Argwohn betrachtete, seinem Rat nicht gefolgt war. Ohne auch nur den geringsten Beweis für seinen Verdacht vorzulegen, verbreitete Debord unter westeuropäischen Übersetzern und Verlegern den falschen Hinweis, dass es sich bei dieser Person um einen Agenten des Geheimdienstes handeln könnte. Erst im November 2012 äusserte sich Gianfranco in einem Brief an den ehemaligen tunesischen Situationisten Mustapha Khayati[9] zu der Kontroverse und enthüllte die Identität seines Freundes sowie die Gründe für sein Schweigen angesichts der von Debord verbreiteten Verleumdungen.
Ariberto Mignoli (der „Doge“) war ein italienischer Jurist und Universitätsprofessor, spezialisiert auf Gesellschaftsrecht und grosse Finanztransaktionen. Er besass eine humanistische Bildung, beherrschte klassische („tote“) und moderne europäische Sprachen, las Literatur in mehreren Sprachen, verfügte über ein hochentwickeltes Gedächtnis und eine ausgeprägte moralische Rechtschaffenheit. Obwohl er kein Revolutionär im klassischen Sinne war, war er kein Konformist und bewahrte sich eine kritische Haltung gegenüber der politischen Macht und den herrschenden Klassen. Sanguinetti beauftragte ihn 1971 als „unbestechlichen“ Anwalt zur Lösung von Familienangelegenheiten.
Doch insbesondere beteiligte sich Mignoli massgeblich an der Operation Censor, indem er die Realisierung einer limitierten und luxuriösen Ausgabe auf Spezialpapier und mit gebundenem Einband vorschlug und sogar die Liste der Empfänger des Pamphlets – darunter Papst Paul VI. – lieferte. Mignoli verteidigte Sanguinetti auch mehrfach bei Strafverfolgungen und half ihm, polizeilichen und juristischen Fallen zu entgehen. Censor ist letztlich eine Figur, die sowohl von Debord als auch von Mignoli inspiriert ist und die eigentümliche Figur eines umgekehrten Kropotkin widerspiegelt: kein subversiver Aristokrat, sondern ein aristokratischer Staatsgefährder.
Sanguinetti reagiert auf Debords Verdächtigungen mit Ironie und Verachtung. Er nennt sie absurd, unbegründet und bezeichnend für Debords paranoide Degeneration in den Jahren nach der Auflösung der SI. Er bestreitet kategorisch, dass Mignoli ein Geheimagent hätte gewesen sein können und beschreibt ihn im Gegenteil als einen integren, kultivierten, grosszügigen und hochintelligenten Mann, dessen Leben und Charakter mit einem Geheimdienst unvereinbar seien: „Dieser Mann, den Debord in seinem Rausch und Delirium einen ‚Geheimagenten' zu nennen wagte, war in Wirklichkeit der transparenteste und grossmütigste Mensch.
Ein unbestechlicher Anwalt, ein Freigeist, unfähig, sich an irgendeine Macht zu verkaufen. Dass Debord in seinem wachsenden Verfolgungswahn schliesslich dahin gelangt ist, in ihn einen Spion zu sehen, bestätigt nur den Zustand der Verwirrung und des Ruins, in den er geraten war.“ An anderer Stelle bemerkt Sanguinetti mit Ironie, dass wir, falls Mignoli tatsächlich ein Geheimagent gewesen sein sollte, „die gesamte Geschichte der italienischen Geheimdienste nocheinmal überprüfen müssten, da es dort noch nie einen so besonnenen, so grosszügigen und so wenig an Geld interessierten Spitzel gegeben hat.“
Mit 28 Jahren beteiligte sich Sanguinetti aktiv an der Bewegung von 1977 in Rom und Bologna und wurde Zeuge der beispiellosen Repression, die diesen Erfahrungen ein Ende setzte. Gianfranco führte darüberhinaus seine mit dem Rapporto von 1975 begonnene Arbeit der Entmystifizierung fort und veröffentlichte 1979 das Buch Del terrorismo e dello Stato (Über den Terrorismus und den Staat, auf deutsch Hamburg, 1981). Darin prangerte er erstmals den Einsatz des insbesondere in Italien durch Staatsapparate unter falscher Flagge ausgeübten Terrorismus an, der zum Ziel hatte, die radikalen Protestbewegungen von 1969 und 1977 zu unterdrücken und niederzuschlagen. Das Buch wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA neu aufgelegt, da es auch als Voraussage über die Vorgehensweise im „Krieg gegen den Terror“ angesehen werden kann, der das 21. Jahrhundert einläutete.
Die letzten Jahre
Ungeachtet aller Verschwörungstheorien führte Gianfranco in den letzten Jahren des Kalten Krieges (zwischen 1989 und 1991) unabhängige Forschungsarbeiten in Russland, Litauen und Tschechien durch. Anschliessend liess er sich bis zu seinem Tod in Prag nieder, auch wenn er häufig zwischen Paris (wo er mit seinem Freund Gérard Bérreby von der Edition Allia zusammenarbeitete) und der Toskana pendelte, um sich um die ländlichen Besitztümer der Familie zu kümmern. Nachdem er zehn Jahre nicht mehr öffentlich interveniert hatte, begann Sanguinetti wieder politische Essays in der europäischen Alternativpresse zu veröffentlichen und kritisierte eine neue Form der Herrschaft: den „westlichen Despotismus“.[10]Dieser Despotismus sei der Rivale des alten „orientalischen Despotismus“, den der deutsche Theoretiker und Kritiker Karl August Wittfogel Ende der 1950er Jahre analysierte. Sanguinetti zufolge entstand der neue Despotismus aus dem Zerfall der UdSSR und dem gleichzeitigen Niedergang der Rechtsstaatlichkeit in den westlichen Ländern. Dies hat zu einem immerwährenden und flächendeckenden Ausnahmezustand geführt, der sowohl durch die Orchestrierung lautloser Staatsstreiche, die die Kooptation und Unterwanderung sozialer Kämpfe beinhalten, als auch durch Techniken der rechtlichen und politischen Stabilisierung und Destabilisierung minimal demokratischer Regierungen, mit dem Ziel diese durch autokratische Regime zu ersetzen, gekennzeichnet ist.
2017 nahm Sanguinetti an einer grossen Ausstellung mit dem Titel 77 im Museo di Roma in Trastevere teil. Zu diesem Anlass verfasste er den Essay Un Orgasmo della Storia: il 1977 in Italia, der im selben Jahr als Einleitung in dem von unter anderem Tano D'Amico, Pablo Echaurren und Claudia Salaris kuratierten Band Il Piombo e le Rose erschien. Da dieser Text wichtige autobiografische Informationen enthält, empfehle ich ihn allen, die sich für die Einheit von seinem Leben und Werk, seinem œuvre-vie interessieren – ein Begriff, der die Ausweitung gelebter Erfahrung in den Bereich der künstlerischen Schöpfung beschreibt, welche durch ihr Erscheinen als Werk wiederum neue Existenzformen hervorbringt.
Sanguinetti kann ebenfalls als Vorläufer der zeitgenössischen Prankster- oder Jamming-Kultur betrachtet werden.[11] Kurz nach der Operation Censor veröffentlichte Pier Franco Ghisleni in Italien eine apokryphe Ausgabe des Einaudi-Verlags, „signiert“ vom damaligen Generalsekretär des PCI Enrico Berlinguer. Im gleichen Stil veröffentlichte und verbreitete die Gruppe, welche die Zeitschrift Il Male herausgab, eine Reihe von gefälschten Zeitungen, darunter eine falsche Ausgabe des populären Corriere della Sera.
In einem noch unveröffentlichten Interview – dem zweiten und letzten, in dem er über sein Leben spricht – berichtet Gianfranco von mehreren Treffen mit Jacques Servin (Pseudonym von Andy Bichlbaum), einem Mitglied der amerikanischen Gruppe Yes Men, in Paris. Servin bestätigte ihm den Einfluss der Operation Censor auf ihre Filme und auf ihre Schaffung von Situationen, die sie „Identitätskorrektur“ nennen, während Gianfranco sie seinerseits als „subversiven Betrug“ bezeichnet. Sanguinetti sieht diese Form des Aktivismus als eine Erweiterung der zeitgenössischen „hybriden Kämpfe“ und „asymmetrischen Kriege“ und beteuert: „Indem wir eine ‚respektable' Identität usurpieren, die vom Mainstream respektiert wird, und sie dann Dinge sagen lassen, die ebenso unaussprechlich wie wahr sind, zwingen wir sie, skandalöse Tatsachen zuzugeben: ähnlich wie Jonathan Swift, der vorschlug, die überschüssigen, armen irischen Kinder zu kochen, um das Armutsproblem in Irland endgültig zu lösen.“[12]
Wir wissen, dass posthumer Ruhm denjenigen vorbehalten ist, die sich nicht einordnen lassen, wie Hannah Arendt in ihrer Hommage auf Walter Benjamin schrieb. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass dies auch für die ikonoklastische Figur Sanguinettis gilt. Sein persönliches Archiv befindet sich heute in der „Beinecke Rare Book and Manuscript Library“ der traditionsreichen Yale University in den Vereinigten Staaten, einem Modellland für den neuen Despotismus, den er in seinen späteren Jahren kritisierte. Dieser Kontext hat es Forschern am Rande des Spektakels erschwert, überhaupt auf diese wahre Fundgrube internationaler Subversion zuzugreifen.
Eine gute Möglichkeit, das Andenken an Gianfranco Sanguinetti zu ehren, wäre daher, Wege zu finden, den Zugang zu seinem Archiv zu erleichtern. Doch heutzutage geschieht das genaue Gegenteil: Wir erleben eine Reduzierung von Stipendien für unabhängige Forscher und eine Beschränkung der Einwanderungsvisa für Ausländer. Eine Frage bleibt also: Mithilfe welcher Mittel wäre es möglich, das Archiv zu nutzen?[13]
Sanguinettis intellektuelle und politische Biographie bietet weder Antworten noch Modelle, sondern nur Fährten und Rätsel, die keine direkten Erben und Nachfolgern zulassen. Es genügt, der Devise DISSIMILIVM INFIDA SOCIETAS[14] zu folgen.



