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Ein Desaster

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Linke und Antideutsche Ein Desaster

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Politik

Nach den Anschlägen am 11. September gab es in ideologiekritischen Kreisen einen Bruch – die intellektuelle Bilanz ist ernüchternd, fortan herrschte Bekenntniszwang.

Ground Zero in New York nach dem Attentat am 11. September 2001.
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Ground Zero in New York nach dem Attentat am 11. September 2001. Foto: James Tourtellotte (PD)

Datum 29. September 2023
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An den 11. September 2001 erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen: Auf dem Weg zu meinem Lieblingssport in Berlin-Wilmersdorf kam ich auf der Blissestrasse wie immer an dem über die Bezirksgrenzen bekannten Eissalon Monheim vorbei und schaute durch die geöffnete Tür die endlose Theke entlang bis ganz nach hinten zum Bildschirm eines kleinen Fernsehers, auf dem in vollendeter Ruhe ein Flugzeug zu einem Hochhaus hinüberglitt wie Nemo der Fisch, und ich sagte mir: Kindersendung, stummgestellt. Auf ein unerwartetes Wort des gebannten Reporters hin blieb ich dann aber doch stehen, und der Rest ist allgemein bekannt.

Das umfassende persönliche und intellektuelle Desaster, das sich für mich mit diesem Datum verbindet, hatte ich zwischenzeitlich dagegen vergessen. Ich hatte es, mit den Debatten über den zweiten Golfkrieg im Hinterkopf, mit dem Kosovokrieg und der, wie ich es damals nannte, »Geburt der ›internationalen Staatengemeinschaft‹ aus dem Geist von Auschwitz« verknüpft und war ganz erstaunt, als ich jetzt erfuhr, dass es, wie mein »offener Brief an Gerhard Scheit« vom 21. Dezember 2001 dokumentiert, mit 9/11 zu tun hatte. Ein Fall von Trauma, zweifellos.

In diesem an verschiedenen Stellen im Netz publizierten offenen Brief, aus dem ich im Folgenden zitiere, nehme ich Bezug auf Gerhard Scheits »kleinen Text über das Auseinanderbrechen des Wiener ›Kritischen Kreises‹, der die ›Streifzüge‹ hervorbrachte«. Er war damals in einem Rundbrief des Instituts für Sozialkritik Freiburg (ISF), sowie in der Wiener Zeitschrift »Streifzüge« erschienen. Das ISF verfolgte immer schon nicht nur eine eigene Politik. Zusammen mit dem ihm verbundenen Ça-ira-Verlag setzte es die Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule fort. Dass ein Gedanke abstrakt, ein Text schwierig war, machte das ISF – das war etwas Besonderes – in Freiburg durchaus willkommen, ja es war ein Hinweis auf sein gesellschaftliches Interesse. Die seltene Akzeptanz gegenüber der Theorie schweisste zusammen. Umso schockierender der politisch begründete Bruch, wie er in Scheits Kommentar aufscheint. Darin äussert er laut meinem Brief, sie, die »Streifzüge«, wären ein »Kreis, in dem zwanghaft davon abgesehen wird, dass die islamistischen Selbstmordattentate antisemitischen Charakters sind, oder in dem eben das gleichgültig ist.«

Von der Theorie zum Bekenntnis

So verwickelt die kleine Textgeschichte, so eindeutig und einfach die Aussage. Kompromissloser kann nicht formuliert werden, worum die Auseinandersetzung ging. »Die Diskussion darüber ist schlagartig auf eine wahnwitzige Ebene geraten, auf der sich kein Ressentiment mehr erhellen und kein kritischer Gedanke mehr fassen lässt«, charakterisierte Scheit den alle Beteiligten beschädigenden Charakter der Wiener Debatte sicherlich zutreffend. Und wenn ich mich trotzdem um Klärung bemühte, so deshalb, weil ich mich einerseits den »Streifzüglern« verbunden fühlte, andererseits aber, weil die entsprechende Auseinandersetzung beim ISF in Freiburg, das mir noch ungleich näher stand, unterblieb, jedenfalls soweit es mich betraf, und ich sie auf diese Weise in Gang bringen wollte.

Vergeblich, übrigens, denn der offene Brief wurde nicht beantwortet, die Auseinandersetzung fand nicht statt. Es gab ja auch keinen Streit, vielmehr hatte ein Paradigmenwechsel, man könnte auch sagen ein Formwechsel stattgefunden: die Ersetzung einer rückhaltlos offenen theoretischen Auseinandersetzung durch ein entschlossenes Bekenntnis, das das Ergebnis an den Anfang setzte. Ab da, und diese kleine Bemerkung kann nicht ernst genug genommen werden, wurden alle nur denkbaren Argumente zu Indikatoren der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit. Es war also etwas ganz Fatales mit diesen Argumenten. Sie waren kein Beitrag zu einer intellektuellen Diskussion, sondern wie Teil einer Abstimmung mit den Füssen. Von einem Tag auf den anderen gehörte ich, wie übrigens auch Ulrich Enderwitz, nicht mehr dazu, erweckte aber wie vermutlich auch er den Eindruck, ich wäre aus eigenen Stücken nicht mehr dabei.

In meinem Brief warf ich Gerhard Scheit eine »Quod-erat-demonstrandum-Beweisführung« vor, ein Verfahren, für das »ich persönlich mich übrigens morgens nicht einmal aus dem Bett, geschweige denn an den PC quälen würde«. Und weiter: »Obwohl der Anschlag vom 11. September wie ein, um das verwerfliche Wort zu benutzen, ›ganz anderer Diskurs‹, eine (…) in allen technischen Einzelheiten dem Gegner abgelauschte antiimperialistische Tat wirkt, soll er (…) eine antisemitische Tat sein, deren zentraleuropäische, deutsche Determination in allen ideologischen Einzelheiten bereits feststeht; man erkennt sie ja wieder und klopft beiläufig die abendländische, um nicht zu sagen deutsche Hegemonie fest, wenn nicht im Guten, dann wenigstens im Bösen.«

Linke und Antideutsche

Hie antisemitische, hie antiimperialistische Tat: Ich zitiere die plakativen Gegenpositionen mit nostalgischem Bedauern, und es fällt mir auch schwer, nicht ein wenig ironisch zu sein. Damals, vor 20 Jahren, konnte man sich an den Unterschied zwischen antisemitisch und antiimperialistisch noch erinnern, sonst hätte man über das Verhältnis ja nicht streiten können. Heute scheint der Unterschied wie aufgesogen, und der Kampf geht um logische Subsumtion: Bist du ein antisemitischer Antiimperialist oder ein antiimperialistischer Antisemit? Das erstere, vermute ich, wäre bei den ehemals Linken, das letztere bei den heutigen Rechten zu verorten. Verlierer sind die ins »Ehemals« gesetzten Linken, die mit dem Antiimperialismus wohl mehr zu tun hatten als gedacht. Was blieb von ihnen übrig?

Mit einiger Gewalt könnte man 9/11 als die Geburtsstunde der Antideutschen bezeichnen, nimmt man »Geburt« in seiner faktischen Bedeutung als Endpunkt: Von nun an war gesetzt, dass es mehr und Substanzielleres gab, als links zu sein. So sehr rührte der Gedanke an mein Selbstverständnis, dass ich ihn buchstäblich nicht fassen konnte. Dabei hätte ich eine Dekade Zeit gehabt, mich mit ihm auseinanderzusetzen, hätte mich kantische »Faulheit und Feigheit« nicht gehindert; genauer gesagt, die Euphorie über ein Stück weit gelebte Utopie, die auf der Lust an der theoretischen Anstrengung im Geist der Kritischen Theorie gründete, wie ich sie mit dem ISF verband.

In den 80er Jahren hatte ich mich beim ISF auf einer Veranstaltung vorgestellt, die, ich weiss nicht mehr genau, mit Revolution und Kommunismus zu tun hatte, und − die verklärende Erinnerung sei mir verziehen −, der schüchterne Blick auf Hunderte autonomer Springerstiefelsohlen, deren Träger den abstrakten Vortrag mühelos verdauten, hatte mir den Gedanken nahe gebracht, das, was ich, nur der objektiven Bewegung des Gedankens folgend, entwickelt hatte, könnte wahrhaftig − links sein. Man musste also nur Vertrauen ins Denken haben, schloss ich daraus, dann würde das Ergebnis links sein. Theoretische Massnahmen, die es im Voraus festlegten, waren unnötig, ja in einer aggressiven Weise sinnlos, die nur das Gegenteil hervorbringen konnte.

20 Jahre später ergibt sich für mich ein seltsam Proust'sches Bild. Das Werk des Religionsphilosophen Klaus Heinrich ist ins Zentrum des theoretischen und verlegerischen Interesses von Ça-ira-Verlag und ISF gerückt, Heinrichs Vorhut, Ulrich Enderwitz und ich – wir kamen ja von ihm −, sind längst daraus verschwunden. Nun wäre Klaus Heinrich nichts so fremd gewesen wie der Scheideprozess, der die Antideutschen entstehen liess. Tröstlich nur, wenn nicht die zynische Wandlung von Konstellationen, vielmehr ein echter Generationswechsel die Ursache ist. Jede Generation schreibt eben ihre eigene Geschichte.

Ilse Bindseil
streifzuege.org