Warum ausgerechnet Til Schweiger als anarchistischer Geist herumspuken kann Rage against the machine

Politik

Erst kritzelte ich es ins Schulheft, aufs Mäppchen und den Radiergummi. Dann wollte ich meine Umgebung an meiner Freude teilhaben lassen und malte es auf Schulbänke, ebenso wie auf meine Klamotten.

Rage against the machine.
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Rage against the machine. Foto: A Syn (CC BY-SA 2.0 cropped)

6. September 2016
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Doch das war noch nicht der ultimative Kick, ich wollte die ganze Welt beglücken. Und so sprayte ich es hundertfach auf Betonwände, Bullenautos oder Schaufensterscheiben, also auf Dinge, die symbolhaft für alles standen, was mir verhasst war: triste Spiesserhöllen, den repressiven Staat und kapitalistischen Konsumterror.

Die Rede ist vom A[1], dem Anarcho-A.[2] Wo genau ich es zum ersten Mal sah, weiss ich nicht mehr ganz genau. Höchstwahrscheinlich war es im Frühjahr 1980 in einem Zeitungsbericht über die Züricher Hausbesetzerbewegung. Deren militante Aktionen gegen die Räumung eines Autonomen Jugendzentrums füllten die Schlagzeilen der Presse. Auf Anhieb war ich Feuer und Flamme für die Bewegung und ihren gerechten Kampf gegen Bullen und Bonzen. Ihre Symbole wie das A im Kreis, den schwarzen Fünfzackstern und die schwarze Fahne machte ich mir rasch zu eigen.

Zu dieser Zeit lag eine ungeheure Aufbruchstimmung in der Luft. Nicht nur aus Zürich, auch aus dem nahe gelegenen Freiburg oder aus Berlin kamen fast täglich Meldungen von besetzten Häusern, von Scharmützeln mit den Cops, von Scherbendemos nach Räumungen und vielem mehr. Ein erster Höhepunkt, der meine politische Sozialisation nachhaltig prägen sollte, waren die heftigen Auseinandersetzungen um das besetzte Gebäude-?ensemble im Freiburger Dreisameck. Mit meinen 15 Jahren war ich damals zu jung, um vor Ort auf den Barrikaden zu sein. Doch ich verfolgte die Geschehnisse mit grösster Aufmerksamkeit in der Lokalzeitung, empörte mich über die Ungerechtigkeit und Brutalität der Staatsmacht und fieberte mit den BesetzerInnen mit. Fortan war auch ich, was sie waren: Anarchist.

Im Laufe der Jahre fand ich in meiner kleinstädtisch-ländlichen Umgebung zu erstaunlich vielen Gleichgesinnten. Wir lasen die KlassikerInnen des Anarchismus wie Michail Bakunin, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Emma Goldman.[3]

Besonders eindrücklich war die Autobiographie[4] eines Anarchosyndikalisten mit dem schönen Namen Rudolf Rocker, die klar machte, dass auch früher schon einige Leute ziemlich gut drauf gewesen waren. George Orwells Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg, insbesondere über die von KommunistInnen an AnarchistInnen begangenen Scheusslichkeiten, half ebenfalls bei der Positionierung: Mit dem Kommunismus sowjetischer Prägung, mit seinem Staatsfetischismus und der ihm innewohnenden Gewalt gegen Andersdenkende wollten wir nichts zu tun haben. Die DKPistInnen, mit denen wir bei den Aktionen der Friedensbewegung konfrontiert waren, fanden wir spiessig, bürokratisch und schon aus ästhetischen Gründen abzulehnen. Geradezu lächerlich erschienen uns die beflissenen SDAJlerInnen, wenn sie uns wie die Wachtturm-VerkäuferInnen ihre Polit-Bravo andienten: »Habt ihr schon das neue Elan?«[5]

Die anarchistische Aufbruchstimmung, die damals in ganz Westeuropa in der Luft lag, transferierte sich in die Entstehung einer grossen autonomen Szene. Sie war ab Anfang der achtziger Jahre eine wichtige Strömung des Linksradikalismus, wenn nicht sogar hegemonial. Bei allen grossen Auseinandersetzungen der Achtziger um die Themen Anti-AKW, Antikapitalismus, Antifa, Internationalismus, Häuserkampf oder Startbahn West prägten Autonome nicht nur die Bewegungen, sondern auch deren mediales Bild. Nicht immer stellten sie ihre anarchistische Haltung explizit heraus, doch war sie zumindest in zweiter Linie immer präsent. Anders als die K-Gruppen der siebziger Jahre verfügten Autonome nicht über eine stringente ideologische Grundausrichtung, die an KlassikerInnen wie Marx oder Mao, an Lenin oder Luxemburg anknüpfte.

Doch die anarchistische Utopie von einer herrschaftsfreien Gesellschaft und die radikale Ablehnung alles Staatlichen und Nationalen war ein einigendes Band, das erstaunlich tragfähig war. Bemerkenswert ist im Rückblick, dass es kein einziges Buch (im Sinne einer Mao-Bibel) und keine Leitfiguren gab, die den Ton angaben. Die Szene hatte zwar ihre historischen Vorbilder und aktuellen StichwortgeberInnen, reagierte aber allergisch auf Versuche, Autonomie und Anarchie in irgendeiner Form zu kanonisieren. Die daraus resultierende Diffusität hatte ihre Vorteile, sie öffnete den Raum für unterschiedliche politische Entwürfe: Alle können ihr Ding machen.

Der anarchistische Impetus war aber nicht diffus genug, um nicht doch ein Statement gegen die Althippieszene zu sein; deren Festhalten am »Spirit von Woodstock« hatte sich als erzkonservativ erwiesen. Die Lust an der Anarchie richtete sich von Beginn an auch gegen die linksbürgerliche Saturiertheit, die Biogemüse schätzt, weil es besser schmeckt, und gegen die Biederkeit der 1979 gegründeten Grünen, bei denen aus anarchistischer Sicht von vornherein klar war, wohin die Reise geht: In den Schoss des Staates und seiner Vorfeldorganisationen. Aus heutiger, sowohl biographisch als auch ideologiekritisch abgeklärter Sicht liesse sich das Faible für den Anarchismus und seine Symbole leicht als jugendliche Schwärmerei abtun. Das wird der Sache jedoch nicht gerecht.

Sicherlich gibt es viel berechtigte Kritik am Anarchismus und seinen AnhängerInnen, beispielsweise mangelnde Theoriebildung, Abneigung gegen alles Intellektuelle und Abstrakte, das als »Hirnwichserei« denunziert wird, kein Bewusstsein für die Fallstricke eigener Ideologiebildung und daher Absenz jeder Form von selbstreflexiver Ideologiekritik, Fetisch der direkten Aktion und der Unmittelbarkeit, Selbstverständnis als Avantgarde linksradikaler Dissidenz inklusive Arroganz gegenüber allen bürgerlichen und linken »Spiessern«, Verzicht auf verbindliche Organisierung und deshalb Fetisch des Voluntarismus, Selbstinfantilisierung, wie sie etwa durch die penetrante Aneignung von Kinderfiguren wie Pippi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter zum Ausdruck kommt.

Was der Anarchismus mit den meisten linken Strömungen zudem gemein hat, ist seine Ignoranz gegenüber dem Nationalsozialismus, dessen Vernichtungspolitik, der Shoah und der massenhaften, keinesfalls durchgängig erzwungenen Beteiligung des einfachen deutschen »Volkes« an all dem. Die Tatsache, dass viele deutsche, spanische und italienische AnarchistInnen in Konzentrationslagern inhaftiert waren und einige von ihnen darin ermordet wurden (wie auch Erich Mühsam), scheint Grund genug gewesen zu sein, sich gegen jede umfassende Befassung mit dem NS zu immunisieren. Wenn er überhaupt Thema war, wurde den üblichen Faschismustheorien à la Dimitroff gefolgt; mit den ParteikommunistInnen teilten AnarchistInnen ihren Unwillen, den Antisemitismus und die spezifisch deutsche Vergesellschaftung zum Mordkollektiv überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen. Antifaschismus erschöpfte sich darin, gegen Nazis zu demonstrieren.

Es ist auch kein Zufall, dass AnarchistInnen von allen Kritischen Theoretikern allenfalls den Sozialrevolutionär Herbert Marcuse und den Gefühlsromantiker Erich Fromm rezipierten, während Adorno und Horkheimer keine Rolle spielten. Das hat nur zum Teil damit zu tun, dass ersterer sich entschieden dagegen verwahrt hätte, mit dem A im Kreis geschrieben zu werden.

Bei aller Kritik, die es am Anarchismus als einer politischen Strömung der Linken und am identitären Szenegehabe[6] seiner AnhängerInnen gibt: Der anarchistische Aufbruch war bei ziemlich vielen Leuten verdammt ernst gemeint. Er hatte ernsthafte, langfristige Konsequenzen für das eigene Leben in einer Gesellschaft, die man in fast all ihren Ausprägungen radikal ablehnte. Anarchie war nicht allein eine politische Einstellung, ein Glaubensbekenntnis oder eine Parteizugehörigkeit – alles Dinge, denen man neben einem bürgerlichen Beruf und einem normalen Familienleben nachgehen und die man ganz schnell und spurenlos hinter sich lassen kann, wenn man es möchte. Der Versuch, Anarchie zu leben, umfasste jeglichen Aspekt des eigenen Lebens und fand seinen Ausdruck in einem konsequenten Lebensstil. Anarchie war nichts, was man durch Styling, das Kaufen eines Outfits oder eine Mitgliedschaft in einer Organisation erreichen konnte.

Es ist aus heutiger Sicht schwer, das anarchistische Lebensgefühl in Worte zu fassen, die nicht arg soziologisch und ergo dröge klingen. Ganz gut gelingt dies Gerhard Frey, der in den achtziger Jahren in der Freiburger Szene aktiv war: »Das allgemeine Credo war: ›Wir scheissen auf das bürgerliche Leben. Wir wollen ein anderes. Wir wollen intensiv leben. Jetzt sofort. Wir wollen Feste feiern, Spass haben am Leben. Wir wollen nicht nur darauf schauen, dass wir später mordsmässig viel Kohle verdienen.

Wir haben keine Lust, uns Gedanken zu machen, ob wir jetzt 75 oder 95 Jahre alt werden. Wir wollen die Gesellschaft verändern. Wir wollen eine Gesellschaft, die gerechter ist, die niemanden ausgrenzt; in der Geld und materielle Güter keine Rolle spielen. Unsere Eltern haben in den 1950er Jahren dieses scheissbürgerliche Leben gelebt. Sie haben Geld gespart und Häusle gebaut; und hinterher gejammert, dass alles an ihnen vorbei gegangen sei. Dieser Lebensentwurf ging uns am Arsch vorbei. Wir wollten versuchen, ob es nicht auch anders geht. Das war unser Lebensgefühl. Damals haben eine ganze Reihe von Leuten gebrochen mit ihrer beruflichen Laufbahn. Einfach, weil dieses Credo nicht vereinbar war mit morgens früh aufstehen und einen geregelten Beruf erlernen oder ausüben.‹«[7]

Eine Annäherung an den anarchistischen Geist dieser Zeit lässt sich auch indirekt herstellen, etwa durch Berichte von professionellen Widersachern. Nehmen wir zum Beispiel Rolf Schlotterer, einem Kriminaloberkommissar im Dezernat Linksterrorismus. Er wurde 1981 nach Freiburg geschickt, um die Szene der HausbesetzerInnen zu beobachten. Wenn er viele Jahre später in einer Mischung aus Schaudern und nachträglichem Amüsement dem Freiburger Onlinemagazin fudder berichtet, was er damals erlebte, trifft er die Sache ganz gut: »Tagsüber gab es das so genannte Organisierte Einkaufen: 40 Leute stürmen in ein Kaufhaus, die Hälfte davon auf Rollschuhen; die Rollschuhfahrer machen ein Riesentheater, produzieren Krach mit Trommeln, Radios, Trompeten und Blechdosen. Die Krachmacher erwecken die Aufmerksamkeit der Kunden.

Während sie also mit ihren Rollschuhen um die Stände rumdüsen, kommt eine zweite Klientel, ohne Rollschuhe, und räumt die Regale ab, stopft das Diebesgut in Tüten und dann verlässt der ganze 40-Mann-Tross den Laden. So hat man eingekauft.[8]

«Die seinerzeitigen militanten Auseinandersetzungen mit staatlichen Autoritäten verliefen oft heftig und schmerzhaft. Nicht selten waren sie aber ziemlich gewitzt – anders als die todernsten Aktionen der Antiimps von RAF und Revolutionären Zellen. Lauschen wir erneut dem Kriminaloberkommissar Schlotterer, wenn er davon berichtet, wie die Anarchos den Staatsapparat in einer Weise lächerlich machten, als seien sie einem Comic von Gerhard Seyfried[9] entsprungen: »Befehle über Funk wurden im Original aufgenommen und dann, bei späteren Einsätzen, als Störfeuer eingespielt, um gegenteilige Aktionen zu bewirken. Das hat zu grotesken Situationen geführt, etwa wenn der Polizeiführer seine eigenen Befehle zurücknehmen musste: ›Mein Befehl von vorhin ist gefälscht, der Befehl, den ich jetzt gebe, ist richtig!‹ Und auch das hat die Gegenseite aufgenommen und später wieder abgespielt, was zur völligen Verwirrung der Polizeibeamten beigetragen hat.«

Die im Lebensalltag vollzogene radikale Ablehnung aller staatlichen und religiösen Autoritäten (»ni maitre ni dieu«) durch zigtausende junge Leute allein in Westdeutschland [10] strahlte auf andere linke soziale Bewegungen aus; zeitweise sogar bis ins linksliberale Feuilleton. Das ist heute Geschichte. Paradoxerweise setzte der Niedergang des Staatssozialismus ab 1989 auch eine Erosion von jenen linksradikalen Bewegungen und Lebensentwürfen in Gang, die sich nicht nur nicht positiv auf ihn bezogen hatten, sondern ihn sogar mehr oder minder offen abgelehnt hatten.[11]

Auf den zweiten Blick ist das allerdings nicht mehr paradox: Denn es war weniger der Abgang des Staatssozialismus als der damit einhergehende triumphalistische Siegeszug kapitalistischer Verhältnisse samt ihrer ideologischen Bewusstseinsapparate, der jede sozialistische, kommunistische und antiimperialistische Radikalopposition in die Defensive drängte. Davon mitbetroffen war auch der explizit anarchistische Flügel der Autonomen, der zwar nur bedingt dem klassischen Antiimperialismus frönte, sich aber fortan zu einem Abwehrkampf gegen Grossdeutschland und dessen Rassismus gezwungen sah.

Der verstärkt einsetzende neoliberale »Klassenkampf von oben« und zielgenauere staatliche Repression verschlechterten zudem materiell die Bedingungen für ein Leben jenseits von Anpassungszwängen. Es gibt aber auch selbst gemachte Gründe, warum der Anarchismus an Attraktivität verlor: Auf Dauer war sein intellektuelles Angebot dürftig. Weder die Klassiker noch neuere Versuche anarchistischer Theoriebildung waren sonderlich gehaltvoll. Anfang der neunziger Jahre setzt daher bei vielen anarchistischen Linken eine Orientierung an anderen Strömungen ein. Um nur die wichtigsten zu nennen: Wertkritik, Kritische Theorie, Marx-Relektüre jenseits vom Marxismus-Leninismus, Poststrukturalismus, Gender- und Queer-Theory und Postkolonialismus.

Am Bedeutungsverlust des Anarchismus hat sich bis heute nicht viel geändert. Occupy und die weltweite »Besetzt die Plätze«-Bewegung mögen partiell von ihm inspiriert sein, wie ihr universitärer Promi-Ideologe David Graeber nicht müde wird zu verkünden. Doch im Grunde ähneln nur die Diffusität von Organisationsformen und politischen Forderungen den anarchistischen Prinzipien. Alle können ihr Ding machen, die VerschwörungstheoretikerInnen genauso wie jene, die sich um aufgeklärte Kapitalismuskritik bemühen.

And now for something (not so) completely different [12]: Solange der ziemlich unversöhnliche Antagonismus des Anarchismus und die Bereitschaft vieler AnarchistInnen zur Militanz eine allgemein wahrnehmbare Wirkungsmächtigkeit bei politischem Protest innehatten, war die kulturindustrielle Aneignung anarchistischer Symbolik schwach ausgeprägt. Eine Szene, die der gesellschaftlichen Mehrheit ein perfektes und durchaus gewolltes Feindbild präsentiert (»Chaoten!«), taugt nun mal nicht zu massenhafter Identifikation, und schon gar nicht als Werbeträgerin. Es war daher jahrzehntelang subkulturindustriellen Nischen vorbehalten, die schwarze Fahne der Anarchie hochzuhalten.

In den USA und Grossbritannien waren das Bands wie Black Flag, Dead Kennedys, Crass oder die frühen Chumbawamba. Ihnen folgten unzählige Punk-, Hardcore- und Crossover-Bands. Sie alle waren vom radikalen anarchistischen Gestus und von der Wut auf die Verhältnisse fasziniert und setzten dies musikalisch um: »Rage against the machine« lautet nicht von ungefähr der Name einer der bekanntesten Bands aus dieser Szene. In Westdeutschland wurde die rote und die schwarze Front von Ton Steine Scherben angeführt, gefolgt von lauwarmen Epigonen wie der Anarchorockband Schroeder Roadshow[13] und der Folkrockband Cochise [14].

Linker Kitsch ist keine alleinige Domäne des Anarchismus, aber auch er hat Leichen im Keller: etwa die US-amerikanischen Anarchisten Sacco und Vancetti, deren Hinrichtung im Jahr 1927 nicht etwa Anlass zur Reflektion über den Gewaltcharakter staatlicher Herrschaft und die Ohnmacht radikaler Opposition gab, sondern zum wehmütigen Schwelgen über den Schmerz, den die zu Märtyrern verklärten Arbeiter auf sich nahmen. Seinen akustischen Ausdruck findet dies in der klebrigen Hymne Here's to you des Ohrwurmkomponisten Ennio Morricone.[15]

Joan Baez lieferte dazu den passenden Text. Er überhöht die grausame Hinrichtung zum erbaulichen Erweckungserlebnis (was, wie sollte es anders sein, in der deutschen Übersetzung besonders eklig klingt): »Auf Euer Leben, Nicola und Bart; bleibt für immer in unserem Herz. Der letzte und endgültige Augenblick ist Eurer; dieser Todeskampf ist Euer Triumph!«

Im Zuge des Bedeutungsverlustes von radikaler Opposition hat der Mainstream seine Berührungsängste zum A-Wort verloren. Die Werbewelt kokettiert ohnehin schon seit einiger Zeit schwer mit der Ironie. Wenn der Duftwasserhersteller AXE sein Eau de Toilette Anarchy for Him mit den Worten anpreist: »Der männliche Duft von edlem Zedernholz und feinem Lavendel ist so aufregend verführerisch, dass Chaos garantiert ist«, dann ist ihm das Amüsement des gepflegten jungmännlichen Spiessers sicher.[16]

Und wenn Kabel 1 die Serie Sons of Anarchy zeigt, delektiert sich das Publikum an Bandenwesen, sexualisierter Gewalt und anderen Ausprägungen eines Faustrechts des Stärkeren – was freilich mit Anarchie so viel zu tun hat wie der Mitgrölrock der sozialdemokratischen Toten Hosen mit Punkrock: rein gar nichts. Eine auf ihre Weise typisch deutsche Komödie trifft den anarchistischen Geist da besser: Im nostalgischen HausbesetzerInnen-Spielfilm Was tun, wenn's brennt spielt Dumpfbacke Til Schweiger die Rolle seines Lebens; als ein aus der Zeit gefallener, nöliger Altautonomer wirkt er erschreckend überzeugend.

Die heutige anarchistische Szene mag noch so sehr dem DIY-Gedanken[17] frönen, sie hat keine Chance gegen den diskreten Charme der Warengesellschaft, der vor der Anarchie nicht halt gemacht hat. Bei Amazon bietet der Onlineshop Flaggenfritze Anarchofahnen zum Schnäppchenpreis von 9,95 Euro an und appelliert dabei ungerührt ans Qualitätsbewusstsein der aufgeklärten KonsumentInnen: »Wir geben uns nicht mit Billigprodukten aus China zufrieden«. Auf www.punk.de kann für 3,99 Euro eine Halskette mit dem A-Zeichen bestellt werden und dazu »ein Paar zuckersüsse schwarz-rote Anarchostern-Ohrringe, nickelfrei!«, für nur 2,49 Euro.

Autsch, es ist nicht leicht, heute AnarchistIn zu sein. Das ist allerdings erst recht ein Grund, das A wieder überall hinzukritzeln.

Christoph Bengel
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 50
www.phase-zwei.org

Der Autor ist Redakteur der Zeitschrift iz3w in Freiburg und hat aus Verzweiflung übers deutsche Parteienwesen schon so manchen Wahlzettel mit dem A im Kreis verziert.

Fussnoten:

[1] Das A im O soll laut Anarchopedia »anarchistische Organisation« heissen. Schöner ist, was dort der schwarzen Fahne nachgesagt wird: Sie sei »die Negation aller Flaggen« und die »Verneinung des Nationalismus«.

[2] Anarchismus ist verglichen mit Kommunismus und Sozialdemokratie eine Randnotiz in der Geschichte der Linken, allemal der deutschen. Als politische Ideologie ist er ebenso sprunghaft wie bruchstückhaft. Deshalb muss ein Text über ihn zugunsten der Kongruenz von Form und Inhalt zwangsläufig viele Fussnoten und Gedankensprünge haben. Zum guten anarchistischen Ton gehört es ausserdem, die Vorgaben von Redaktionen souverän zu übergehen. Keine Macht, tatatataaaa, für niemand!

[3] Goldmann ist eine der ganz wenigen Frauen, die als WegbereiterInnen des Anarchismus gelten, und sie ist bei weitem nicht so bedeutend geworden für die Bewegung wie es Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin für den Parteikommunismus sind. So viel Zugeständnis an die Kommies muss sein.

[4] Erschienen unter dem Titel Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten im Suhrkamp-Verlag. Dass einer der wichtigsten Verlage der deutschen Intelligenzia dieses Buch ins Programm aufnahm, spricht Bände über die zeitweilige Attraktivität des Anarchismus und seine Ausstrahlungskraft bis in linksliberale Kreise hinein. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch Hans-Magnus Enzensbergers Suhrkamp-Buch Der kurze Sommer der Anarchie über den Spanischen Bürgerkrieg.

[5] Einer, mit dem uns antimilitaristische Anarchos nur ein sehr brüchiger Minimalkonsens gegen Pershing 2-Raketen einte, war jener SDAJ-Apparatschick, der heute als Geschäftsführer der jungen welt seinem autoritären Verständnis von Kommunismus frönt.

[6] Zu nennen sind die rigiden Dresscodes (schwarze, abgerissene Klamotten, Hoodies, anfangs auch Lederklamotten), das immergleiche Bodystyling (bunte, rasierte Haare oder Dreads, Piercings, Tattoos) sowie eng gefasste Musikstile (Punk, Hardcore, gelegentlich auch Folk, Reggae, Hip-Hop). Sie allesamt dienen der Exklusion aller Andersseiender – was auch den weitgehend biodeutschen Charakter der Bewegung erklärt.

[7] Zitiert nach einem Text von Frey auf dem »Freiburger Onlineportal für Junge und Junggebliebene« Fudder.de, in dem er jüngeren Generationen den anarchistischen Geist der achtziger Jahre zu erklären versucht. Das gelingt ihm so gut, dass man kaum glauben mag, wie sehr Frey heute als grüner Realo im Freiburger Stadtrat die Ideale seiner Jugend mit Füssen tritt. Allerdings ist er damit eher eine Ausnahme. Während ehemalige K-GrüpplerInnen heute zu hunderten im erweiterten Staatsapparat sitzen oder in bürgerlichen Medien den Ton angeben, trifft dies bei früheren AnarchistInnen und Autonomen vergleichsweise selten zu. Die Kritik der Macht hat ihre Spuren in den Köpfen hinterlassen.

[8] Hier und im Folgenden: Schwarzwaldhof '81: Ein Kommissar erinnert sich. In: Fudder, 15.11.2007, http://0cn.de/w71z.

[9] Die Comics von Gerhard Seyfried mit ihrer anarchistisch-infantilen Bullenverarsche (»Pop! Stolizei!«) und Cannabisverherrlichung waren damals omnipräsent. Mittlerweile hat Seyfried sich aufs Schreiben bemühter historischer Romane verlegt.

[10] In anderen west- und in südeuropäischen Ländern war die anarchistische Szene mindestens genauso aktiv. Dort war sie schon aus historischen Gründen tiefer in der Linken verankert als im obrigkeitsgläubigen Deutschland.

[11] Unsere Sympathien galten in den Achtzigern den TramperInnen, Hippies, Punks und Anarchos aus der DDR. Einige von ihnen hatten rübergemacht oder waren gegangen worden, und was sie vom Realsoz erzählten, klang gar nicht gut. Der Niedergang von SU und DDR löste daher zunächst eine gewisse Freude aus. Dumm nur, dass sich ähnliches im Westen nicht ereignete … Spätestens ab Anfang 1990 setzte auch in der anarchistischen Szene grosse Ernüchterung ein und es begann ein bis heute anhaltender Kampf gegen das wiedervereinigte Deutschland. Antideutsche und AnarchistInnen mögen ansonsten wenig gemein haben, doch die Wut und der Hass auf Deutschland sind vergleichbar gross.

[12] Diese kleine Reminiszenz an den ziemlich anarchistischen Humor der britischen Komikertruppe Monty Python eignet sich ganz gut, um einen holprigen Übergang zu kaschieren.

[13] Mit ihrer Platte Anarchie in Germoney landete Schroeder Road Show 1979 einen Verkaufserfolg. Die Band trat sogar im ARD-Rockpalast auf.

[14] Einer der grössten Szenehits von Cochise war Jetzt oder nie – Anarchie! Die Eingängigkeit der Melodie korrespondiert mit der Plattheit der gesungenen Parolen: »wir brauchen keine bullen, die uns prügeln, wir brauchen keine gesetze, die uns zügeln, wir wollen keine städte, in denen wir ersticken, wir brauchen keine bürger, die reichen fiesen dicken«.

[15] Jede Wette: Diese Melodie hat jedeR schon mal gehört und sei es in einer der tausenden Cover-Versionen, etwa von Nana Mouskouri, Franz-Josef Degenhardt oder der Punkband Normahl. Am meisten zu Herzen geht die Fassung von Schmusebarde Georges Moustaki: »Vous dormez au fonds de nos coeurs.« [16] Wenn sie es ernst meinten, röche das Zeug nach Haschisch, Tränengas und gammligen T-Shirts.

[17] »Do it yourself« lautet das Credo nicht nur von sympathischen DilettantInnen, sondern auch von alternativen SchrebergärtnerInnen.