Über die öffentliche Diskussion zur europäischen Flüchtlingspolitik Lampedusa

Politik

Jedes Jahr sterben tausende Menschen bei dem Versuch übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Dass es immer wieder zu einer Diskussion kommt, liegt daran, dass die vorgesehenen Institutionen vor Ort mit der Bewältigung der vielen Toten und der traumatisierten Überlebenden überfordert sind.

Flüchtlinge erreichen im August 2007 die italienische Insel Lampedusa.
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Flüchtlinge erreichen im August 2007 die italienische Insel Lampedusa. Foto: Sara Prestianni - noborder network (CC BY 2.0)

12. Februar 2014
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Die Presse, die europäischen Regierungen und der Papst sprechen von einer Tragödie, mancher sogar von einer Schande. Genauso wie die grossen Hungerkatastrophen in Afrika alle paar Jahre mal die deutsche Öffentlichkeit kurzzeitig beschäftigen, ist dieses Massensterben eine Debatte (bzw. eine Runde an Statements) wert. Jedes Jahr sterben tausende Menschen bei dem Versuch übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Dass es ausgerechnet jetzt zu einer breiten Diskussion kommt, liegt daran, dass die bislang vorgesehenen Institutionen vor Ort mit der Bewältigung der vielen Toten und der traumatisierten Überlebenden überfordert sind.

Dass die Politik sich auch drei Wochen danach noch mit dem Thema beschäftigt hat, lag wiederum daran, dass die italienische Regierung die Aufmerksamkeit nutzte, um einige Reformen der bisherigen Arbeitsteilung in der europäischen Flüchtlingspolitik zu fordern.

Die Stunde der „Schicksale“

Die Zeit unmitelbar nach dem Tod der Flüchtlinge ist die grosse Stunde der „Schicksale“. Alle Beteiligten bekommen ein Gesicht, hier geht es um Menschen. Der Stern druckt Fotos ab, die die ertrunkenen Flüchtlinge bei sich hatten, Überlebende dürfen ihre Hoffnungen, Ängste und Traumata detailliert berichten, Fischer und Taucher berichten, wie es ihnen dabei geht, wenn sie von Fischen angefressene Leichen aus dem Mittelmeer holen. Und natürlich fängt jeder Artikel über die Regierenden damit an, wie „entsetzt“, „tief betroffen“ usw. sie selbst sind.

Erstens weiss die Journaille um das Bedürfnis ihrer Leser: Ein wenig Schauder, der aber auch wohlig sein kann, weil man dadurch im Vergleich weiss, dass es einem trotz der Sorgen um steigende Mietpreise, Lohnsenkung, Arbeitsstress und sonstigen Existenzängsten immer noch besser geht als den Ertrunkenen und ihren Familien. Auch wenn diese Sorgen dadurch freilich nicht verschwinden.

Zweitens ist damit die Folie für alles Weitere gelegt: Was auch immer man aus diesem „Drama“ folgen lässt: Es geht im Wesentlichen um individuelle Schicksale, die einem nicht gleichgültig sein sollen. Damit leistet die Öffentlichkeit zugleich Folgendes: Alles Ringen in der Politik, um neue Massnahmen, dient angeblich auch diesen individuellen Schicksalen. Wenn dann Schleuser noch besser bekämpft werden sollen, soll es so aussehen, als ginge es der Politik dabei um diese individuellen Schicksale geht.1

Teil II: Ursachen, die unterstellten oder hervorgehobenen Probleme und ihre Lösung

In der ersten Presseschau am Tag danach wird die europäische Flüchtlingspolitik hart ins Gericht genommen: Diese Toten hätten nicht sein müssen und es gebe sie nur, weil die Politik ihrer Verantwortung nicht nach gekommen sei. Fluchtursachen, Fluchtwege, Fluchtmittel, Ankunfts- und Aufenthaltsbedigungen, alles wird mit der Betonung herangezogen, da habe die Politik doch was mit zu tun.2 Welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, darum soll es im Folgenden gehen.

1. Fluchtgründe – also die Situation in den Herkunftsländern

Mit den ertrunkenen Flüchtlingen, die vorwiegend aus Eritrea und aus Somalia stammen, kommt das Thema Bürgerkriege auf den Tisch. Diese werden nach dem Motto „so ist das dort“ behandelt. Die EU-Länder hätten mit den Bürgerkriegen eigentlich nichts zu tun, bzw. nur insofern, als dass sie nicht genug getan hätten, um die Bürgerkriege zu beenden.

Als ob den EU-Ländern das Vermeiden von Bürgerkriegen ein Zweck an sich wäre. Als ob sie ihren Bezug auf Bürgerkriege nicht nach ihren nationalen Interessenlagen entscheiden würden. Das ist nicht der Fall. Mal stacheln EU-Staaten Bürgerkriege an, weil ihnen die Regierung nicht passt, mal unterstützen sie Regierungen im Bürgerkrieg, weil sie ihnen passen und manchmal warten sie abwägend ab, was sich so Interessantes für eine zukünftige Einmischung ergibt.

Die „Vermeidung von Bürgerkriegen“ ist dabei ein guter Titel, um die nationalen Interessen dort mit allen Mitteln der Politik durchzusetzen; mit wirtschaftlicher Erpressung, der Unterstützung von Oppositionsgruppen oder deren Bekämpfung, manchmal auch mit Krieg.

Diktaturen

Es gibt Regierungen auf der Welt, die unliebsame Untertanen misshandeln (Welche eigentlich nicht?). Welche Regierung ihre Untertanen misshandelt, liegt dabei in der Interpretationshoheit der europäischen Regierungen. Eine der EU wohlgesonnene Regierung mag noch so viele Leute wegen ihrer politischen Absichten in den Knast stecken, sie gilt dann nicht als „Diktatur“.

Hier ist der ganze Sinn der Asylpolitik angesprochen: Staaten geben denjenigen Menschen Asyl, dessen Herkunftsländern sie einen Unrechtsstatus ans Bein binden wollen, um gegen sie bestimmte nationale Interessen durchzusetzen. Diesen Unrechtsstatus unterstreichen die europäischen Staaten, um so ihre Politik gegen diese Länder als Handeln im Sinne der Menschlichkeit, also eines dem nationalen Interesse übergeordneten weltweiten Wertesystems darzustellen.

Armut

Dass Leute vor Ort unter den erbärmlichsten wirtschaftlichen Bedingungen zurechtkommen müssen, ist für die hiesigen Regierungen einerseits kein Grund, ihnen Zuflucht zu bieten. Anerkannt ist dieser Fluchtgrund andererseits in einer sehr eigentümlichen Art und Weise. Er wird glatt als einer der Hauptgründe ausgemacht, warum sich Leute auf den Weg nach Europa machen.

Warum sind die Leute arm? Es gibt dort zum Beispiel Bürgerkriege, die jede vorhandene erbärmliche Lebensgrundlage oder kleine Entwicklung gleich wieder kaputt machen. Gehe zwei Schritte im Text zurück.

Den Regierungen vor Ort wird Korruption vorgeworfen. Anstatt eine Entwicklung für alle zu befördern, würden sie nur in ihre eigene Tasche wirtschaften. Da kann eine europäische Nation natürlich nur den Kopf schütteln und mehr Transparenz fordern, good governance, sprich gutes Regieren, dafür sollen die Regimes vor Ort sorgen. Diese Forderung ist dann wieder ein guter Titel, das zu machen, was dem eigenen nationalen Interesse entspricht.

Warum Regierungen in Ländern, deren heimische Ökonomie kaum Erträge einbringt, um den Staatsapparat zu unterhalten, die Tendenz haben, alle möglichen Geldmittel bei sich zu konzentrieren und sich dafür auch locker über selbstgemachte Gesetze hinwegsetzen; warum solche Regierungen Klientelpolitik machen, als einziger Weg, um sich wenigstens eine kleine loyale Gefolgschaft zu beschaffen, darüber haben wir anhand des Beispiels Mali geschrieben.3 Dort ist auch ausgeführt, worum es sich bei dem Anspruch „good governance“ handelt: Es soll so regiert werden, dass die Machtwechsel nicht zusätzlich die Staatsgewalt schwächen. An Staaten, aus deren Gesellschaft mit Notwendigkeit immer wieder der Drang entsteht gegen die aktuellen Machthaber selber an die Macht zu gelangen und dabei nicht selten der Staatsapparat die einzige halbwegs funktionierende Erwerbsquelle in der Gesellschaft ist, wird der Anspruch gestellt: Machtwechsel o.k., aber friedlich!

Es wird aber auch von Seiten europäischer Politiker zur Sprache gebracht, dass äussere wirtschaftliche Interessen für schlechte wirtschaftliche Zustände vor Ort sorgen. Freilich wird auch das durch eine nationale Brille gefiltert:

China betreibt „Land Grabbing“; kauft also vor Ort Land auf, sorgt für die entsprechende Infrastruktur, um dann dort erfolgreich Landwirtschaft zu machen – für die eigenen Zwecke. Böse. Es könnte einem daran auffallen, dass es nicht schwer wäre mit dem gegebenen Stand der Technik in Afrika eine ertragreiche Landwirtschaft zu betreiben – wenn man das für die Leute vor Ort machen wollte. Dieser Aufwand scheint aber zu hoch zu sein für das nationale Interesse an der Vermehrung des Geldreichtums, da scheinen Frontex und Eurosur vergleichsweise bessere Nebenkosten zu sein.

Europa überflutet die dortigen Märkte mit subventionierten Lebensmitteln und untergräbt entsprechend die dortige Landwirtschaft, die ebenfalls aufs Geldverdienen angewiesen ist. Aus der deutschen Brille wird dann gerne auf Spanien verwiesen, deren Fischereiwirtschaft sich Fangrechte entlang Nord-West-Afrika organisiert hat und damit den Fischern in der Region die Fische wegschnappt.

Weniger ist die Sprache davon, dass eine verarbeitende Industrie aufgrund der Produktivkraftüberlegenheit der westlichen Firmen in vielen Teilen Afrikas von vorneherein keine Chance hat. Dass der Westen da auch nichts anbrennen lässt, wenn die Staaten verschuldet und vom IWF abhängig sind und von demselben aufgedrückt bekommen, hier keine kostspieligen nationalen Projekte voranzutreiben und gleichzeitig den freien Handel nicht zu beschränken. So wie die eigenen Subventionen von Lebensmitteln immer weiter gekürzt werden sollen, da der IWF sonst keine weiteren Kredite mehr vergibt. Der Export von Rohstoffen aber, produziert oder abgebaut von westlichen Firmen, die eh keine Arbeitskraft vor Ort, dafür aber Landflächen brauchen und verbrauchen (siehe Shell im Niger-Delta), wird als einzig senkrechter nationaler Entwicklungsweg vorgeschrieben.

Mit Blick auf das ganze Elend fordern dann einige europäische Regierende und Presseleute die Entwicklungshilfe auszubauen, die noch nicht umfassend und ausreichend genug sei. Dafür brauche es vor Ort die richtige Regierung (siehe zwei und drei Abschnitte vorher) und so werden immer mehr Gelder der originären Entwicklungshilfe für polizeiliche und militätrische Zwecke umfunktioniert. Aber auch abgesehen davon, sorgen Schulen vielleicht für mehr Leute, die Lesen und Schreiben können, die dann aber ökonomisch gar nicht gebraucht werden, weil eine nennenswerte Industrie vor Ort aufgrund der überlegenden Konkurrenz des Westen eh nicht entsteht. Zugleich sorgt der Westen dafür, dass der einzige vorgesehene Weg für eine Existenz das Geldverdienen bleibt.

2. Fluchtwege

Die Fluchtwege, vor allem durch die Sahara, sind hart und gefährlich, wobei überwiegend unterschlagen wird, dass es natürlich viel einfachere Wege gäbe – Flugzeuge und moderne Schiffe, wie jeder Tourist sie benutzt. Der Konsens unter den europäischen Regierungen besteht dann darin, dass die Leute , wenn sie denn schon fliehen müssen, in der Region bleiben sollen. Dafür unterhält sich die Staatengemeinschaft ein Flüchtlingshilfswerk der UNO. Ikea darf da gerade neue 1.000 Euro-Kleinhäusercontainer statt Zelte Probetesten, damit die Leute in der Region in den Massenflüchtlingscamps bleiben (Ist dem Spiegel ein Artikel wert in der Ausgabe vom 21.10.2013 nach dem Motto – guck mal, das was du als Steckbaukasten zu Hause hast, darin leben jetzt vielleicht zukünftig Flüchtlinge in Afrika).

Sahara-Anrainer einbinden

Die Flüchtlinge vor den europäischen Grenzen müssen an diversen Grenzposten vorbei, dafür sorgt vor allem die EU. Irgendwie immer wieder erwähnt, aber keiner weiteren Verwunderung wert, wird berichtet, dass Italien mit Gaddafi ein Abkommen hatte, in dem Libyen sich verpflichtete, die Flüchtlinge im eigenen Land abzufangen. Solche Abkommen versucht die EU seit langem allen Sahara-Anrainern mit wirtschaftlicher Erpressung nahe zu bringen. Darin erklärt die EU ihr „nachbarschaftliches“ Interesse an dem Ausbau der Grenzsicherung in den nördlichen afrikanischen Staaten. Gaddafi wollte damit ein Stück weit mehr in die westliche Normalität gelangen – der Versuch hat ihm nichts genützt. Wenn das Abkommen erwähnt wird, dann glatt mit der Empörung, dass Gaddafi das Abkommen nicht mehr einhielt, als die EU Krieg gegen ihn gemacht hat. Er wollte die EU erpressen!

Auf jeden Fall gelten die gewünschten Abkommen als ein Mittel, „Tragödien“ wie Lampedusa zukünftig zu vermeiden. Die Leute würden das Mittelmeer gar nicht erreichen und was in den Flüchtlings-Camps in Afrika los ist, wird schon kein Schwein interessieren, bzw. kann die EU ja nichts dafür, denn das liege ganz in der nationalen Verantwortung der afrikanischen Staaten.4

Zu wenig legale Wege

Um überhaupt an die europäische Grenze zu kommen, müssen die meisten Flüchtlinge über das Mittelmeer. Und da sie von keinen vernünftigen Schiffen mitgenommen werden dürfen, müssen sie es illegal mit den abenteuerlichsten Geräten versuchen.

In diesem Zusammenhang kommt das Grenzregime von Europa deutlicher zur Sprache. Es gibt ein paar kritische Stimmen, die meinen, man müsse mehr legale Arten und Weisen etablieren, auf denen die Leute sicher nach Europa kommen können – das Gerät sei ja vorhanden, wovon nicht nur die modernen Frontex-Schiffe zeugen.

In der Mehrheit kontern die Regierenden schlicht mit dem Argument: „Wir können nicht alle aufnehmen und wenn man mehr legale Wege eröffnet, dann macht man den Leuten nur falsche Hoffnungen auch bleiben zu dürfen“. Dieser Vorwurf wird dann in der Öffentlichkeit nicht gekontert mit: „Das ist Heuchelei, ihr wollt einfach was anderes“, sondern es wird gesagt: „Aber ihr seht doch, dass man Flüchtlinge praktisch nicht verhindern kann. Das bisherige System ist unpraktikabel“. Damit wird den Regierenden in ihrem politischen Willen, Flüchtlinge nicht haben zu wollen, Recht gegeben.

Vorerst ist mit dem Machtspruch der Regierenden alles entschieden. Es kann aber sogar sein, dass die Debatte in der politischen Elite weitergeht und dann doch irgendwann ein erweitertes Green- und Bluecard-System herauskommt. Das würde dann für passgenaue Arbeitskräfte für die Nation und für den unerbittlichen Willen sorgen, die Unpassenden draussen zu halten.5

Schleuser

Dass verzweifelte Leute selbst mit Schlauchbooten versuchen über das Mittelmeer zu kommen, ist das eine. Das sorgt aber nicht für 300-400 Tote auf einmal. Dafür braucht es schon grössere Schiffe und die sind ohne Geld in der heutigen Welt nicht zu haben. Also kommt in der Debatte auch das grosse Thema Schlepper und Schleuser auf den Tisch. Wo Leute in besonderer Not sind, lässt sich richtig Geld verdienen, das weiss jeder anständige Unternehmer. Und wo das Geschäft illegal ist, lassen sich bei und wegen einem Risiko noch ordentliche Extragewinne machen. Kein Wunder, dass sich in Afrika genügend Leute finden, mit den Flüchtlingen ein Geschäft aufzumachen. Und weil es ums Geschäft geht, ist es auch kein Wunder, dass die Sicherheit des Menschenlebens ein untergeordneter Gesichtspunkt ist, wenn z.B. die Boote mit so vielen Leuten wie möglich vollgestopft werden.

Mit diesen Geschäftsleuten will die EU wiederum nichts zu tun haben – das sind Kriminelle, die irgendwo herkommen – schliesslich hat man's verboten.

Nun ist klar, dass das Geschäft auf dem Verbot der EU beruht. Dass die Flüchtlinge so erpressbar sind, ist nicht die Tat der Schleuser, sondern der Staaten, die ihre Grenzen schliessen und bewachen. Dass die EU-Staaten samt NATO alle Welt aufs Geldverdienen verpflichtet, statt auf Bedürfnisbefriedigung, könnte einem als Grund einfallen, warum es solche Geschäftemacher gibt. Auch, dass die EU mit den eher dürftigen legalen Geschäftsbedingungen am Südmittelmeer einiges am Hut hat, könnte den Unschuldsgedanken in Zweifel ziehen.

Auf den Kriminellen lässt sich herzlich herumtrampeln und ihre Gleichgültigkeit gegen Mensch und Leben herausstellen. Wieder ist ein Auftrag im Namen der Ertrunkenen kreiert: Europa muss den Schleppern das Handwerk legen. Gut, dass die EU mit Eurosur schon geplant hatte, modernste Satellitentechnik einzusetzen, um das Mittelmeer lückenlos zu scannen. Das Überwachungssystem wurde dann auch eine Woche nach „Lampedusa“ ins Werk gesetzt.

Wenn die verantwortlichen Politiker das Bild von Schleppern zeichnen, denen das Menschenleben egal ist, dann können sie auf tatsächliche Beispiele zurückgreifen. Diese Beispiele werden verallgemeinert, damit sich die EU dann in die Menschenretterpose schmeissen kann und sich so einen tollen moralischen Titel schafft, um das zu machen, was sie will: Hilfe für ungewünschte Flüchtlinge insgesamt zu unterbinden. Das trifft dann eben auch die Verwandten, Freunde oder sonstige Menschen, die schlicht die Flucht schon geschafft haben und versuchen, den Leuten dort, wo sie selber herkommen, Tipps zu geben, wie man es überhaupt nach Europa schaffen kann. Auch diese Netzwerke werden dann mit dem Titel Schlepper versehen und jeder soll sie sich als gewissenlose Mörder vorstellen.

Verbot von Seenotrettung

Im Zuge der 300-400 Toten kommen ein paar Besonderheiten ans Tageslicht. Es gibt glatt eine Strafe für Fischer oder andere Schiffsbetreiber im Mittelmeer, wenn sie illegale Flüchtlinge in Seenot an Bord nehmen. So die italienische Gesetzgebung.

Die italienische Regierung hat den Aufschrei um Lampedusa als Gelegenheit entdeckt, ein wenig mehr Geld von der EU zu fordern und fördert deswegen den humanitären Aufschrei, der durch Europa geht, nach Kräften. Und zwar so, dass sie Deutschland der Gleichgültigkeit bezichtigt, weil es die ganzen angeblichen humanitären Aufgaben an Italien abwälzt.

Die deutsche Seite kontert: „Ha, von wegen Humanität, wenn man solche inhumanen Gesetze macht“. Die deutsche Regierung selbst, da geht sie mit der deutschen Presse d'accord, könne natürlich nichts für solcherlei nationale Gesetze wie in Italien. Man habe sich auf europäischer Ebene geeinigt, dass diejenigen Länder für die Flüchtlinge zuständig sind, wo sie ankommen (Drittstaatenregelung, mit der sich Deutschland bei Beibehaltung des Asylzweckes, die Kosten und den Aufwand des Asyls einsparen will).

Wie dann die jeweiligen nationalen Regierungen mit den geteilten Pflichten umgehen, da kann Deutschland natürlich nicht mitreden, weil es eben nationale Sachen sind. Deutschland bemüht sich hier derselben Argumentation wie anerkannte und ehrenwerte Grossunternehmen, die nichts für das Gebaren ihrer Subunternehmen können.

Ansonsten lautet das Angebot der Stunde: Frontex, also diejenige Institution, die materiell die Festung Europa an den Rändern mit ihrem Militärgerät herstellt und gerade den Grund für die waghalsigen Versuche über das Mittelmeer abgeben, soll sich zukünftig verstärkt für die Seenotrettung einsetzen.

3. Das Ankommen und Dableiben:

Wer das Mittelmeer überlebt, erreicht Italien, Spanien, Griechenland oder Malta.

Im Zuge der Berichterstattung über die „Tragödie“ werden die Lebensbedingungen in den Auffanglagern geschildert. Wieder wird an individuellen Lebensberichten nicht gespart und im Grunde wird auch nichts beschönigt. Lauter traumatisierte Menschen sind auf engsten Raum zusammengepfercht und haben nicht einmal ein Dach über den Kopf.

Wie die Lage in den Lagern funktionalisiert wird

Die italienische Regierung beschönigt hier nichts, weil sie auf Grund dieser Sachlage mehr Gelder und einen anderen Aufteilungsschlüssel für die angekommenen Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten von der europäischen Union verlangt. Das wird von Deutschland & Co. im Grunde abgelehnt. Italien bekomme genug und solle seinen Pflichten nachkommen. Dabei bezieht sich die deutsche Regierung auf Berichte, dass Italien den Aufwand für die Lager und die Flüchtlinge gar nicht betreiben will. Italien macht seinen eigenen Beitrag dafür, dass die Geflüchteten elende Bedingungen vor Ort haben und lässt sie gerne weiterflüchten – damit sie gen Norden ziehen. Das ärgert Deutschland.

Deutschland macht wiederum den Aufenthalt innerhalb seiner Staatsgrenzen so unangenehm wie möglich (Residenzpflicht, ebenfalls überfüllte Lager und sonstige Schikanen), damit ja kein Hoffnungssignal an weitere potentielle Flüchtlinge im Süden gemacht wird. Über die Aufenthaltsbedingungen der Flüchtlinge wird auf diese Weise die Kostenkonkurrenz für den gemeinsamen Asylzweck zwischen den europäischen Staaten ausgetragen.

Wie die Lage der Illegalen funktionalisiert wird

Viele Flüchtlinge wissen, dass auf dem legalen Wege in Europa nichts zu holen ist und versuchen sich als Illegale durchzuschlagen. In Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, ist die Armut der lohnarbeitenden Klasse die dauerhafte Grundlage ihrer Botmässigkeit für das legale kapitalistische Geschäft. Illegale bieten da eine zusätzliche Notlage, die sich fürs Geschäft ausnutzen lässt. So waren und sind Illegale zum Beispiel in Spanien und Italien lange Zeit ein wichtiger Teil der dortigen Ökonomie. Das zeigt sich auch an der Meldung, die in den Medien kursierte, dass Illegale als Saisonkräfte auf spanischen Grossplantagen arbeiten und das Pflanzenschutzgift aus Flugzeugen direkt auf die arbeitenden Kräfte abgeworfen wird. (Auch eine Art und Weise die Poren des Arbeitstages zu schliessen, wenn es das Kapital nicht aushält, Menschen eine Pause machen zu lassen).6

Auch die miserablen Lebensbedingungen der Illegalen in Deutschland werden in der Presse nicht verschwiegen, wenn es auch nicht richtig erklärt wird. Im Spiegel vom 21.10.2013 wird ein Illegaler, der sich am Stadtrand von Hamburg auf einer Brache in einem Container ohne fliessend Wasser durchschlägt, interviewt. Er sagt, er würde am liebsten zurück nach Afrika, weil dort die Situation doch besser war als jetzt in Deutschland (er kann aber nicht zurück, weil im Herkunftsland durch seine Familie Geld gesammelt wurde, damit er Deutschland erreicht und es wird dort erwartet, dass Geld zurückfliesst).

Die elende „Lage“ der Flüchtlinge in Deutschland, die Deutschland selbst aktiv und bewusst mit herstellt, wird so zum Argument gemacht, sich verstärkt darum zu kümmern, dass sie Europa bzw. Deutschland gar nicht erst erreichen. Das sei dann ein Dienst an den Flüchtlingen und an Europa.

Teil III: Ein Fazit und warum die Politik wen nicht aufnehmen will

Das Resultat der Fluchtursachenanalyse:

Dafür haben die Toten bei Lampedusa gedient: Eine Debatte, in der sich die Öffentlichkeit darüber verständigt, dass die EU

- erstens mit der elendigen Situation der Flüchtlinge eigentlich nichts zu tun hat,

- zweitens aber doch schon eine Menge tut, aber noch nicht genug,

- drittens dieses Tun nur im Sinne der Flüchtlinge ist, sowie im Sinne der EU.

Alles Leid wird in einen Auftrag der Politik verwandelt.

Dagegen muss festgehalten werden:

Alles Leid wird in einen Auftrag der Politik verwandelt, die der Grund für dieses Leid ist. Die EU-Staaten wollen nationales kapitalistisches Wachstum und nehmen dafür die Welt in Beschlag und schaffen das politische wie wirtschaftliche Elend, dessen sich Menschen durch Flucht entziehen wollen. Für die EU Staaten sind diese Flüchtlinge eine für ihre Zwecke überflüssige Bevölkerung, die in den Herkunftsländern und erst Recht in Europa stört.

"Wir können ja nicht alle aufnehmen“

In der Debatte gibt es noch ein nicht behandeltes Argument: „Wir können ja nicht alle aufnehmen.“ Dieses Argument liegt fast allen oben bestimmten Debatten über Fluchtwege, Ankommen und Dableiben zu Grunde. Das „Argument“ ist in mehreren Hinsichten verlogen.

Erstens: Wer ist denn dieses „Wir“? Regierungen beschliessen, wer rein darf und wer nicht.

Zweitens: Der Satz unterstellt, dass es (auch unabhängig von Flüchtlingen) in dieser Gesellschaft eine kooperative Absprache gäbe, wie man Menschen eine Lebensgrundlage sichern könnte. Die Lohnarbeitenden haben sich aber im Gegenteil nach der Konjunktur und dem Bedarf des Kapitals zu strecken. Nie ist es andersherum, dass die Bedürfnisse der Menschen zum Ausgangspunkt gemacht werden und dann gefragt wird: Wie sollten wir die Wirtschaft dafür einrichten.

Die fehlende Kritik der kapitalistischen Ökonomie ist einer der Gründe, warum linksliberale Bürger selber immer wieder das Argument „man kann ja nicht alle aufnehmen“ implizit oder explizit mittragen. Sie mögen keinen Unterschied in der Frage machen, ob ihr Nachbar ein Deutscher oder ein Mensch ist, der sonst irgendwo her kommt. Sie mögen vollste Empathie mit den Geflüchteten haben. Dem „Argument“ - ja, geht das denn, wenn in den kommenden Jahren 5 Millionen Leute kommen - haben sie nichts entgegenzusetzen, weil auch sie sich dann in den Realismus des „können die Sozialsysteme, die auf den Beiträgen der Beschäftigten beruhen, das tragen?“ hineindenken.

Drittens ist mit der „Integration“ in erster Linie gar nicht das Arbeiten und Wirtschaften gemeint, sondern die politische Forderung, dass die Leute hierzulande Deutschland gegenüber loyal zu sein haben. Hier hat die Politik prinzipiell einen deutlichen Vorbehalt gegenüber Ausländern. Wirtschaftspolitisch wird dieser Vorbehalt bedingt relativiert, wenn z.B. Fachkräfte aus dem Ausland angeworben und ihnen ein Aufenthalt in Deutschland gewährt wird. Flüchtlinge dagegen sind Ausländer, die kein Politiker bestellt hat. Selbst wenn unter ihnen Fachkräfte sind: Sie sind illegal gekommen und das ist erst mal ein deutliches Minus in Sachen Loyalität. Fachkräfte holen sich Staatenlenker anders.

Dass es nicht alleine um die Masse Menschen in Deutschland geht, sondern um solche, von der sich die Politik eine besondere Loyalität verspricht, zeigt sich daran, dass parallel zum „Boot ist voll“-Bild, das dauernde Gejammer darüber besteht, dass „urdeutsche“ Frauen zu wenig Kinder in die Welt setzen.

Nicht nur die deutsche Politik hält (im Ergebnis gar nicht zu unrecht) die Staatsbürgerschaft aufgrund von Blutslinie für ein unschlagbares Loyalitätsprogramm, in dem Leute herauskommen, die das Wohl und Wehe Deutschlands für ihr persönlichstes Anliegen halten. Und diese Identifikation mit der Nation ist dem deutschen Staat wichtiger als kleinliche Berechnungen, wie man wirtschaftlich so über die Runden kommt. Auf die Blutslinie als politisches Loyalitätsprogramm verzichtet kein Staat der Welt, einige – mittlerweile auch Deutschland – kennen daneben noch andere Kriterien der Staatsbürgerschaft.

Flüchtlinge dagegen, die nur wegen der Armut fliehen, sind in diesem brutalen und bedürfnisfeindlichen Gedankensystem unbrauchbar: Sie gehen ja nur weg, weil sie es persönlich besser haben wollen, anstatt alles persönliche Elend in Kauf zu nehmen und ihre Nation tatkräftig zu unterstützen, wie es die Trümmerfrauen einst in Deutschland gemacht haben.

Kurzum: Die Wahrheit von „Wir können ja nicht alle aufnehmen“ heisst: Die um die Nation besorgte Politik will nicht alle und auch nicht viele aufnehmen.

Für das Programm „nationaler kapitalistischer Reichtum“ sterben Menschen rund um und in Europa. Und dieses Sterben wird für dieselbe Politik in der Debatte um Lampedusa fruchtbar gemacht.

Teil IV: Die Arbeitsteilung der deutschen Regierung

Die Regierung: Weiter so, nur engagierter

Die deutsche Regierung beherrscht das Spiel der Selbstbezichtigung sehr gut: Wir haben bisher zu wenig getan, deshalb sollten wir mehr tun:

Eine Staatsministerin verspricht, dass die Bundesregierung sich mehr dafür einsetzen wird, dass Frontex auch zur Seenotrettung beitragen soll – was natürlich schon längst ein Unterauftrag sei.

Der scheidende Minister für Entwicklungshilfe, verspricht für noch mehr Entwicklung zu sorgen.

Der Innenminister verspricht noch konsequenter die Schleuser zu bekämpfen.

Der Antrag von Italien, dass Deutschland mehr Geld geben soll oder mehr Flüchtlinge aufnehmen solle, wird zurückgewiesen.

Der Bundespräsident: Rettet die Werte!

Der Bundespräsident Gauck gab gleich am Tag nach der „Tragödie“ den Blickwinkel vor, um den es in der Debatte zu gehen hat: Die Werte von Europa stehen auf dem Spiel.7 Kurz gesagt: Alle moralischen Titel, in denen sich die nationalen Interessen der EU-Staaten kleiden, sind durch die vielen Toten auf einmal angekratzt. Betroffenheit ist fällig, um zu zeigen, die Werte sind da. Selbstkritik ist fällig, um zu zeigen, wie sehr diese Werte der Grund der Politik seien (und nicht, was die Wahrheit ist: Die Werte beschönigen die machtpolitischen Interessen).8 Damit das keiner missversteht, erklärt Gauck gleich dazu, wie fehlbar der Mensch an sich sei und der Kampf um die Werte ein ewiger Kampf bleiben wird - also ein naives messen, dass wo gesagt wird, kein Mensch dürfe sterben, auch kein Mensch zu sterben habe, fehl am Platze ist. Und alle politischen Repräsentanten haben sich erneut Mühe gegeben, die Projekte mit dem Namen der Menschlichkeit zu dekorieren.9

Die Betroffenen am 03.10.2013 waren nicht die 300-400 ertrunkenen Flüchtlinge. Der Betroffene war der Wertehimmel, mit dem sich das brutale Programm des nationalen Kapitalismus in Europa schmückt. Diesen Wertehimmel galt es zu flicken.10

Gruppen gegen Kapital und Nation

Fussnoten:

1 Dies verpasst Jan Ole Arps, wenn er im AK vom 15.10.2013 schreibt: „Ekelhaft ist drittens, dass selbst im Tod die Opfer der europäischen Flüchtlingspolitik noch einen identitätsstiftenden Nutzen für Europa haben. Als Flüchtlinge, TeilnehmerInnen einer grossen Elendsbewegung, bleiben sie das gesichtslose, leidgeprüfte, dunkle Gegenbild zum aufgeklärten, entwickelten, demokratischen Europa und bestätigen uns letztlich, wie viel zivilisierter, individueller und vielschichtiger wir EuropäerInnen mit unseren Europäerproblemen sind. Das funktioniert auch deshalb gut, weil es uns die Auseinandersetzung mit der einzelnen Person erspart. So bleibt zum Beispiel Yonas (der jetzt tot ist) ein »Flüchtling«, das schafft Abstand zwischen ihm und uns. Dabei hätte er ebenso gut ein Freund oder Vereinskollege oder nerviger Nachbar sein können.

Zumindest auf den Erinnerungsfotos der Toten, die einige Medien veröffentlichten, kann man das zum Glück noch erkennen: ein junger Mann, eine junge Frau, ein Gruppenbild, einer sieht nett aus, ein anderer ziemlich bescheuert - in etwa so wie die Leute auf dem Jahrgangsfotos der eigenen Schule, die super Leute neben den grössten Deppen.“

2 Wie sich über Fluchtursachen und Fluchtwege Gedanken gemacht wird, hat von Anfang an eine unangenehme dauerhafte Begleitunterstellung: „Wir können nicht alle aufnehmen“ - dazu am Ende des Textes mehr.

3 Siehe https://gegen-kapital-und-nation.org/mali-–-und-noch-ein-anti-terror-k...

4 Es gibt mittlerweile „Mobilitätspartnerschaften“ mit den Maghrebstaatenmit dem Ziel Massnahmen zur legalen und illegalen Einwanderung zu verknüpfen und so mehr Druck auf die Staaten auszuüben. Zudem haben eine ganze Reihe von nordafrikanischen Staaten auf Druck der EU (wirtschaftlich-entwicklungspolitisch) Massnahmen selbst umgesetzt: Z.B. Gesetz gegen illegale Migration in Marokko (2003). Darüber hinaus gibt es zwei Programme: TACIS (2000-2006 für osteuropäische und zentralasiatische Staaten) und MEDA-programme (für Subsaharastaaten bis von 2002 bis 2004). Darin wurden wirtschaftliche Massnahmen mit Massnahmen zur Grenzsicherung verbunden. Jetzt läuft das alles unter dem Titel: „Europäisches Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument“ (2007-2013). Hier wird Entwicklungspolitik mit Grenzpolitik verknüpft durch finanzielle und technische Unterstützung bei dem Ausbau der Grenzsicherung.

5 Das Prinzip gibt es übrigens schon: in der „Mobilitätspartnerschaft“ mit den Maghrebstaaten geht es genau darum Kriterien für legale Einwanderung stärker nach den Bedürfnissen der europäischen Arbeitsmärkte auszurichten: befristet natürlich.

6 An dieser Stelle geht es darum, wie die Lage der Illegalen für die Debatte um den weiteren Ausbau der Festung Europa produktiv gemacht wird. Natürlich stellt die Behandlung der Illegalen durch das Kapital in Europa selber eine Funktionalisierung dar, auf die manche Regionalpolitiker gar nicht mehr verzichten wollen. Die Treppe der politischen Güterabwägung geht dann so:

Erstens stehen alle Ausländer unter dem generellen Verdacht, der Nation gar nicht unbedingt loyal gegenüber zu sein.

Zweitens haben die Staaten gelernt, dass es sich dennoch lohnt, die einen oder anderen Ausländer hereinzulassen, damit sie sich als Arbeitskräfte für die Nation nützlich machen können. Heutzutage vor allem in der Fachkräftemangeldebatte en vouge. Dafür erlässt der Staat gezielte Aufenthaltsrechte und wirbt auch gezielt an.

Drittens: Die Flüchtlinge dagegen hat der Staat nicht bestellt und selbst wenn dort brauchbare Fachkräfte mit dabei sind, will er sie so nicht. Die kann er schliesslich gezielt anwerben. (Die Verfechter einer noch menschlicheren Asylpolitik meinen, dass hier doch mehr zu holen sei, wenn sie die Forderung nach mehr legalen Einreisemöglichkeiten mit dem Hinweis auf potentielle Fachkräfte unterstreichen).

Viertens: Noch die modernsten militärischen Flüchtlingsabwehrmassnahmen zeigen aber: Absolut verhindern kann man die Einreise von Illegalen nicht.

Fünftens: Zunächst gar nicht politisch gewollt, machen sich findige Unternehmer daran, die besondere Notlage der Illegalen für ihr Geschäft zu funktionalisieren.

Sechstens: Politiker vor Ort bemerken oder bekommen es von der unternehmerischen Elite mitgeteilt, dass jetzt vor Ort ein Stückchen Ökonomie entstanden ist, dass erstens einen deutlichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum bringt und zweitens ohne Illegale gar oder nicht so gut ginge. Das wird von der Politik anerkannt und ein Auge zugedrückt bei der Verfolgung der Illegalen.

Siebstens: Zugleich widerspricht es dem Stil der bürgerlichen Politik rechtsfreie Räume zuzulassen und so kommt es manchmal dazu, dass ein Teil der Illegalen legalisiert werden. Das ist ärgerlich für die Unternehmen, aber der Nachschub kommt dann ja.

7 „Wegzuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, das missachtet unsere europäischen Werte.“ Gauck am 04.10.2013.

8 „Wenn wir also nun an das Wunder der deutschen und der europäischen Einigung erinnern, lassen Sie uns immer mit bedenken, dass unser Kontinent trotz aller Fortschritte alles andere als perfekt ist – genauso wenig wie unser Staat und unsere Demokratie. Es bedarf, wir wissen es alle, unseres täglichen Engagements, um dem elementarsten Recht Geltung zu verschaffen: dem Recht auf Leben.“ ebd.

9 „Den perfekten Staat oder die perfekte Gesellschaft können wir nicht erwarten, denn der perfekte Mensch ist ja noch nicht geboren, der eine solche Gesellschaft hervorbringen könnte. Wir alle sind Mängelwesen, und das fällt uns öfter auf, als wir es uns wünschen. Wir verkalkulieren uns und wir machen Fehler. Wir machen übrigens nicht nur Fehler, sondern wir laden auch Schuld auf uns. Das gehört zu unserem menschlichen Mass.“ ebd.

10 Aus diesem Zweck, den Wertehimmel zu pflegen, erklärt sich auch folgender Zynismus: Während die Überlebenden von Seiten Italiens ein Verfahren wegen illegaler Einreise an den Hals bekommen haben, wurden die Toten posthum zu italienischen Staatsbürger erklärt. Und weil das viele innerhalb von Italien und vor allem ausserhalb Italiens nicht als einen gelungenen Beitrag zur Pflege des Wertehimmels betrachtet haben, wurde das Projekt in den Medien kritisiert.