Auffällig ist jedoch, dass die Öffnung der ex-sowjetischen Archive und die darauf folgende Flut von Publikationen an der "Fangemeinde" der aufständischen Matrosen im Westen fast völlig spurlos vorbeigegangen ist. Noch heute werden vor allem die Darstellungen von Zeitzeugen wie Victor Serge [1] oder Alexander Berkman [2] zitiert. Seit 1991 gab es in der russischsprachigen Historiographie neue Debatten, die an dieser Stelle nur umrissen werden können. Schliesslich hat die Veröffentlichung von einer Fülle von Dokumenten und Studien zur Entstehung neuer Diskussionsstränge gesorgt, die über die Grenzen der politischen Lager verlaufen.
Quellen und Deutung
Als ein Meilenstein der Kronstadt-Forschung kann die zweibändige Quellensammlung "Kronstädter Tragödie 1921", die 1999 erschien, betrachtet werden.[3] Über 800, teilweise bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente sind darin veröffentlicht. Dazu gehören nicht nur die Verhörprotokolle der Aufstandseilnehmer*innen, sondern auch Erinnerungen der Kronstädter Zivilist*innen, von der Militärzensur abgefangene Post oder Briefwechsel der
Emigrantenorganisationen, die Kontakt mit den Aufständischen suchten.
Das biographische Verzeichnis rekonstruiert den Lebenslauf von vielen (wenn auch längst nicht allen) wichtigen Protagonist*innen. Was diese Quellenedition allerdings sehr kontrovers macht, ist der Einleitungsaufsatz von Juri Schtschetinow, der bereits zur Sowjetzeit als Experte für den Kronstadtaufstand galt. [4] Dort wird die Kronstadt-Euphorie der Bolschewismus-Gegner*innen verschiedener Provenienz gedämpft mit dem Hinweis, der Aufstand sei von Anfang an aussichtslos gewesen. Den Aufständischen gelang es nicht mal in Kronstadt die Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Man hatte nicht mal genügend kampfbereite Leute, um Wachablösung zu organisieren, so dass die Verteidiger*innen zum Zeitpunkt der Erstürmung sehr erschöpft waren.
Schtschetinow gibt unverblümt Lenins Argumentation Recht – hätten die Aufständischen länger durchgehalten, wäre eine erneute Intervention rechtsgerichteter "weissgardistischer" Kräfte erfolgt. Die Forderung nach unabhängigen Räten und mehr Demokratie wäre von denen instrumentell ausgenutzt worden und das kriegserschütterte Land hätte noch mehr weissen und roten Terror ertragen müssen.
Auch die klassische These der sowjetischen Geschichtsschreibung, hinter der "Meuterei" hätten die weissgardistischen Verschwörungszentren gesteckt,
versucht Schtschetinow zu verteidigen. Dass die "weisse Emigration" in jenen Märztagen euphorisch war und versucht hat zu intervenieren, zeigen die Dokumente ganz eindeutig. Kuriere der Exilorganisationen verhandelten mit dem "Provisorischen revolutionären Komitee" – dem Leitungsgremium des Aufstandes. Schtschetinows Argumentation stützt sich aber auch auf die Verhöre der Mitglieder der so genannten "Petrograder Kampforganisation"
um Professor Taganzew. Diese Organisation wurde von Tscheka im Sommer 1921 aufgedeckt und stellte eher ein Konglomerat von diversen antibolschewistischen Zirkeln dar.
Zwar war die Orientierung der Führung gemässigt monarchistisch bis rechtsliberal, aber es wurde auch versucht die protestierenden Arbeiter*innen oder illegal aus Finnland zurückgekehrten Kronstädter Matrosen einzubeziehen. Nach 1991 galt die Taganzew-Gruppe lange Zeit als eine Erfindung des bolschewistischen Geheimdienstes, alle verurteilten Teilnehmer*innen (der berühmteste war der Dichter Nikolai Gumiljow) wurden posthum rehabilitiert.
Jedoch beweisen Dokumente von Emigranten, dass es wirklich eine konspirative Organisation gab, wenn auch eine recht amorphe. Die meisten Kontakte
mit den Matrosen, die sich anhand der Quellenedition verfolgen lassen, fanden bereits nach dem Aufstand statt, daher kann von einer monarchistischen
Fernsteuerung nicht die Rede sein.
Neue Fragen
Eine ausführliche Antwort auf Schtschetinow lieferte 2004 der Historiker Michail Jelesarow. [5] Er wirft Schtschetinow und anderen Herausgeber*innen der Quellenedition vor, die Rolle der linken Parteien und Strömungen zu vernachlässigen. Jelesarows Interesse gilt primär den Matrosen selbst, daher ist er skeptisch gegenüber Autor*innen, die den Aufstand vor allem als Reaktion auf den "roten Terror" sehen. [6] Denn schliesslich waren die Matrosen als die aktivsten Umsetzer*innen der Repressionspolitik berüchtigt. Darin liegt übrigens, nach Jelisarow, einer der Ursachen für das Scheitern des Aufstandes – die Matrosen waren recht unbeliebt bei dem Rest der Bevölkerung. Während des Bürgerkrieges waren sie dafür bekannt, immer wieder Privilegien für sich (wegen besonderen revolutionären Verdienste) zu verlangen.Gleichzeitig waren sie empört über Privilegien des Parteiapparats. Gegen Ende des Bürgerkrieges hat die Flotte ihre Bedeutung für die Verteidigung stark eingebüsst, die altgedienten Matrosen wurden immer weniger. Die jungen Matrosen wurden vor allem aus dem Süden Russlands und aus der Ukraine mobilisiert, unter anderem aus den Machno-Gebieten. Jelisarow verweist auf den Generationenkonflikt bei den Aufständischen: am Anfang traten die altgedienten Matrosen den Jüngeren als Hüter der revolutionären Tradition gegenüber, später liessen die sich von ihnen im Namen dieser Tradition zum aktiven Widerstand überreden.
Als sich jedoch die Niederlage des Aufstandes abzeichnete,
begannen die Älteren damit, ehemalige Offiziere
("Militärspezialisten") unter den Aufständischen zu
verhaften und Bereitschaft zu signalisieren, sie an die
Bolschewiki auszuliefern.
Überhaupt, die Bereitschaft
zur offenen Konfrontation
hat sich erst nach und
nach eingestellt. Jelesarow
weist alle Theorien von
einem vorbereiteten Aufstand
zurück. Erst ging es
den Kronstädter*innen lediglich
darum, den Rat neu
zu wählen, erst die Reaktion
der Bolschewiki hat die
Eskalation herbeigeführt.
Der Aufstand entwickelte
sich spontan.
Jelisarow stellt eine kontroverse
These auf, dass es den Bolschewiki an einer
Eskalation gelegen war. Denn erst die von Lenin und Trotzki unterschriebene
Regierungserklärung vom 2. März, in der von einer "weissgardistische Verschwörung" in Kronstadt
die Rede war, brachte das Fass zum Überlaufen. Die
Unsinnigkeit der Behauptungen war für alle Augenzeugen
der Versammlung am Tag davor offensichtlich.
Auch danach versuchten Kronstädter*innen noch zu
verhandeln, aber die öffentliche Brandmarkung als
Konterrevolutionär*innen und Verräter*innen stellte
die mit dem Rücken zur Wand. Andere Signale von
oben hätten die Lage entspannen können.
Als Kronstadt sich zum bewaffneten Widerstand entschloss,
waren die Arbeiterunruhen in Petrograd,
mit denen sich Matrosen explizit solidarisierten, bereits
abgeebbt. Die Arbeiter*innen bekamen plötzlich
bessere Verpflegungsrationen, die Aktivist*innen
der Menschewiki (Sozialdemokraten) und der
Sozialrevolutionär*innen waren verhaftet. Das Eis der
Ostsee war aber noch nicht geschmolzen. Die nächsten
18 Tage warteten die Aufständischen vergeblich
auf die Eisschmelze – denn so wäre Kronstadt, eine
Inselfestung, faktisch uneinnehmbar.
Doch die Bolschewiki
wussten, dass die Zeit gegen sie arbeitet
und beeilten sich mit dem Sturm. Die Aufständischen
waren also von Anfang an in einer misslichen Lage –
der Aufstand könnte wohl kaum auf das gerade erst
befriedete Petrograd überschwappen und die Festung
musste aufgrund der Angreifbarkeit rund um die Uhr
scharf bewacht werden.
Doch Jelisarows These, die Bolschewiki wollten an
aufsässigen und unbeliebten Matrosen ein Exempel
statuieren, muss Zweifel hervorrufen. Denn das Risiko,
dass das Eis doch früher geschmolzen wäre oder
dass die Matrosen es geschafft hätten, mit Artilleriefeuer
den Sturm zu brechen, war gross und auch so gestaltete
sich die Erstürmung als äusserst kompliziert.
Die Verluste der Angreifer*innen waren sehr hoch
und die Gefahr des Überlaufens der Rotarmist*innen
auf die Seite der Aufständischen war ebenfalls real.
Gesondert geht Jelisarow auf die Rolle verschiedener
politischer Gruppen in Kronstadt ein. Laut seiner
Darstellung waren die Anarchist*innen zwar die
populärste politische Strömung in Kronstadt, aber
keineswegs federführend bei dem Aufstand. Das Verhältnis
der Kronstädter Matrosen zu Anarchist*innen
hatte sich 1919, nach den anarchistischen Versuchen,
die Macht der Bolschewiki mit Terroranschlägen zu
bekämpfen, abgekühlt.

Das zerstörte sowjetische Kriegsschiff «Grazhdanin» in Kronstadt, 1921. / Unbekannt (PD)
Matrosen den
"bürgerlichen" Anarchismus
ab, der sich gegen die
Disziplin wendete, dafür
waren die jüngeren Neulinge
von der Ukraine für
"spontanen Anarchismus"
viel anfälliger. Die Anarchisten
stellten ein Viertel
der Mitglieder des Provisorischen
Revolutionären
Komitees. Nach Ansicht
Jelisarows waren ihre
Forderungen nach einer
neuen Revolution eher abschreckend
für die kriegs- und
krisenmüde Bevölkerung, dagegen finden sich
Hinweise auf das Wachsen der Sympathien für den
Anarchismus unter den nach der Niederschlagung inhaftierten
Matrosen.
Die Forderungen der Partei der Linken Sozialrevolutionäre
(PLSR) nach einer "echten Räteherrschaft" fanden
in Kronstadt ebenfalls breite Resonanz, viele Erklärungen
der Aufständischen sind im diesem Geiste
verfasst, aber die Partei war seit 1918 in der Festungsstadt
nicht mehr organisatorisch präsent. Eine weitere
linksradikale Gruppierung, die Sozialrevolutionären
Maximalist*innen waren durch den Redakteur des
Zentralorgans des Revolutionären Komitees, Anatoli
Lamanow, vertreten. Der verkündete schon während
des Aufstandes seinen Austritt bei den Bolschewiki
(denen er schon seit längerem angehörte) und Wiedereintritt
bei den Maximalist*innen.
Eine andere Partei, die während der Kronstädter
Ereignisse eine Rolle spielte, waren die russischen
Sozialdemokraten – die Menschewiki. Im Unterschied
zu den Anarchist*innen und den linken
Sozialrevolutionär*innen, standen sie rechts von den
Bolschewiki. Unter den Matrosen hatten sie wenig
Rückhalt, dafür war ihre Rolle bei den Petrograder Arbeiterprotesten
im Februar sehr bedeutend. Während
in Kronstadt die Forderungen nach Räteherrschaft
ohne Parteidiktat dominierte, sprach sich das menschewistische
Mitglied des Revolutionären Komitees
Wladislaw Walk offen für eine Neueinberufung der
Konstituierenden Versammlung aus und damit für die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie. Zwar forderten die Aufständischen in ihren berühmten
15-Punkte-Resolution Wort- und Pressefreiheit nur
für die Vertreter*innen aller linken sozialistischen
Parteien, jedoch konnten im Provisorischen Revolutionären
Komitee auch einzelne Sympathisant*innen
von gemässigten "Volkssozialist*innen" und sogar von
liberalen "Konstitutionellen Demokrat*innen" mitwirken.
Auffällig ist jedoch, dass fast alle oben aufgezählte
Strömungen schon seit langem über keine
festen Strukturen in Kronstadt verfügten, oder sogar
landesweit sich in Auflösung befanden. Nicht die oppositionellen
Gruppen bereiteten die Ereignisse vor,
im Gegenteil – das Wegfallen der bolschewistischen
Überwachung ermöglichte das Wiederaufleben der
oppositionellen Gruppen. Im Übrigen verweisen Jelisarows
Nachforschungen darauf, dass die Hauptstosskraft
des Aufstandes enttäuschte Bolschewiki von der
Parteibasis bildeten.
Die Rolle der Exilkreise
Auch die Reaktionen der russischen Emigranten aufdie Kronstädter Ereignisse kann heute unter Einbezug
von ex-sowjetischen und westlichen Archiven
erforscht werden. Alexander Nowikow zeigt die Konflikte
unter den Exilanten anhand der Partei der Sozialrevolutionäre
(PSR), die um 1917 die zahlenstärkste
Partei in Russland war. [7] Der linke Flügel der Partei
(nicht zu verwechseln mit den vorher abgespaltenen
PLSR) reagierte mit grosser Begeisterung auf die
Nachrichten über die Forderungen der Matrosen. Der
Anführer des linken Flügels, Wiktor Tschernow, versuchte
von Estland aus alle Kräfte der Partei an der
Grenze von Sowjetrussland zu sammeln.
Er stellte über
seine Kuriere Kontakt zu der Festung her und bot den
Aufständischen die Hilfe seiner Partei an. Bezeichnenderweise
forderte er ein Bekenntnis zur Einberufung
der Konstituierenden Versammlung, am Ende
seiner Briefe schrieb er: "Hoch leben die freien Räte
und die Konstituierende Versammlung". Doch das
Provisorische Revolutionäre Komitee beliess es dabei,
sich bei Tschernow zu bedanken und meinte in seiner
Antwort, ob man die Hilfe annehme, hänge von
weiteren Entwicklungen ab. Das Komitee beschloss
Tschernows Hilfsangebot von dem Rest der Aufständischen
geheimzuhalten.
Was für Schtschetinow als
Beweis dafür dient, dass die Forderung nach der Rätedemokratie
lediglich eine taktische war, die man
später zugunsten des Parlamentarismus oder einer
Militärdiktatur fallen liesse, ist für Nowikow umgekehrt
der Beweis dafür, wie schwer es den Aufständischen
fiel mit den Bolschewiki zu brechen. Tschernow
begann trotzdem an den Plänen für ein militärisches
Eingreifen zu arbeiten, er hoffte auf baldige neue Wellen
von Bauernaufständen. Wichtig ist festzuhalten,
dass seine Pläne völlig unabhängig von den Plänen
der rechten Exilorganisationen waren, welche versuchten
die Reste der weissen Armeen den "freien Räten"
zu Hilfe marschieren zu lassen.
Der Konstitutionelle
Demokrat Pawel Miljukow machte – zur Freude
Lenins – zum Beispiel keinen Hehl daraus, dass die
Forderung nach den "unabhängigen Räten" aus taktischen
Gründen tauglicher sei, als die nach einer
neuen Konstituierenden Versammlung. Doch der Rest
der Führung der Sozialrevolutionär*innen hatte sich
schon auf das Einrichten im Exil eingestellt und die
Unterstützung für Tschernow kam mit grosser Verspätung.
Danach verschob sich die Aufmerksamkeit
der westlichen Unterstützer*innen des Exils von den
Sozialrevolutionär*innen zu den rechten, monarchistischen
Gruppierungen. Nowikows Verdikt fällt eindeutig
aus: Die "lange Hand" der Sozialrevolutionär*innen
in Kronstadt kann nicht belegt werden.
Die Journalistin Jewgenija Frolowa, die sich auf die
Geschichte der Sozialrevolutionär*innen im Exil spezialisiert
hat, schildert die Rivalität zwischen linken
und rechten Exilgruppen bei der Vereinnahmung der
Kronstädter Ereignisse. [8] Frolowa findet sogar Hinweise
darauf, dass 1922 einige Monarchist*innen dem
sowjetischen Geheimdienst behilflich waren, das Archiv
des sog. "Administrativen Zentrums" (Exilorganisation,
die dem rechten Flügel der PSR nahestand)
aus Paris zu entführen.
Die Dokumente wurden dann
dazu verwendet, beim Prozess gegen die führende
Sozialrevolutionär*innen in Moskau die Verstrickung
der Partei in die Kronstädter Ereignisse zu belegen.
Jewgeni Schirnow vom rechtsliberalen Nachrichtenmagazin
"Kommersant-Wlast" macht in seinem
Artikel zu Kronstadt auf einen weiteren Aspekt der
Aktivitäten der Emigrant*innen aufmerksam. [9] Bekanntlich
erschien bereits am 10. Februar 1921 in der Pariser
Exilzeitung "Poslednii Nowosti" ein Bericht über
angeblich bereits seit einer Woche laufenden Aufstände
der Kronstädter Matrosen. Damals aber herrschte in Kronstadt noch Ruhe. Da die Emigrantenpresse
über keine offiziellen Korrespondent*innen in Sowjetrussland
verfügte, fanden sich auf dessen Seiten häufig ungeprüfte
Gerüchte wieder.
Aber bereits drei
Tage später veröffentlichte die französische Zeitung
"Le Matin" eine ähnliche Nachricht. Die Bolschewiki
haben später die beiden Meldungen als ein Beleg für
die von Exil und Ausland vorbereitete Verschwörung
verwendet. Nun stellt Schirnow gleich zwei Versionen
auf, wie es zu den Ereignissen im März kam. Zu einem
knüpft er an Jelisarows These an vom Interesse
der Bolschewiki an einer Eskalation der Ereignisse.
Zu anderem hält er es für möglich, dass die Exilkreise
mit ihrer Falschmeldung die Eskalation gezielt provoziert
haben. Man war im Exil über die steigende Unzufriedenheit
der Matrosen durchaus informiert und
wollte durch die Verbreitung der Gerüchte über eine
Meuterei möglichst harte Reaktion der Bolschewiki
auf jegliche Unmutsäusserung in Kronstadt herbeiführen.
Diese "sich selbsterfüllende Prophezeiung" ging
dann erwartungsgemäss in Erfüllung – die Matrosen
zeigten sich empört von solchem Umgang und gingen
zu entschlossenen Handlungen über. Doch Schirnows
Artikel kommt ohne eine einzige Fussnote aus und
seine Behauptungen sind recht abenteuerlich.
So soll der Anführer des Provisorischen Revolutionären Komitees
Stepan Petrischenko bereits vor dem Beginn der
Unruhen ein Agent der Tscheka gewesen sein – bisher
wurde nur belegt, dass seine Zusammenarbeit mit
dem sowjetischen Geheimdienst im finnischen Exil
begann.
Bilanz der Aufarbeitung
Zum Jubiläum von Kronstadt 2011 zog General-LeutnantWasili Christoforow, Chef der Fondsabteilung
des Archivs der Inlandsgeheimdienstes FSB, Bilanz zu
den Debatten seit der Veröffentlichung der Dokumente
1999. [10] Er betont, dass es kein Zufall ist, dass in
offiziellen russischen Geschichtsschreibung nicht von
Meuterei oder Aufstand, sondern von "Ereignissen"
die Rede ist. [11] Die Matrosen beabsichtigten ursprünglich
keinen bewaffneten Aufstand, es gab auch kein
organisierendes Zentrum, die Proteste entwickelten
sich spontan.
Damit setzt er die Argumentationslinie
Jelisarows fort, der darauf hinwies, dass die prosowjetischen
Gegner der Kronstädter*innen unter den
Historiker*innen in die gleiche Kerbe schlagen, wie
die anarchistischen Apologet*innen der "dritten Revolution".
In beiden Fällen werden die Entschlossenheit,
die Radikalität und die Militanz der Matrosen
massiv übertrieben. [12] Christoforow zeigt auch auf,
dass die bolschewistische Führung von der Entwicklung
völlig überrascht war und lange Zeit über keine
geprüfte Information über die Lage in der Festung
verfügten. Noch am 8. März, bei der Eröffnung des X.
Parteitags, war Lenin über die Situation in Kronstadt
nicht im Bilde, was ihn nicht hinderte, sein Resümee
über das konterrevolutionäre Wesen der Rebellion zu
ziehen.
Freie Räte und freier Handel
Viele autoritätskritische Linke haben sich, nicht zuletztdurch die Diskussionen mit Leninist*innen (vor
allem prosowjetischer oder trotzkistischer Orientierung)
angewöhnt, den Kronstädter Aufstand reflexhaft zu verteidigen und zu verklären. "Kronstadt war
der revolutionäre Moment, an dem das Pendel am weitesten
nach links geschwungen war." [13] – verkündete
der Rätekommunist Cajo Brendel auf einem Kongress
1971. Doch die Motive der Aufständischen waren unterschiedlich
und nicht unbedingt "linker" als die
Programm ihrer Gegner*innen.
Von den 40 Prozent der Kronstädter Kommunist*innen, die gegen Ende 1920
ihre Partei verliessen, begründeten viele diesen Schritt mit
ihren religiösen Überzeugungen. [14] Eine grosse Zahl der unentbehrlich
qualifizierten Spezialisten (Minensteller,
Maschinisten usw.) der Baltischen Flotte kamen aus
Estland und Lettland und verlangten seit längerem
eine Rückkehr in die unabhängig gewordene Herkunftsländer.
[15] Die Zukunft der russischen Räte war
für sie wohl eher weniger von Bedeutung.
Bisher wenig beachtet sind auch die zahlreichen Erscheinungen
des Antisemitismus vor und während der
Kronstädter Ereignisse. Schon 1920 kursierten in der
baltischen Flotte anonyme Briefe und Aufrufe, in denen
verlangt wurde, alle jüdischen Geschäfte zu schliessen
und Jüd*innen aus den führenden Positionen zu entfernen. [16]
In die Hände der Militärzensur fielen Briefe,
wie die von gewissen Dmitri Jurin, der am 4. März an
seine Eltern in Cherson schrieb: "Die Kommune haben
wir auseinandergejagt, Kommune gibt es bei uns
nicht, jetzt haben wir nur noch die Rätemacht. Wir haben bei uns in Kronstadt eine Resolution erlassen,
um alle Itzen nach Palästina zu verbannen, damit bei
uns in Russland nicht so eine Scheusslichkeit gibt, alle
Matrosen schreien "Nieder mit den Itzen", die haben
wir in den letzten Jahren satt und die Kommune haben
wir auch seit vier Jahren satt!". [17]
Die Rotarmist*innen von einem der Regimenter der 79. Brigade der bisher
als loyal geltenden 27. Schützen-Division weigerten sich an dem Sturm der Kronstadt teilzunehmen und
schrien auf ihrer Versammlung "Schlagt die Juden!". [18]
Allerdings findet sich in den offiziellen Resolutionen
der Aufständischen nichts von solchen Einstellungen.
Die Redaktion des Zentralorgans des Revolutionären
Komitees musste immer wieder Versuche abwehren,
antisemitische Artikel zu platzieren. [19]
Obwohl die Matrosen der baltischen Flotte während
des "Roten Terrors" sehr berüchtigt waren, verzichteten
die Kronstädter Aufständische auf Hinrichtungen
ihrer Gegner*innen. Selbst als die Bolschewiki ankündigten,
ihre Angehörige als Geiseln zu nehmen,
erklärten die Aufständischen demonstrativ, dass die sich in der Festung befindenden Angehörigen der geflohenen
oder inhaftierten Bolschewiki selbstverständlich unantastbar
seien. Am 16. März hat der Leiter des Untersuchungsgefängnisses,
wo die gefangenen Bolschewiki
inhaftiert waren, der Anarchist Stanislaw Schustow,
sich zwar für deren Hinrichtung ausgesprochen, aber
das Provisorische Revolutionäre Komitee lehnte seinen
Vorschlag ab.[20]
Doch ein besonders wichtiges Element des linken "Mythos Kronstadt" ist die Vorstellung, dass bei der Gegenübersetzung von Räten und bolschewistischen Partei, die Räte automatisch für einen linkeren Kurs standen. So lassen sich alle Probleme der russischen Revolution auf die Formel reduzieren, dass Revolution "von unten" per se etwas Positives sei, was lediglich "von oben" verdorben wird. Dabei haben die Kronstädter*innen unter anderem explizit "Freien Handel mit Brot" gefordert. Generell waren die von Bolschewiki unkontrollierten Räte keineswegs immer "sozialistischer" oder "linker" gesinnt – ob 1917 oder 1918.
So wurde zum Beispiel die Landung der Entente-Truppen im Norden Russlands 1918 – der Beginn der Intervention auf der Seiten der Weissen – von einigen Räten in der Region begrüsst. Im selben Jahr riefen die Räte im südlichen Baku gegen die Stimmen der Bolschewiki die britischen Truppen zu Hilfe.
Als im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), die noch während der Niederschlagung des Aufstandes verkündet wurde, Handel mit Brot ermöglicht wurde, stiess dies gerade bei den Kritiker*innen von links auf wenig Begeisterung. Das Einführen von marktwirtschaftlichen Mechanismen führte zu neuen sozialen Spannungen. Die Bauernaufstände ebbten ab, aber dafür waren jetzt die Anhänger*innen der Bolschewiki unter den Arbeiter*innen unzufriedener.
Die Mangelverwaltung des "Kriegskommunismus" war 1921, nach dem Ende des Bürgerkriegs, für die Bevölkerung eine Zumutung. Doch der geforderte "Freihandel mit Brot" brachte ebenfalls Probleme mit sich. Die Spannungen zwischen den Interessen der Bauern und Bäuerinnen, die Brothandel betreiben wollten und ihren Käufer*innen waren vorprogrammiert.
Die Verklärung der Räte und der Forderungen des Kronstädter Aufstandes übersieht, dass die Räte, nicht anders als die Parlamente, nur eine Form zu Entscheidungstreffen sind, womit der Inhalt der Entscheidung noch keineswegs bestimmt ist. Die Bolschewiki haben es klarer gesehen und zogen daraus ihre Konsequenzen. Die Entscheidungsfindung in den Räten sollte nicht dem Zufall überlassen werden. Als Kritik daran entwickelten diverse linke Strömungen einen fast religiösen Glauben daran, dass die Entscheidungen "von unten" schon allein, weil sie "von unten" kommen, "linker" seien. Dieser Glaube fusst aber auf der Annahme, eigentlich sei die Mehrheit schon mal auf der richtigen Seite.



