Für Herrgott und Bundesverfassung Freiheitstrychler: Hell Bells für Eidgenossistan

Politik

Spätestens seit Bundesrat Ueli Maurer im „Freiheitstrychler“-Gewand seinen rechtspopulistischen Auftritt hatte, sind die Trychler:innen in aller Munde.

Kundgebung von Freiheitstrychlern in Wädenswil, November 2021.
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Kundgebung von Freiheitstrychlern in Wädenswil, November 2021. Foto: Nina (PD)

15. November 2021
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Seit Monaten tauchen sie an Schwurbeldemos auf und bringen Verschwörungsgläubigen und Rechtslibertären die (reaktionäre) Kraft der Urschweiz. Kling, Glöcklein, klingelingeling für Eidgenossistan? Eine kleine Rundschau.

Seit Herbst 2020 lärmglocken die „Freiheitstrychler“ (Enzian-Edelweiss-Schweizer Kreuz-Logo) sowie die im Juli 2021 von FT-Dissident:innen gegründeten „Helvetia Trychler“ (Helvetia-Logo) an Schwurbel-Demos in der ganzen Schweiz. Innerhalb der Anti-Corona-Massnahmen-Demo-Bewegung geniessen die ca. 250-300 Trychler:innen „urschweizerischen“ Kultstatus – einige Szenegrössen wie Ex-Radrennfahrer und Bundesverfassungsapokalypseprediger Albert Knobel oder Hundeverhaltensberater, Livestreamer und Trychler-Bodyguard Chrigi Rüegg sonnen sich gerne im Glockenglanz der „Freiheitstrychler“.

Die Mehrheit der traditionellen Trychler-Vereine der Schweiz hingegen sehen die beiden Gruppierungen eher kritisch und befürchten zum Teil verheerende Folgen für das Brauchtum und/oder negative Reaktionen aus der Bevölkerung gegenüber unpolitischen Trychler-Gruppen.

Glockenpower für das Schwurbelglück

Einen Teil ihres mythischen Ruhms verdanken die „Freiheitstrychler“ ihrem Auftritt an einer Schwurbel-Demo im April 2021 in Altdorf, als sie - in der Wahrnehmung der Demoteilnehmenden – wie die Kavallerie die Polizeireihen durchbrachen, so dass der Weg zum „heiligen“ Wilhelm Tell-Denkmal frei wurde. Dass sie dabei von den überraschten Polizist:innen mit Pfefferspray geduscht wurden, schuf zusätzlich einen Märtyrer-Mythos à la Winkelried. Oder wie es der rechtslibertäre StrickerTV-Betreiber Daniel Stricker euphorisch ausdrückte: „Das isch d Schwyz, das isch d Schwyz!!!“.

Sechs Monate später: Albert Knobel berichtet der Szene-„Journalistin“ Nicole Hammer in einem Videointerview von diesem Tag, referiert über das Willhelm Tell-Denkmal, beklagt die Gummischrot-Salven der Berner Polizei, die ihn Tage zuvor am Rücken getroffen und seine Schweizer Fahne zerstört hätten. Zum Abschluss segnet er seine neue Schweizer Flagge am Denkmal und zitiert ehrfürchtig aus der Bundesverfasung.

Für Herrgott und Bundesverfassung

Nicht nur Knobel, sondern auch die beiden Trychler-Gruppen berufen sich auf die Bundesverfassung bzw. auf die schon fast „heilige“ Pflicht, diese zu „schützen“ und zu bewahren sowie angebliche und reale Einschränkungen der Grundrechte zu bekämpfen. Seit Altdorf habe mensch keine Angst mehr. Und was die Versammlungsfreiheit betrifft ist zu vermuten: Legal, illegal, scheissegal. Es geht ja schliesslich gegen „die Diktatur“.

Die höchste Macht im Land sind in ihrer Propaganda der Herrgott und die Präambel der Bundesverfassung. Um das zu unterstreichen wurden in Urnäsch AR im Mai 2021 Trycheln und Trychler:innen feierlich von einem Pfarrer gesegnet. Dies in Anwesenheit von Szene-„Promis“ wie Albert Knobel, dem von Bern nach Zug ausgewanderten Ex-Videoapotheker Stefan Theiler (mit Einzel-Kuhglocke), Nicole Hammer oder dem Telegram-Star „Shipi“. Für die Teilnehmenden ein „Volksfest“, an dem wie so oft, inbrünstig. die Nationalhymne mit Panflöte-Begleitung gesungen wurde.

Viele Trychler:innen und ihr Umfeld scheinen von einer schon fast apokalyptischen Weltlage auszugehen – unter anderem genährt durch die üblichen Verschwörungserzählungen - welche nur durch „ureidgenössische“ Gegenwehr abgewendet werden kann. Im Youtube-Video „Die Formierung der Freiheitstrychler“ vom Juni 2021 wird das ausführlich dokumentiert.

Trycheln im Kessel

So kämpferisch sich die „Freiheitstrychler“ geben – manchmal sind sie und andere Schwurbler:innen im Umgang mit grösseren städtischen Polizeien und deren repressiven Massnahmen ein bisschen naiv und tollpatschig. Was für ihr Fussvolk gefährlich werden kann. So treffen sich in Bern regelmässig einige Trychler-Kleingruppen gerne auf dem Bahnhof-Parking oder beim Bärengraben und wundern sich dann total empört, dass sie eingekesselt werden. Auch was Polizeiwaffen wie Gummischrot/-geschosse oder Pfefferspray angeht, ist viel Unwissen und mangelnder Selbstschutz zu beobachten.

Viele scheinen bei Kontrollen oder Vernehmungen noch nie was von Aussageverweigerung gehört zu haben, sie sind sehr gesprächig, wollen die Polizist:innen bekehren und geben sogar ihre Telefonnummern an (muss mensch nicht) – manchmal für alle gut hörbar mitten im Livestreamen. Ein Freudenfest für den Nachrichtendienst.

Was für sie Bundesrat Alain Berset auf Bundesebene ist, ist für sie der städtische Sicherheitsdirektor Reto Nause auf städtischer Ebene: Ein Hassobjekt. Dass im Hintergrund noch die auffällig stille RGM-Stadtregierung und vor allem der kantonale Sicherheitsdirektor und Hardliner Philippe Müller eine Rolle spielen, ignorieren sie.

Übergriffige Tendenzen

Es gibt im Umfeld der „Freiheitstrychler“ einen bärtigen Typ in Tracht und mit Armbrust bewaffnet, der oft an Schwurbel-Demos auftaucht. Dieser sieht ein bisschen aus wie Marccel Strebel, dem wohl bekanntesten Innerschweizer Rechtsextremist und Sturmgewehrfreund der 1980/90er-Jahre. Aber weder der Armbrust-Mann noch die Trychler:innen sind so krass übergriffig drauf wie Strebel, der 2001 in Burgdorf von einem Bekannten in Notwehr mit einem Sturmgewehr erschossen wurde.

Die Übergriffigkeit der „Freiheitstrychler“ und der „Helvetia Trychler“ zeigt sich eher in ihrer permanent-nervigen Lärmglockigkeit – ein Wunder, hat das sonst hyperaktive Lärmbeschwerden-Bürgertum noch nie wegen ihnen interveniert. Aber vor allem zeigt sie sich in ihrem missionarischen Eifer, der Ansicht (nur) sie als „Urschweizer“ würden die „Wahrheit“ (er)kennen, (nur) sie könnten die Bundesverfassung (welche in den letzten Jahrzehnten an Abstimmungen in der Vergangheit von derselben „Urschweiz“ immer wieder abgelehnt wurde) verteidigen und nur sie könnten „die Schweiz“ vor Bundesrat und (Pharma-)Konzernen retten. Das gibt Anlass zur Besorgnis. Vor allem, wenn irgendwelche erzkonservativen Mythen über Rütli, Eidgenossenschaft und allerlei Schlachten mit kruden Verschwörungstheorien vermischt werden.

Diese psychische und physische Übergriffigkeit passt bestens zum Rest der Bewegung. „Freunde der Verfassung“, „Stiller Protest“, „Mass-Voll!“, „Aktionsbündnis Urkantone“, „Freie Linke“ und wie sie alle heissen, sind genauso grössenwahnsinnig, verschwörungsgläubig, missionarisch und übergriffig drauf wie die Trychler-Bewegung(en). Die diversen Führungsfiguren, Alpha-Macker:innen und Menschenfänger:innen profitieren dabei von manchmal leicht manipulierbaren oder eventorientierten Menschen, die dem „Widerstand“ angehören möchten.

Agglo-Partisan:innen

Die bunte Mischung von radikalisiertem Mittelstand, Rechtslibertären, (Alt-)Hippies, Esoteriker:innen, Desperados, Verschwörungsgläubigen, Impf-Gegener:innen, Möchtegern-„Volks“-Lokaltribun:innen, SVP-Dissident:innen, Rechtsradikalen, Feld-, Wald- und Wiesen-Irrationalen sowie Trychler:innen ist zwar manchmal lustig anzusehen, aber ihr latenter Hass auf alle, die nicht so schwurbeln wie sie, ist bedenklich. Die Übergriffe gegen Impfbusse oder Impfaktionen, die diversen, ab und zu auch umgesetzten Gewaltfantasien gegen Behörden oder der absurde Szene-Trend überall „die Antifa“ am Werk zu sehen, lässt erahnen, dass das reaktionäre Gedankengut und die in der Luft liegende Gewaltbereitschaft nicht nur Einzelner jederzeit eskalieren könnte.

Auch in Bern gibt es dafür Beispiele: Der rechtsoffene Velomech, Ex-Video-Streamer („Einer für viele“) und Möchtegern-„Partisan“ Tom K. aus Agglo-Bern hat kürzlich auf Telegram empfohlen, die hiesigen „Partisanen“ sollten sich die Jurassische Hymne anhören und sich ein Beispiel am erfolgreichen Kampf der separatistischen Béliers nehmen. Auf den ersten Blick ein guter Ansatz: Im Jurakonfllkt gab es ausser einem Selbstunfall beim Bombenlegen keine Toten. Allerdings auch nicht wenige potentiell lebensgefährliche Brand- und Sprengstoffanschläge. Tom K. plante nach der Demo von 23.9.2021 angesichts der harten Berner Verhältnisse ein Sanitäts- und Security-Team aufbauen Er ist Symphatisant der „Freiheitstrychler“ und kritisiert die „Helvetia Trychler“. Und er hasst „Mass-voll!“-Rimoldi. Wenigstens das.

Fazit: Die Schwurbel-„Bewegung“ und somit auch die Trychler-Gruppen müssen angesichts ihres destruktiven Potentials weiterhin im Auge behalten werden. Ansonsten wachen wir bald alle in Eidgenossistan auf.

Hans Dampf

Artikel aus: Megafon, Die Zeitschrift aus der Reitschule Bern, Nr. 473 Nov 2021