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Die Fallen, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit verbunden sind

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Wird mit der Enteignung der Reichen und selbstverwalteten Betrieben alles gut? Die Fallen, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit verbunden sind

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Politik

Die einen geniessen hohe Einkommen, bei anderen ist das Einkommen so gering, dass sie mit ihm kaum über die Runden kommen.

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Die Fallen, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit verbunden sind Foto: Mario Sixtus (CC-BY-NC-SA 2.0 cropped)

Datum 28. Dezember 2023
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Die einen leben in Villen, die anderen in Wohnungen, die minimalen Schliessfächern gleichen. Wie weit führt ein Denken, das diese Unterschiede als „ungerecht“ kritisiert?

Ungleichheit muss nicht „ungerecht“ sein

Gerechtigkeit zu befürworten heisst Willkür abzulehnen. Für Einkommensunterschiede soll es akzeptable Rechtfertigungen geben. Gerechtigkeit gilt allerdings nur den allerwenigsten als ein absoluter Wert. Die meisten setzen die Gerechtigkeit ins Verhältnis zu anderen Anliegen, die ihnen wichtig sind. Ziemlich obenan steht der Lebensstandard. Hohe Einkommen und Einkommensunterschiede gelten dem vorherrschenden Bewusstsein dann als völlig in Ordnung, wenn sie aus Leistungen resultieren, die für den durchschnittlichen Lebensstandard als förderlich erachtet werden.

Wahrhafte unternehmerisch handelnde Unternehmer und Investoren seien charakterisiert „durch die Fähigkeit, allein und voraus zu gehen, Unsicherheit und Widerstand nicht als Gegengründe zu empfinden“ (Schumpeter 1926, 128f.). Das Unternehmertum gleiche – der dominierenden Auffassung zufolge – dem „Genius des Künstlers“ oder dem „strategischen Geschick und der Entschlusskraft des Feldherrn“ (Bröckling 2007, 124). Diese Wertschätzung gipfelt im Urteil „Die Mehrheit verdankt ihren Wohlstand dem Einsatz und Ideenreichtum einer immer kleineren Minderheit“ (Miegel 1991, 28).

Spitzengehälter für Wirtschaftsführer

Die hohen Einkommen eines Managers und Unternehmers werden mit seiner Verantwortung und seinem Stress gerechtfertigt, als ob nicht auch andere Tätigkeiten mit viel Verantwortung und Stress verbunden seien. Ein weiteres Argument dafür, Manager mehr zu bezahlen, bindet die Bezahlung nicht an die Belastung, sondern an die Zahl von denjenigen, die von den Entscheidungen, den Qualifikationen und dem Geschick der Spitzenkraft abhängen.

Ethisch umstritten ist die Verknüpfung „Wer vielen dient, verdient mehr als die Person, die einem einzelnen Individuum das Leben rettet oder tagtäglich schwierige Situationen in einer Schulklasse meistert.“ Das Argument für die hohen Einkommen der Manager spricht zudem aus, dass in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die Wirtschaft am meisten zählt. Der Stress eines Spitzenpolitikers wird sich nicht von der Belastung eines Spitzenmanagers unterscheiden, die Gehälter tun dies bekanntlich deutlich.

Die Rede von einem Spitzenmanager als einem „Wirtschaftslenker“ erinnert an den Kapitän, der sein Schiff durch tosende See mit nervenaufreibendem Einsatz und letzten Kräften in den sicheren Hafen bringt. Dieses Bild passt nicht so recht zu den Bedingungen heutiger Technik und des team-works der Schiffscrew. Problematisch ist die Auffassung: Von titanenhaften Personen hängt das Wohl und Wehe des Gemeinwohls ab.

Wer diese These weiterdenkt, fragt sich: Wenn wenige Supermen so entscheidend für die Unternehmen sein sollen, dass sie derart aussergewöhnliche Gehälter und Prämien verdienen, wie lässt sich dann eigentlich eine beunruhigende Schlussfolgerung vermeiden? Sie lautet: Wir befinden uns in einer Gesellschaft, die zwar mittlerweile nicht mehr für die Politik, wohl aber für die Wirtschaft das Führerprinzip anerkannt. (Gewiss sind dafür gegenwärtig politisch „korrekte“ Ausdrücke im Umlauf.) Einen Übergang vom Liberalismus in den Faschismus sah Herbert Marcuse 1934 darin, dass „der charismatisch-autoritäre Führergedanke schon präformiert ist in der liberalistischen Feier des genialen Wirtschaftsführers, des ‚geborenen' Chefs“ (Marcuse 1968, 32). Ihm wird Übermenschliches zugeschrieben.

Wer die Legitimation von Spitzengehältern für Wirtschaftsführer infrage stellen will, wird zunächst der enormen Wertschätzung für die „Elite“ auf den Grund gehen bzw. sie einer Prüfung unterziehen. Für die Frage, ob ein Einkommensunterschied gerecht ist, muss das zu Vergleichende im Bereich des Vergleichbaren liegen. Der Massstab der Gerechtigkeit greift nicht, wenn der „normale“ Arbeitnehmer und der übermenschliche „Spitzenmanager“ als unvergleichbar gelten bzw. angenommen wird, sie spielen in ganz verschiedenen Ligen.

Motivieren nur Gehaltsunterschiede?

Der Wunsch nach Gerechtigkeit koexistiert bei vielen mit der Akzeptanz bzw. Befürwortung der Marktwirtschaft. Wer aber die Konkurrenz akzeptiert, kann nichts dagegen einwenden, dass es in ihr notwendigerweise Gewinner und Verlierer gibt. Ohne die Konkurrenz – so die zur Marktwirtschaft gehörende Annahme – sinke die Anstrengungsbereitschaft und Leistungsmotivation. Daran schliesst sich das Argument an, ohne hohe Unternehmer- und Managereinkommen drohe der wirtschaftliche Niedergang. Diese Vorstellungen tragen massiv dazu bei, spontanen Gerechtigkeitswünschen einen untergeordneten Platz zuzuweisen. Unterschätzt werden jedoch intrinsische sowie prosoziale Arbeitsmotivationen (vgl. Creydt 2023).

Die Preisbildung durch Märkte

Was die Einkommen von ‚Spitzenkräften' in der kapitalistischen Marktwirtschaft angeht, so laufen Gerechtigkeitsvorstellungen an der Preisbildung in Märkten auf. In der internationalen Konkurrenz um Spitzenmanager gehe es darum, dass „wir“ sie „uns“ nicht von Unternehmen aus anderen Ländern wegschnappen lassen. Hans-Werner Sinn, von 1999-2016 Chef des Ifo-Instituts, sagte 2007 in der TV-Sendung ‚hart aber fair': „Der Lohn wird nach Knappheit (Angebot und Nachfrage) berechnet. Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun? Wir kennen das Prinzip der Gerechtigkeit in den Marktentlohnungen nicht“ (zit. n. Gleichheit 1-2/2008, S. 26).

Notwendig wird es, eine „Prämisse in Zweifel“ zu ziehen, die von Verteidigern der Marktwirtschaft „weithin geteilt wird – dass nämlich die Ergebnisse des Marktes den wahren gesellschaftlichen Wert dessen wiedergeben, was die Menschen zum Gemeinwohl beitragen. [...] Nur ein glühender Libertärer (i. S. des US-amerikanischen Anarcholiberalen – Verf.) würde darauf beharren, dass der Beitrag des reichen Casino-Magnaten zum Gemeinwohl tausendmal mehr wert ist als der eines Kinderarztes.“ Erforderlich wird es, „dass wir Massnahmen diskutieren und durchführen, die uns dazu bringen, gezielt und demokratisch darüber nachzudenken, was als wahrhaft wertvoller Beitrag zum Gemeinwohl gilt und wo die Urteile der Märkte das Ziel verfehlen“ (Sandel 2021, 11).

Die spalterischen Effekte der Gerechtigkeitsorientierung

Faktisch sorgt der Streit um Gerechtigkeit in der Öffentlichkeit häufig dafür, dass sich verschiedene Gruppen der abhängig Beschäftigten auseinanderdividieren. Oft ist der Vorwurf zu hören, Kinderlose seien ungerechterweise materiell besser gestellt als Menschen, die Kinder aufziehen. Viele beschweren sich über die Ungerechtigkeit, die darin bestehe, dass manche nicht auf ihre Gesundheit achten oder infolge von Risikoverhalten Gesundheitsleistungen beanspruchen. Andere ereifern sich über die Pendlerpauschale. Der Vorwurf ist weit verbreitet, Gewerkschaften trieben den Preis der Ware Arbeitskraft so in die Höhe, dass sie damit Arbeitslosen den Zugang zur Arbeit versperren. Auch das sei ungerecht.

Als ungerecht gilt die Erzielung leistungslosen Einkommens. Weit verbreitet ist allerdings die Ansicht, es handele sich dabei um keine exklusive Angelegenheit von Kapitaleigentümern, sondern um ein viel umfangreicheres und zudem leider „allzu menschliches“ Phänomen. Sozialhilfeempfänger würden den Leistungskern der Gesellschaft ausbeuten, Männer Frauen (oder umgekehrt), Inländer Ausländer (oder umgekehrt) usf. „Die Versuchung, andere für sich arbeiten zu lassen, […] wird zur Massengefahr […]: Ausbeutung nicht von oben, sondern von nebenan. Nicht mehr Reiche beuten Arme aus, ist die alles dominierende Verteilungsfrage in der Wohlstandsgesellschaft, sondern möglicherweise: Die Faulen beuten die Fleissigen aus“ (Norbert Blüm, zit. n. Bischoff, Detje 1989, 114.).

Die „Gerechtigkeitsrhetorik“ zehrt von der „Unschärfe des Gerechtigkeitsbegriffs. […] Er ist moralisch geschmeidig, kann jedem Maximierungsinteresse den Anschein moralischer Berechtigung geben“ (Kersting 2003, 107). Umgekehrt lässt sich auch jede Kürzung und Zumutung als „gerecht“ legitimieren. Dafür reicht der Hinweis auf Vergleichsgruppen, die bereits Einbussen haben hinnehmen müssen.

Was die Gerechtigkeit ausblendet

Unter Berufung auf die Gerechtigkeit werden Relationen innerhalb der Konkurrenz kritisiert, nicht aber die Konkurrenz oder die dem Markt eigene Gleichgültigkeit und gegenseitige Instrumentalisierung. Wer aber die anstrebenswerte Sozialität als das tätige Interesse an der Entwicklung der Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen anderer Menschen versteht, der ist damit über die Orientierung an Gerechtigkeit als Gleichgewicht zwischen partikularen bzw. „egoistischen“ Sonderinteressen hinaus.

Nicht die Ursachen von Zumutungen sind in der Rede von Gerechtigkeit Thema, sondern die Unausgewogenheit der Opfer. Im Horizont der Gerechtigkeit werden die in der Gesellschaft existierenden Zumutungen, Opfer und Einkommen zueinander in ein bloss quantitatives Verhältnis gesetzt. Kein Thema ist der innere Zusammenhang zwischen dem, was getan wird, und dem, was das Arbeiten mit den Arbeitenden „macht“ und was die Arbeitsprodukte mit den Verbrauchern „machen“. In Gerechtigkeitskonzepten kommen die der kapitalistischen Marktwirtschaft eigenen Trennungen und Ausblendungen sowie Abstraktionen und Gegensätze nicht vor.

„Gerechtigkeit sagt nicht, was man will, sondern nur wie viel man haben möchte. [...] Gerechtigkeit ist seltsam indifferent, was Inhalte betrifft, nimmt dadurch aber keinen Schaden. Im Gegenteil, in dieser Relation des Messens liegt gerade ihre Stärke. [...] Ziel der Gerechtigkeit ist nicht die Alternative zum System, sondern die Korrektur des Quantums. Nicht die politische Ökonomie ist demnach unser Problem, sondern dass nicht alle ausreichend partizipieren dürfen. [...] Statt endlich zu sagen: ‚Wir haben genug!', sagt eins (eine betreffende Person – Verf.) ‚Wir haben nicht genug!' oder ‚Wir können gar nicht genug kriegen'. Mehr, mehr von alledem wollen wir, unbedingt. Man bleibt im Reich des Komparativs gefangen. [...] Gerechtigkeit ist der Umweg über die Empörung zur Zustimmung“ (Schandl 2020, 19-22). Das Eintreten für die Umverteilung des Reichtums unterscheidet sich von Auseinandersetzungen, in denen es um den Inhalt des Reichtums geht.

Der Stellenwert des privaten Luxus der Reichen

Es greift zu kurz, die Mehrwertproduktion als Mittel für den Saus und Braus der Reichen aufzufassen. Gewiss gibt es bei Reichen Luxuskonsum. Die Umverteilung der dafür verwendeten Finanzmittel auf die Armen würde jedoch wenig verändern. Denn den Metropolen-Kapitalismus zeichnet der Vorrang der Re-Investition von Gewinnen vor deren privater Konsumtion aus. „Die Milliardenvermögen der Flicks, Mohns und Gettys (stecken) zum allergrössten Teil in ihren Unternehmen […]. Privat leben viele von ihnen vergleichsweise bescheiden, anders als manche Pop- und Fussballstars, denen wir ihren Wohlstand meist viel weniger neiden“ (Hank 2008, 287). Kapital existiert nur, indem es sich vermehrt. Kapitalakkumulation ist Produktion von Mehrwert um der Anlage des Mehrwerts in Mehrwert produzierender Produktion willen. Die Konsumtion (ob nun der Armen oder der Reichen) bildet nicht den Zweck der kapitalistischen Produktion. Kapitalismuskritik unterscheidet sich von Kritik an Kapitalisten.

Wird mit der Enteignung der Reichen und selbstverwalteten Betrieben alles gut?

Viele Linke meinen, das Geld für umfangreiche Reformvorhaben (z. B. gemeinnütziger Wohnungsbau, ein gutes Schul- und Gesundheitswesen) sei doch vorhanden. Er liege nur gegenwärtig an der falschen Stelle – bei „den Reichen“. Für den privat konsumierten Reichtum gilt vielleicht die Vorstellung: „Mit den Reichtümern ist es wie mit dem Mist: sie stinken, wenn man sie auf einen Haufen wirft, während sie auseinandergestreut den Boden düngen“ (Tolstoi). Nur mit genau diesem grossen „Haufen“ an Reichtum aber lassen sich die für die moderne Produktion notwendigen teuren Materialien, Maschinen und Gebäude finanzieren. Sie bilden die Voraussetzung dafür, dass Arbeitskräfte produktiv sind im Produzieren von Mehrwert. Einfach umzuverteilen ist nur der privat konsumierte Reichtum. Wer dessen stärkere Besteuerung vorschlägt, gibt noch keine Antwort auf die Frage, wie es möglich sein soll, ein Wirtschaftssystem ohne Privateigentum, Konkurrenz und den Zwang zur Kapitalverwertung zu organisieren.

Stellen wir uns vor, die Kapitalisten sind enteignet von ihren Produktionsmitteln. Nehmen wir an, letztere sind nun im kollektiven Besitz der jeweiligen Belegschaft. Stellen wir uns also einen „Selbstverwaltungssozialismus“ im Unterschied zu einem „Staatssozialismus“ vor. In einer Marktwirtschaft enthalten jedoch selbst Betriebe, die im Eigentum ihrer Belegschaften sind, einen Kapital-Arbeit-Gegensatz. Will eine Belegschaft mit „ihrem“ selbstverwalteten Betrieb nicht untergehen, muss sie den Standpunkt des Betriebskapitals einnehmen, das sich nur durch Erfolg in der Konkurrenz mit anderen Kapitalen um die bessere Verwertung erhalten kann.

Dieses Erfordernis haben diejenigen, die „ihren“ Betrieb in der Marktwirtschaft selbst verwalten, im Zweifelsfall auch gegen ihre Interessen an höherem Lohn oder an besseren Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die sich selbst verwaltende Belegschaft kann „Chefs“ nur abschaffen, indem sie selbst deren Funktion übernimmt. Auch in selbstverwalteten Betrieben werden, „sobald der Markt zum ökonomischen ‚Zuchtmeister' oder ‚Regulator' wird“, „vertikale Klassenbeziehungen neu entstehen“. „Ebenso wie die Marktimperative die unmittelbaren Produzenten in der Frühzeit des Kapitalismus expropriiert (enteignet – Verf.) haben, könnten sie im ‚Marktsozialismus' eine gleichartige Wirkung haben“ (Wood 1999, 14f.). Und es bleibt bei einer Ökonomie, in der höchst zweifelhafte Produkte produziert werden, nur damit Gewinn entsteht und „die Wirtschaft“ nicht ins Stocken gerät (vgl. Creydt 2021). Die entscheidende Frage ist dann nicht, welche Produkte und Dienstleistungen für die menschlichen Vermögen förderlich sind, sondern ob erstere dazu beitragen, dass „die Wirtschaft läuft“.

Die Verselbständigung des abstrakten Reichtums gegen alle Wirtschaftsakteure

Manche meinen: „Die Unternehmer sowie die Reichen haben das Sagen und nicht die Bevölkerung. Das ist ungerecht.“ Faktisch bleiben jedoch die Unternehmer und die Reichen von Konstellationen der Konjunktur und der Krise abhängig. Auch für die Kapitalisten gilt, dass der kapitalistische Reichtum sich gegenüber ihrem Willen verselbständigt, sie also nicht der Souverän dieses Reichtums sind. Viele Linke personalisieren und versubjektivieren. Statt von den Zwängen der Kapitalverwertung reden sie dann von einer autonomen Verfügungsgewalt.

„Das Kapital“ ist zwar Herr im Betrieb – von allen Widersetzlichkeiten der Arbeitenden hier einmal abgesehen. Die Kapitalisten können aber weder individuell noch als Klasse die Bedingungen der Kapitalverwertung hinreichend steuern. Wer sich auf die Enteignung der Kapitalisten fokussiert und fixiert, hat noch keine Antwort auf die Frage: Wie lässt sich die Verselbständigung des (auch deshalb) als „abstrakt“ bezeichneten Reichtums gegen alle Akteure im Kapitalismus überwinden? Viele regressive linke Agitation und Propaganda will von diesen Problemen nichts wissen (vgl. Creydt 2019). Gerechtigkeitskonzepte können den Zwang zur Kapitalakkumulation nicht aushebeln.

Die Unternehmer und die Kapitaleigentümer haben nicht Macht über das Kapital, sondern sind mächtig als Funktionäre eines ökonomischen Systems. Diese Macht währt solange, wie es keine Alternative zum Kapitalismus zu geben scheint. Die Reichen stehen „von einer anderen Seite ganz ebenso sehr unter der Knechtschaft des Kapitalverhältnisses“ wie die Arbeiter (Marx 1969, 18). Auch die Kapitalisten unterliegen dem „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (MEW 23, 765).

Gewiss vermag es die Kapitalseite leichter, ihre Interessen durchzusetzen, als die Lohnabhängigen. Aus dieser Feststellung folgt aber noch kein hinreichendes Verständnis von „Macht“ in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Macht zu haben, steht per definitionem im Kontrast zum Befolgen von Zwängen. Unternehmen müssen den Zwängen folgen, die sich aus der Kapitalverwertung ergeben. Ein grosses Unternehmen will bspw. ein Werk schliessen oder realisiert angekündigte Erweiterungsinvestitionen nicht. Gewerkschafter und Lokalpolitiker tun dann gern so, als ob das Unternehmen hätte auch so entscheiden können, wie es für die Lohnabhängigen oder die betroffene Gemeinde besser gewesen wäre. Der hier interessiert bemühte Idealismus des freien Willens übergeht aber die kapitalistische Rationalität, in der Gewinnaussichten entscheiden. Die Unternehmensleitung ist dieser Rationalität unterworfen und hat nur in ihrem Rahmen Macht.

Bei der Akkumulation von Kapital handelt es sich um einen selbstbezüglichen und sich notwendig unendlich fortsetzenden Prozess ohne äusseren Zweck. Dieser Prozess weist kein Subjekt auf, für den das Kapital das Mittel wäre. Was aus diesem Prozess an die Kapitaleigentümer für deren private Konsumtion abfällt, stellt einen Nebeneffekt eines anderen Imperativen gehorchenden Prozesses dar. Das Motiv der Teilnahme von Kapitalisten am Prozess der Kapitalverwertung und die Ursachen für den Drang der Kapitale, immer weiter zu akkumulieren, sind zweierlei.

Die Kapitalakkumulation geschieht nicht aus der Ursache, dass Kapitalisten an ihr interessiert sind, gleichwohl sie in ihrem Interesse liegt, sondern bildet eine Bewegungsform für Widersprüche der Mehrwertproduktion: Die Steigerung der Produktivkraft verringert den Anteil von lebendiger Arbeit (an den Gesamtauf-wendungen für die Produktion). Dies führt zum Fall der Profitrate. Dem kann das Kapital nur entgehen durch Zunahme der Profitmasse. Die Nachfrage nach Arbeit müsste absolut zunehmen, weil sie relativ sinkt. „Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äussern Feldes der Produktion“ (MEW 24, 255).

Im Unterschied zum Feudalismus herrscht in der bürgerlichen Gesellschaft die Trennung zwischen Sache und Person. Das Recht schützt nun die freie Beweglichkeit der Sachen und der Kapitale. „Freiheit i. S. der ‚Unabhängigkeit vom Willen eines anderen' […] (hat die) Funktion, dass der Besitz frei ist, sich dem Wirken des Wertgesetzes anzupassen (verkauft zu werden, so oder so ‚angelegt' zu werden)“ (Blanke, Jürgens, Kastendiek 1975, 426). Kapital soll sich von seinem Besitzer trennen können, wenn es von ihm suboptimal verwertet wird.

In der bürgerlichen Gesellschaft darf zwar – im Unterschied z. B. zur gegenwärtigen VR China – Kapitaleigentum nicht entschädigungslos enteignet werden, wenn die herrschende Parteiführung es will. Geht das Unternehmen des Kapitaleigners aber pleite, wird er rechtlich nicht davor geschützt, dass die Produktionsmittel, die er besitzt, in die Hände eines anderen Kapitals übergehen, das mit der Konkursmasse etwas Profitableres anzufangen vermag. Insofern hat die Gleichgültigkeit des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der konkreten Person auch einen ganz nüchternen Sinn.

Schluss

Fraglich ist, ob die Person, die die grossen Einkommens- und Besitzunterschiede ablehnt, sich einen Gefallen tut, wenn sie sich auf die Gerechtigkeit beruft. Warum reicht nicht das Argument „Gravierende materielle Ungleichheiten schaden den sozialen Beziehungen und der Lebensqualität?“ Die Aufmerksamkeit für als ungerecht erscheinende Relationen zwischen Leistungen und Einkommen mag ein Einstieg sein, sich gründlicher mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Häufig verbleibt dieses Nachdenken jedoch im Horizont der mit dem Gerechtigkeitsthema anscheinend nicht nur äusserlich verbundenen Ideologien.

Meinhard Creydt

Literatur:

Bischoff, Jürgen; Detje, Richard 1989: Massengesellschaft und Individualität. Hamburg
Blanke, Bernhard; Jürgens, Ulrich, Kastendiek, Hans 1975: Kritik der Politischen Wissenschaft. Frankfurt M.
Bröckling, Ulrich 2007: Das unternehmerische Selbst. Frankfurt M.
Creydt, Meinhard 2019: Krysmanskis Geschichten von tausend und einer Jacht. Zentrale Fehler regressiver Kapitalismuskritik. In: Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft, August https://www.meinhard-creydt.de/archives/851
Creydt, Meinhard 2021: Glanz und Ramsch – Der Überfluss an problematischen Produkten und Dienstleistungen. In: Junge Welt, 23. 12. 2021, S. 12f. https://www.meinhard-creydt.de/archives/1359
Creydt, Meinhard 2023: Die Antriebe für wirtschaftliche Aktivitäten in einer Gesellschaft des guten Lebens. In: Junge Welt, 26.1. 2023 https://www.meinhard-creydt/de/archives/1554
Hank, Rainer (Hg.) 2008: Was Sie schon immer über Wirtschaft wissen wollten. Frankfurt M.
Kersting, Wolfgang 2003: Gerechtigkeit: Die Selbstverewigung des egalitaristischen Sozialstaats. In: Stephan Lessenich (Hg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt M.
Marcuse, Herbert 1968: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung. In: Ders.: Kultur und Gesellschaft, Bd. 1. Frankfurt M.
Marx, Karl 1969: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Frankfurt M.
MEW: Karl Marx, Friedrich Engels Werke. Berlin (DDR) 1956 ff.
Miegel, Meinhard 1991: Leistung lohnt sich nicht. In: Die Zeit Nr. 12, S. 28
Sandel, Michael J. 2021: Arbeit, Anerkennung und Gemeinwohl. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 13/14
Schandl, Franz 2020: Im Tümpel der Gerechtigkeit. In: Streifzüge, Nr. 78. Wien
Schumpeter, Joseph 1926: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. München, Leipzig
Wood, Ellen M. 1999: Die Politik des Kapitalismus. In: Dies., John B. Foster: Transformation des Kapitalismus. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 12/99. Hamburg