Ein Beispiel für den medialen Ukraine-Diskurs gegenüber Antimilitarist:innen Schweiz: St. Imier und der Krieg

Politik

Auch ich war unlängst am „Ursprungsort des globalen Anarchismus“, im beschaulichen schweizerischen Saint-Imier.

Campingwiese des Anarchismuskongresses in St. Imier am 21. Juli 2023.
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Campingwiese des Anarchismuskongresses in St. Imier am 21. Juli 2023. Foto: Flora Kultur (CC-BY-SA 4.0 cropped)

10. August 2023
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Korrektur
Dort trafen sich Ende Juni, in einem in der Tat global wohl einzigartigen Mischungsverhältnis, exakt ebenso viele Anarchist*innen aus verschiedensten Weltregionen, wie dieser Ort an Wohnbevölkerung zählt.

Erst verspätet realisierte ich, dass mein dortiges Auftreten sogar medial seinen Niederschlag fand – allerdings ohne Namensnennung. Das ich nun als „älterer Anarchist“ gelte, sei's drum. Das es tatsächlich um meine Veranstaltung geht, wird aus verschiedenen Rahmeninformationen deutlich (die Personenzahl und der Umstand, dass ich eine Buchpublikation vorbereite, sind beispielsweise immerhin richtig).

Der Artikel des Journalisten Benjamin von Wyl nimmt in Anspruch, auf der richtigen Seite zu stehen – und meint so, mir „Falschinformationen zu Selenski“ unterstellen zu können. Nachzulesen ist dies im Artikel «"Sabotage überall": Am Ursprungsort des globalen Anarchismus» unter swissinfo.ch. Der Autor leistet sich mit seinem Text allerdings ein gehöriges Eigentor, denn er ist es, der die Falschinformationen liefert. So habe ich nicht gesagt, dass Selenskyj sich an Waffenlieferungen bereichere (das hat von Wyl komplett erfunden).

Auch habe ich nicht gesagt, dass der Krieg mit gigantischen NATO-Manövern begann. Vielmehr sagte ich, dass durch die Politik von NATO und EU (Osterweiterung, Ausschlagen von russischen Gesprächsangeboten etc.) sowie die Manöver Putin bewusst provoziert wurde (wobei ich übrigens ausdrücklich betonte, dass dies selbstverständlich keinen Angriffskrieg rechtfertigt!).

Aber bei der Ukraine-Frage wird eben gehört, was man hören will, zur Bestätigung eigener Positionen, oder zur Diffamierung anderer Meinungen. Und so hat von Wyl nicht einfach schlecht zugehört. Nein, er gehört zu den Journalist*innen, die einen bewusst falsch verstehen wollen. Denn die Kuratoren, die er bei dieser Veranstaltung vermisst, die vermisst er nicht etwa bei den Anarchist*innen, die Waffengewalt befürworten oder gar – auch diese Stimmen waren leider in Saint-Imier zu vernehmen – heroisieren.

Nein, einzig angesichts meines Vortrages, der eben nicht nur gegen Russland wetterte, sondern kritische Positionen gegenüber Deutschland, EU, NATO, USA und nicht zuletzt der Ukraine zu beziehen wagte (und diese Positionen auch begründete), nur da vermisst von Wyl das kuratierende Element (bös könnte man sagen: er vermisst offenbar die Zensur – und kreidet es den Veranstaltenden an, dass ich überhaupt reden durfte).

So erfüllt dieser Text eine Funktion: jene, die antimilitaristische Positionen beziehen – hier an meinem Beispiel – als durchgeknallt darzustellen. Davor scheut man nicht vor abenteuerlichsten Verrenkungen zurück, auch nicht vor offenen Lügen. Man hat mir nicht die Gelegenheit gegeben, diesen Text vorab zu lesen, von Wyl sprach mich auch nicht im Anschluss an die Veranstaltung an.

Man schickte mir den Text nicht wenigstens nachträglich, setzte mich nicht einmal davon in Kenntnis. So müssen die Leser*innen nun glauben (oder auch nicht), was von Wyl ohne jede Korrektur- oder Kommentarmöglichkeit meinerseits an verbalen Erfindungen in die Welt setzt – an Lügen. An diesen Lügen hätte die vom Autor (von Wyl wurde 2020 übrigens als "Top-30 unter 30"-Journalist ausgezeichnet) vorgeblich gewünschte Moderation nichts geändert.

Denn der Verweis auf Moderation ist nur von rhetorischer Funktion, um das freie Rederecht zu kritisieren, das ich in Saint-Imier ausüben durfte. Dass das Publikum am geäusserten „kaum Zweifel“ gehabt haben soll, ist übrigens ebenso unwahr, es gab im Gegenteil eine kontroverse Diskussion, bei der man sich allerdings – selten genug bei diesem Thema – ausreden liess. Diese Diskussion ist von Wyl nicht verborgen geblieben, da er doch selbst im Publikum sass.

Das wahrheitsgemäss zu berichten hätte aber seiner „Beweisführung“ geschadet, das Antimilitarist*innen (im Gegensatz zu den Befürworter*innen militärischer Einsätze natürlich) grundsätzlich „Falschinformationen“ aufsitzen, die dann meist wohl aus dem Kreml gesteuert sind. Falschinformationen gibt es in der Tat – allein schon in von Wyls Text reihen sie sich aneinander -, das ist nun wahrlich kein Privileg der russischen Seite.

Gerald Grüneklee