Wer Frieden will rüste sich zum Krieg Si vis pacem para bellum

Politik

„Wer redet, der schiesst nicht", sagt die Bundesaussenministerin Annalena Baerbock.

Bombardement des Fernsehturms in Kiew, März 2022.
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Bombardement des Fernsehturms in Kiew, März 2022. Foto: Mvs.gov.ua (CC BY 4.0 cropped)

7. März 2022
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Da könnte man ja mal beruhigt sein, denn so viele Spitzentreffen und Videoschaltungen von Staatschefs aller Herren Länder, wie im Frühjahr 2022, gab es selten.

Nur ist der Zusammenhang von Diplomatie und Krieg ein völlig anderer als er von den zuständigen Kriegsherren und -damen immer mal wieder behauptet wird. Diplomatisch teilen sie sich nämlich wechselseitig mit, was sie voneinander wollen und definieren dabei „rote Linien“, bei deren Überschreitung sie gewillt sind, einen Krieg gegeneinander zu führen. Über die Gründe, warum Russland, Ukraine und die NATO-Staaten sich für den Krieg rüsten, geht es in diesem Text. Dafür muss man nicht nach geheimen Interessen suchen, die hinter den Kulissen wirken, sondern kann sich ganz auf die offiziellen Verlautbarungen stützen.

Die geben alles her, was man zum Verstehen braucht. Freilich muss man da trennen zwischen dem, was sich die Staatschefs wechselseitig mitteilen und dem, was mehr an die eigene Bevölkerung gerichtet ist. Dass die gegnerische Seite lügt, betrügt, alleine aggressiv ist und damit letztlich einfach „böse“ ist, das bekommt jeder in seiner Heimatpropaganda zu hören. Damit weiss man dann nichts über den Krieg, sondern bekommt so mitgeteilt, dass der eigene Staat „gut“ ist und gar nicht anders kann als mit Kriegsvorbereitungen oder gleich Kriegshandlungen zu „reagieren“, obwohl er das echt nicht will. Für das Fussvolk sind das also lauter moralische Gründe, dem eigenen Staat die Daumen zu drücken, den andern zu verteufeln, die kommenden wirtschaftlichen Schäden opferbereit anzunehmen oder sich selbst als Kanonenfutter bei der Musterung anzubieten.

Diese Legitimationen des Krieges behandelt der Text nur am Rande. Hier soll nur dazu aufgefordert werden, sich einmal fünf Minuten die Frage, wer gut oder böse ist, zu verkneifen und sich nüchtern zu fragen: Was ist hier los? Danach kann man sich wieder Fragen widmen, wem man die Daumen drücken will – wir meinen, dass die Antwort dann ist: Niemandem.

Was fordert Russland, was fordert der „Westen“?

Wechselseitig teilen sich die staatlichen Protagonisten mit, was sie voneinander wollen. Diese Forderungen und die Antworten darauf seien hier am Anfang nochmal aufgelistet, um zum einen den Umfang dessen zu beschreiben, was alles eine Rolle spielt und zum zweiten um deutlich zu machen: keine der Forderungen ist neu, sie sind seit langem bekannt. Das ist wichtig festzustellen, weil damit klar ist, dass die potentiellen Kriegsgründe tiefer liegen, als in irgendwelchen konkreten Ereignissen im Frühjahr 2022.

Russland fordert:
  • Eine Beendigung der Ostausdehnung der NATO. Mindestens die Ukraine darf nicht NATO-Mitglied werden. Mitgemeint sind aber auch: Georgien, Republik Moldau, Schweden, Finnland.
  • Umsetzung des Minsker-Abkommens, d.h. für Russland vor allem: direkte Verhandlungen mit den Separatisten und Sicherstellung des Autonomiestatus. Der Westen müsse auf die Ukraine Druck ausüben, um dies zu befördern.
  • Stopp der Aufrüstung der Ukraine durch westliche Mächte.
  • Stopp mit der Aufrüstung anderer osteuropäischer NATO-Staaten und der dortigen Abhaltung von NATO-Manövern.
  • Insbesondere Stopp der Stationierung bestimmter Waffensysteme in den osteuropäischen NATO-Staaten – begleitet mit dem Vorwurf, dass damit irgendwelche Verträge der Vergangenheit unterlaufen werden. Zusammengefasst ist das in der Forderung nach Sicherheitsgarantien in Europa und für Russland. Hinzu kommen dann Forderungen in Sachen Formfragen:
  • Direkte Verhandlungen mit den USA (statt nur mit Deutschland oder Frankreich).
  • Direkte Verhandlungen mit der NATO statt etwa im Rahmen der OECD. Was der Westen von Russland fordert bzw. wie der Westen auf diese Forderungen reagiert:
  • Kein Ende der „Open Door Policy“: Wenn ein Staat will und den Antrag stellt, und die NATO-Mitglieder das gut finden, dann bekommt der Staat auch die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft.
  • Russland soll das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkennen = Rückzug der russischen Truppen aus der Krim, aus der Ostukraine sowie aus Georgien (aus Sicht Russlands: Abchasiens und Südossetiens) und Moldawien (aus Sicht Russlands: Transnistrien.)
  • Manöver Russlands in der Nähe der osteuropäischen Staaten müssen aufhören.
  • Insbesondere Stopp der Stationierung bestimmter Waffensysteme an den Grenzen zu den osteuropäischen NATO-Staaten – begleitet mit dem Vorwurf, dass damit irgendwelche Verträge der Vergangenheit unterlaufen werden.
Wie bereits angemerkt, keine dieser Forderungen von Russland oder der NATO sind neu. Mit ihnen belämmern sich die Kontrahenten seit Jahren. Eine Sache mag aktuell eine Veränderung sein:

Die USA bzw. der neue Präsident spricht tatsächlich mehr direkt mit Putin und nimmt sich der Sache verstärkt an – ohne einen Kompromiss in der Sache anzudeuten.

Alle Seiten beteuern, dass sie keinen Krieg wollen. Aber Drohungen werden reichlich ausgesprochen.

Russland: „Wir wollen keinen Krieg, wir brauchen ihn überhaupt nicht“1

Der russische UN-Botschafter wird am 01.02.2022 vom Handelsblatt wie folgt zusammengefasst:

„Russland will nach Angaben seines UN-Botschafters auch dann keinen Krieg in der Ukraine beginnen, wenn die Forderungen nach Sicherheitsgarantien seitens der Nato und USA scheitern sollten. „Ich kann das ausschliessen“, sagte der Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen, Wassili Nebensja, der Agentur Interfax zufolge in New York. Auch wenn die Verhandlungen über die Sicherheit in Europa scheitern würden, werde es keinen Überfall Russlands auf die Ukraine geben. Nebensja hatte den USA in der UN-Sitzung am Montag vorgeworfen, einen Krieg in Europa herbeireden zu wollen. Russland sieht sich durch US-Waffen und die Nato bedroht und fordert deshalb Sicherheitsgarantien. Zugleich schliesst die Führung in Moskau ein Eingreifen im Konflikt um die Ostukraine nicht aus, sollte Kiew mit einer Militäroperation versuchen, sich die abtrünnigen Gebiete im Donbass mit Gewalt zurückzuholen. Russland könnte unter Berufung auf seine Militärdoktrin zum Schutz seiner Bürger dort einmarschieren.“

Der russische UN-Botschafter tut kund, dass die Forderungen an die NATO nicht mit einer Kriegsandrohung verbunden sind, um am Ende ein ABER einzufügen:

Mit der Militäraktion seitens Kiew gegen die Ostprovinzen hat Russland freilich einen recht dehnbaren Kriegseintrittsgrund ausgesprochen: Denn, dass die Regierung in Kiew die abtrünnigen Republiken zurückholen will, dafür auch Militär einsetzt und sich aufrüstet, ist klar. Dass an der Konfliktlinie ständig Kriegshandlungen durchgeführt werden, ist Fakt.

Auf dieser Grundlage ist von Russland sehr wohl eine Kriegsandrohung ausgesprochen. Und die Frage, wann Russland meint, dass die Ukraine die Ostprovinzen mit Militäroperationen zurückholen will, ist damit schlicht in die Entscheidungshoheit Russlands gesetzt. Russland hätte das schon vor einigen Jahren als Fakt feststellen können und könnte das genauso gut heute, wie in zwei Wochen oder in einem Jahr feststellen.

In der Verbindung von Forderungen an die NATO mit diesem dehnbar zu interpretierbaren Kriegseintrittsereignis, macht Russland dem Westen deutlich: Reagiert auf unsere Forderungen, sonst nehmen wir uns die Freiheit, die Lage in der Ukraine nicht nur indirekt vermittelt über Waffenlieferungen, sondern direkt mit der russischen Militärmacht entscheidend zu ändern.

Wenn Russland meint, dass an den Grenzen der Ostprovinzen ein Zuviel an militärischen Engagement seitens Kiew vorhanden ist (bzw. seinen Forderungen seitens der NATO zu wenig Respekt entgegengebracht wird), dann hat Russland mehrere Optionen:

Noch mehr Aufrüstungshilfen für die Ostprovinzen, Söldner reinschicken bis hin zu eigenen Soldaten hinschicken. Würde Kiew das zum Anlass verstärkter Militäraktionen dort nehmen, könnte Russland wiederum den Westen der Ukraine mit Krieg überziehen (bzw. Truppenverlegungen der Regierung in Kiew militärisch verhindern), nicht um sich die gesamte Ukraine einzuverleiben, sondern um die abschliessende faktische Abspaltung der Ostprovinzen durchzusetzen.

Oder aber: Gar nichts machen, die Massenmanöver rund um die Ukraine beenden, um sie dann in drei oder sechs Monaten einfach zu wiederholen. So hält Russland die NATO auf Trab, kann jederzeit dennoch den Übergang machen oder nur darauf spekulieren, dass die Drohungen die Interessenunterschiede innerhalb der NATO vorantreiben – dazu gleich mehr.

Die NATO: „NATO does not seek confrontation“2

Die NATO will also auch keinen Krieg, aber „verteidigen“ wollen sie einiges und das mit deutlicher Vorwärtsbewegung. Hier gehen die Standpunkte innerhalb der NATO aber auch ein wenig auseinander.

Niemand will Russland jetzt angreifen. Aber an einer Aufrüstung Osteuropas inklusive neuer NATO-Staaten, die irgendwann erlaubt, sich aus einem atomaren Patt herauszuarbeiten und einen Krieg gegen Russland durch Überlegenheit in diversen Waffensystemen ohne immense Kollateralschäden realistisch gewinnbar zu machen, daran arbeiten mit Hochdruck die USA, Polen und die baltischen Länder.3 Alle europäischen Staaten arbeiten daran mit, aber mit leicht angezogener Handbremse – dazu gleich mehr.

Die Ukraine lässt sich gerne aufrüsten von ihren erhofften NATO-Partnern in spe. Die USA, Grossbritannien und die baltischen Staaten kommen dem Begehren mit Verve nach. Andere Länder sind da vorsichtiger (auch dazu gleich mehr).

Die NATO-Position ist aber klar: Direkt wird sie die Ukraine bei einer militärischen Aktion Russlands nicht unterstützen. Wenn die Ukraine jetzt partiell zu einem noch grösseren Schlachtfeld werden sollte als sie es eh schon ist, dann ist nur eins versprochen: harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland bis hin zur Drohung mit der wirtschaftspolitischen „Atombombe“: dem Ausschluss aus dem SWIFT-System, also dem Ausschluss aus dem in Brüssel beheimateten internationalen Zahlungssystem, mit dem weltweit die Überweisungen der Privatbanken gemacht werden. Unmittelbar wäre damit Russland aus fast jedem internationalen Handel ausgeschlossen.

Hinsichtlich der Wirtschaftssanktionen ist vor allem Europa selbst gefragt und dann betroffen. In dieser Hinsicht sind einige Staaten zunächst zögerlich, insbesondere Deutschland mit seinem Nord Stream 2-Projekt. Vieles dreht sich um die Disziplinierung dieser NATO-Partner durch die USA unter Anfeuerung seiner europäischen Scharfmacher.

Den Forderungen Russlands in Hinsicht „hört auf Osteuropa aufzurüsten“ begegnet die NATO mit geschlossener und demonstrativer zusätzlicher Truppenverlegung in diese Gebiete. Hier sind fast alle Mächte engagiert mit dabei.

Für welchen Frieden sind alle Seiten jeweils bereit einen Krieg zu führen bzw. aktuell: die Ukraine führen zu lassen?

Sowohl Russland als auch der NATO geht es um nicht weniger als die Friedensordnung in Europa. Beide setzen das gleich mit einer „Sicherheitsarchitektur“. Den Frieden gibt es also nur, wenn die Waffengewalt, die alle Seiten mobilisieren, richtig abgestimmt und richtig eingesetzt wird. Und was „richtig“ ist, darüber gehen die Positionen aufgrund der nationalen Interessenlagen auseinander. Zwischen Russland und der NATO prinzipiell, aber auch zwischen den NATO-Staaten selbst gibt es nicht unerhebliche Unterschiede.

Nicht wenige Kriege in letzter Zeit legitimierte der Westen mit den Menschenrechten. Das Volk müsse gegen einen Diktator oder ein Unrechtsregime unterstützt und verteidigt werden. Gegen diese Kriege hat dann Russland immer das Selbstbestimmungsrecht der Völker hochgehalten (Jugoslawien, Syrien). Hier in der Legitimationsschlacht um die aktuelle Friedensordnung in Europa stellt die NATO hingegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker heraus, wenn sie von Russland verlangen, dass Entscheidungen von Regierungen, sich der NATO anzuschliessen, respektiert werden müssen.

Die Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker sind zwar keine inhaltsleeren Formeln, sie sind durchaus Prinzipien der internationalen Weltordnung. Aber internationale Vereinbarungen werden von Staaten eben beachtet oder nicht. Letztlich kommt es im konkreten Fall auf die wirtschaftspolitische und militärische Wucht der Staaten an, ob das eine oder andere Prinzip zur Geltung kommt. Auf jeden Fall eignen sich die Prinzipien, um einen Krieg, wahlweise ins gute oder schlechte Licht zu rücken.

Hinsichtlich der Ordnung in Europa macht Russland bei dem Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht unbedingt mit. Dort, wo durch einen Aufstand, wie dem Maidan, die alte Regierung abgesetzt wurde, erkennt Russland die neue Regierung nicht an. Und zweitens bestreitet es überhaupt, dass eine Regierung sicherheitspolitisch machen kann, was sie will, ohne die Sicherheitsinteressen Russlands zu beachten. Mit militärischen Mitteln hat es der friedlichen Osterweiterung der NATO im Fall der Ukraine Knüppel zwischen die Beine geworfen. In Moldawien und Georgien wiederum unterstützt Russland schon länger Provinzen, die sich gegen eine West-Orientierung auflehnen.

Um die Gemengelage aufzudröseln, lohnt es sich diesmal bei der EU anzufangen:

Die EU und die friedliche Erweiterung gen Osten.

Die Auflösung der Sowjetunion beinhaltete die Gründung vieler neuer Staaten und die Loslösung der Ostblockstaaten aus alten Verbindlichkeiten. In der Kalkulation der diversen kommunistischen und anderer neuer Parteien, aber vor allem in Russland, wurden die alten zwischenstaatlichen ökonomischen Regeln der sozialistischen Länder (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe - RGW) als Balast für die neuen kapitalistisch orientierten nationalen Aufbruchsprogramme verbucht. Zugleich wurde auf die alten Verflechtungen der Ökonomien so spekuliert, wie es sich für kapitalistisch orientierte Staaten gehört: Sie sind Material, um der nationalen Wirtschaft Vorteile herauszuholen, im Zweifelsfall auf Kosten der anderen Nation.

Dies und die Umstellung der ehemaligen Planwirtschaft auf eine kapitalistische Wirtschaft hat erstmal viel nationale Ökonomie kaputt gemacht. Gerade neu gegründet oder aus den alten Verpflichtungen entlassen, sind alle Staaten ein Fall für den IWF geworden.

Hier haben die EU-Staaten Potential gesehen. Nach und nach wurde den Staaten in diversen Erweiterungswellen der EU folgendes Angebot gemacht:

Arbeite darauf hin, bei uns Mitglied zu werden. Dafür musst du alle Regeln der EU, die es schon gibt, als Komplettpaket übernehmen. Das hat den Vorteil, dass dann das Kapital aus der EU (wenn es will) zu dir kommt. Der Preis dafür: Du musst die Freihandels- und Produkt-Standard-Regeln der EU übernehmen, was unvereinbar ist mit deinen alten ökonomischen Beziehungen zu deinen weiter östlich gelegenen Nachbarn. Denn wer Teil des Binnenmarktes der EU ist, darf keine eigenständige Zollpolitik mehr machen, sondern muss gegenüber den Nicht-EU-Ländern die von der EU festgelegten Zölle beachten. Kompromisse sind ausgeschlossen – so funktioniert „nunmal“ die EU.

Wenn sich die Staaten darauf eingelassen haben, dann haben sie damit den Druck auf die weiter östlich gelegenen Partner erhöht. Immer ist bei denen ein weiteres Stück nationaler Ökonomie darüber kaputt gegangen, dass der Nachbar der EU beigetreten ist und damit zugleich die bisherigen Handelsregeln gekündigt waren. Das ist dann eine gute Grundlage für das Angebot der EU an diese Nachbarn gewesen.

Ein EU-Beitritt (bzw. das Hinarbeiten darauf) ist ziemlich gleichbedeutend mit einem NATO-Beitritt. Das ist ein weiterer „Vorteil“, den die EU als Angebot in die Waagschale werfen kann.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die mit der EU-Mitgliedschaft winkt, ist ein Vorteil für Staaten, die darauf spekulieren, zumindest Devisen (= Weltgeld wie Euro oder Dollar) über die Überweisungen der Arbeitsmigranten in die Heimat zu bekommen. Für viele lohnabhängige Menschen erscheint die Freizügigkeit wie eine Verheissung, weil sie in Massen arbeitslos geworden sind aufgrund der Umstellung der realsozialistischen Planwirtschaft hin zur freien Marktwirtschaft.

Zumindest bei Teilen der Bevölkerung (insb. Studierenden) wird zudem die VISA-freie Bewegung in der EU und die Durchsetzung gewisser Rechtsstandard in Sachen Meinungsfreiheit so verstanden, dass „go West“ eine gute Sache ist. Das sei hier erwähnt, weil das für die „Maidan“-Aufstände eine Rolle spielt.

Ganz im Osten hat die EU mit ihrem Verfahren der friedlichen Eroberung Osteuropas gewisse Probleme. In der Ukraine, Weissrussland, der Republik Moldau und Georgien gibt es nennenswerte Anteile der politischen Elite und auch in der Bevölkerung, die nicht ohne weiteres überzeugt sind, sich der EU umstandslos anzuschliessen. Im Westen wird das als „Schaukelpolitik“ bewertet. Selbst wenn eine als „prowestlich“ betitelte Regierung an der Macht ist, kann sie sich nicht durchringen, sich umstandslos Pro-EU zu entscheiden, weil das mit einem Bruch der ökonomischen Beziehungen zu Russland gleichbedeutend ist (wegen des jeden Kompromiss ausschliessenden Angebots der EU – Übernahme aller EU-Regeln). Oft profitieren die Staaten insbesondere von vergleichsweise billigem Öl und Gas aus Russland.

Russland hat diesen Staaten aber ökonomisch auch keinen Entwicklungsweg zu bieten, so dass die Regierungen im nationalen Interesse immer zwischen Russland und der EU hin und her lavieren.

In dieser Gemengenlage kommt es zu sogenannten „Volksaufständen“, die der Westen als gerechtfertigt anerkennt, mit Infrastruktur und sobald an der Macht, mit Geld und schliesslich mit Waffenlieferungen unterstützt.

Und hier ist Russland mehrfach militärisch reingerätscht. Es hat diejenigen Landesteile, die sich mehr Pro-russisch fühlen, militärisch unterstützt. Im Fall Weissrussland unterstützt Russland gleich die Regierung.

Jede EU-Erweiterung war ökonomisch ein Abtrag an Russlands Interessen. Immer mehr Staaten wurden aus den gewohnten Wirtschafts- und Handelsbeziehungen herausgebrochen. Das ist schon Grund genug für Russland, der EU-Osterweiterung ablehnend gegenüber zu stehen. Ein noch stärkerer Grund für die Ablehnung ist aber die Verknüpfung von EU=NATO.

Mit der militärischen Unterstützung bestimmter Teilgebiete von Staaten hat Russland damit folgendes klargestellt:

Die „friedliche“ Eroberung Osteuropas, die Russlands Interessen entgegensteht, beruhte einerseits auf der ökonomischen Überlegenheit der EU bzw. ihrer potenten Nationalökonomien. Die EU-Staaten konnten gemeinsam ökonomische Angebote für und Notlagen bei anderen Staaten herstellen, die auszuschlagen für die ehemaligen Ostblockstaaten einfach nicht drin waren, während Russland hier ausser vergünstigtes Gas und Öl kaum etwas entgegen stellen konnte.

Andererseits: Frechheiten gegen Russland konnte sich die EU und auch die östlichen EU-Anwärter auch nur erlauben, weil und solange die Konkurrenz der Waffen nicht zum Tragen kam. Ganze Staaten mit Hilfe ökonomischer Angebote und Erpressung geopolitisch an sich zu binden, beruhte schon die ganze Zeit darauf, dass Russland die Freiheit eines Nachbarstaates zu tun und zu lassen, was es will, respektiert.

Das ist die eine Grundlage des Friedens und der Sicherheitsarchitektur, die insbesondere die EU in Europa will. Nur so kann die EU ihre „Soft Power“ machtvoll entfalten.

Russland

Russland hat mit Georgien, Moldawien, der Ost-Ukraine und schliesslich mit der Annektion der Krim der EU vor Augen geführt, worauf ihr Eroberungsweg beruhte: Friedlich geht es nur voran, wenn der Gegner die Frechheiten aushält, weil er davon absieht, seine ökonomische Unterlegenheit durch eine militärische Überlegenheit zu kompensieren.

Russland hat da eine Weile nur klagend zugeschaut, mit Putin an der Macht dann aber einen Strategiewechsel vollzogen. Russland hat zwar kein alternatives Wirtschaftsblock-Konzept, mit dem es Osteuropa wieder an sich binden könnte. Russland hat aber aufgrund der sowjetischen Geschichte (denn im Grunde ist es ein Widerspruch, dass ausgerechnet ein kapitalistisch schwaches Land die Militärmacht Nr. 2 in der Welt ist) einen Trumpf und leitet daraus einen Anspruch ab:

Ein Land – etwa die Ukraine – darf seine eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Interessen eines anderen Staates – also Russlands – festigen.

Dieses Prinzip ist die russische Friedensordnung und Sicherheitsarchitektur für Europa, die der europäischen und NATO-mässigen Art diametral entgegensteht.

Und Russland hat eine realistische Einschätzung, mit wem man darüber reden muss: den USA.

USA

Die USA verfolgen wirtschaftspolitisch einerseits ein ähnliches Konzept wie die EU, nur auf globalem Massstab: Auf Grundlage der ökonomischen Potenz (insbesondere als Stifter des Weltgeldes Dollar) der Staatenwelt Angebote machen und in Notlagen rein bugsieren, damit diese die Freihandelsregeln (institutionalisiert in der Welthandelsorganisation) übernehmen. Freihandel, da war sich die USA sicher, würde dem US-Kapital gute Wachstumsbedingungen in der Welt schaffen und damit die Überlegenheit in der weltweiten Konkurrenz immer wieder herstellen.

Wo sich souveräne Staaten dem Dialog über die wirtschaftliche Benutzung prinzipiell entziehen wollten (und das hat der ehemalige Ostblock getan), da ging die USA dazu über, kriegerisch eine Änderung der dortigen Staatsräson zu erzwingen. Damit ist für die USA folgende Gleichung zur Staatsräson geworden: Um in der Staatenwelt Regeln durchzusetzen, die dafür sorgen, dass sich die Überlegenheit des US-Kapitals immer wieder herstellt, muss man als Nation zugleich die militärisch überlegende Macht sein.4

Und in dieser Hinsicht gab es nach dem Wegfall des ehemaligen Ostblock einen ganz anderen Blick auf die europäischen EU-Erweiterungsbemühungen: Sie sind gut, weil die helfen, einen gewichtigen Störfaktor zu schwächen: die militärische Weltmacht Russland, das bislang einzige Land, dass militärisch noch soviel Kapazitäten hat, das gegen dieses ein Krieg nicht ohne immensen Kollateralschaden zu gewinnen wäre.

Exkurs zu den verschiedenen Politiken der US-Präsidenten:

Obama hat Russland als „Regionalmacht“ bezeichnet. Das war natürlich nicht die Wahrheit des Zustandes, sondern drückte einen Anspruch aus, was der richtige Zustand für Russland wäre und den die USA herbei führen sollte.

Trump hat einen anderen Blick auf die Sache geworfen. Für ihn war die EU und hier insbesondere Deutschland ein Gegner, weil diese die ökonomische Überlegenheit der USA nicht umstandslos reproduzieren, sondern ankratzen würden. Deutschland nutze die Regeln, die die USA für sich in die Welt gesetzt hat, schamlos aus. Und militärisch wolle Deutschland dann nichts beisteuern. In diesem Lichte hat er folgende Linie verfolgt: Soll Europa doch selbst mit seiner Raumergreifung gen Osten klar kommen. Dafür werden keine US-Steuern mehr verschwendet. Die braucht man vor allem im Kampf gegen China. Diese Linie ist heute bei den Republikanern in den USA durchgesetzt.

Freilich wurden auch unter Trumps Herrschaft die miliärischen Fähigkeiten der USA massiv weiterentwickelt und so kann Biden die alte Linie gegenüber Russland wieder bruchlos auf die Tagesordnung setzen: „NATO remains firmly committed to the fundamental principles and agreements underpinning European Security.“5

USA und EU

Die EU braucht für ihr Eroberungsprogramm die NATO, und hiermit ist wesentlich die USA gemeint. Die USA brauchen für ihr Programm der unbestrittenen militärischen Überlegenheit die EU-Erweiterung als Schwächungsmittel für Russland. Aus dieser Interessenidentität ergibt sich das gemeinsame Auftreten und Handeln.

Prinzipiell war die EU aber immer schon gedacht als ein Mittel der Mitgliedsstaaten (insbesondere der zentralen Mächte Deutschland und Frankreich) sich langfristig von der USA zu emanzipieren. Insofern ergibt sich aktuell für Deutschland und Frankreich eine unangenehme Seite: Sobald es bei der EU-Erweiterung um militärische Fragen gegenüber Russland geht, liegt die Handlungsfähigkeit voll bei den USA. Diese bestimmen dann den Takt – das hat man bei Trump bemerkt, das merkt man jetzt bei Biden.

Unterhalb des Projektes – keine Kompromisse mit Russland bei der EU-Osterweiterung – ergibt sich das Ungemach: Die Kontrolle über die Eskalation mit Russland hat man gar nicht in der Hand.

Aus diesem Widerspruch des EU Projektes ergeben sich dann die relativen Uneinigkeiten im NATO-Bündnis:

Macron sagt, dass man die Sicherheitsinteressen Russlands auch verstehen könne. Zugleich betätigt sich Frankreich als grösster Waffenlieferant an die Ukraine und wird nicht müde zu betonen, dass Europa (unter der Führung Frankreichs) militärisch eigenständig gegenüber der USA werden müsse.

Deutschland will keine „Angriffswaffen“ in die Ukraine liefern. Deutschland will in der Androhung wirtschaftlicher Sanktionen am liebsten Nord Stream 2 raushalten. Die EU ist die zentrale Machtbasis für die ökonomische Weltmacht Deutschland. Dass aber die USA und Frankreich darauf drängen, auf ihre Weise die EU militärisch abzusichern, gefällt Deutschland nicht so sehr, weil der Führungsanspruch dann nicht bei ihm liegt.

Die USA hat schon im letzten Jahr anlässlich eines Manövers Russlands an der Grenze der Ukraine vor einem kurz bevorstehenden Einmarsch Russlands gewarnt. Derzeit (Januar/Februar 2022) gibt es ein Dauerfeuer an unmittelbaren Kriegswarnungen. In der französischen und deutschen Politik wird das als „übertrieben“ eingeschätzt, nach und nach wird die Position dann aber auch übernommen.

Und: Jede geopolitische Über- und Unterordnungsfrage verästelt sich weiter. Polen und die baltischen Staaten sehen dort, wo die USA sich deutlicher einmischt, wiederum eine Gelegenheit, um Deutschland und Frankreich deutlich zu machen: Innerhalb der EU wollt ihr Führungsmächte sein, das erkennen wir aber nicht grundsätzlich an.

Grossbritannien steht traditionsgemäss der USA mehr bei Seite als Deutschland und Frankreich. Diese Stellung war schon immer der Versuch, die Hegemoniefrage in Europa mehr zugunsten Grossbritanniens zu ändern. Mit dem Brexit folgt das Vereinigte Königreich dieser Strategie umso mehr und betätigt sich als Anheizer gegen Russland.

Was nun?

Russland, Deutschland, die USA sind Staaten, die ihre Macht aus den Geldgeschäften bei sich ziehen. Um diese zu verbessern und das Ausland dafür in Beschlag zu nehmen, gehen sie internationale Verträge ein, die auf Kosten des Interesses anderer Staaten gehen. Daher müssen diese Verträge (und entsprechende Bündnisse) militärisch abgesichert werden und die Interessenkollisionen heben sich auf die Ebene der Konkurrenz der Waffen, was wiederum einschliesst, dass die militärischen Bündnisse mit Gewalt abgesichert werden müssen. Das ist der allgemeine Grund für die eskalierende Kriegslage in der Ukraine. Sie ist ein Stellvertreterschauplatz für Rechte in der Welt, die die Staaten für sich beanspruchen und von den Kontrahenten anerkannt haben wollen. Hier geben und nehmen sich die Kontrahenten nichts und eine Parteilichkeit ist völlig fehl am Platze. Gegen lauter Gesellschaften, deren Produktionsweise auf der Unterordnung fremder Staatsgewalten beruht, spricht dagegen einiges.

Für das deutsche liberale Publikum, das sich in Sachen Hetze gegen Russland und Parteilichkeit für den deutschen Standpunkt gerade besonders hervortut, sei noch einmal hervorgehoben:

Eine deutsche Regierung (egal in welcher Konstellation), die sich rühmt, dass die deutsche Wirtschaft mal wieder irgendwo Weltmeister ist oder werden soll, eine Technologieführerschaft hat oder anstrebt, für die neue Wasserstoffstrategie ganze Weltregionen als Rohstoff-Zulieferer einplant, mit dem Euro ein Weltgeld platzieren will, – eine solche Regierung weiss, dass sie das gegen China und die USA nur mit der EU zuwege kriegt. Dazu die allseits geschätzte Alt-Bundeskanzlerin Merkel:

„'Scheitert der Euro, scheitert Europa.' (…) ich sage, dass wir damit mittel- und langfristig Schaden nehmen würden. Wir würden Schaden dahingehend nehmen, dass wir kein relevanter Faktor mehr in der Welt wären (…). Wir werden, obwohl wir sowieso schon ein immer kleinerer Teil der Welt werden, nicht mehr die Bedeutung haben, dass wir uns durchsetzen können mit dem, was uns wichtig ist. Deshalb ist der Gedanke eines einigen Europas von so grosser Bedeutung.“ (Rede von Merkel auf dem Festakt zum 70-jährigen Bestehen der CDU, 29.06.2015)

Merkel will, dass Deutschland ein relevanter Faktor in der Welt bleibt, also eine Weltmacht. Das geht für sie nur mit der EU. Nur so kann Deutschland sich durchsetzen. Und genauso sieht es die aktuelle Regierung.

Und die weiss, dass Deutschland die EU nur mit der NATO zu Wege bekommt. Dieses nationalistische Projekt tritt natürlich an für „Frieden und Freiheit". Was auch sonst? Globalen Frieden für die Freiheit des deutschen Staates, seine Interessen durchzusetzen, darunter die Freiheit der deutschen Wirtschaft die Welt als Markt für sich zuzurichten. Das Projekt schliesst den Krieg auf die eine oder andere Weise ein.

Gruppen gegen Kapital und Nation

Fussnoten:

1 Sekretär des russischen Sicherheitsrates Nikolai Patruschew laut Handelsblatt am 30.01.2022; https://www.handelsblatt.com/politik/international/ukraine-krise-news-ukraine-will-durch-osze-mit-russland-verhandeln-keine-sperrung-des-ukrainischen-luftraums-geplant/27982126.html; eingesehen am 13.02.2022.

2 Aus der Antwort der NATO und der USA an Russland Ende Januar/Anfang Februar. Geleakt von der spanischen Tageszeitung El Pais: https://elpais.com/infografias/2022/02/respuesta_otan/respuesta_otan_eeuu.pdf; eingesehen am 13.02.2022.

3 Für die Bemühungen der USA ist hier ein empirisch sehr reichhaltiger Artikel des GegenStandpunktes empfohlen: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/usa-treiben-entmachtung-ihres-russischen-rivalen-voran; eingesehen am 14.02.2022.

4 Über Freihandel als Mittel der ökonomisch überlegenen Staaten und über die Notwendigkeit der militärischen Absicherung solcher Regeln siehe den Text: „Was ist Imperialismus?“ https://gegen-kapital-und-nation.org/was-ist-imperialismus/

5 Antwort der NATO und der USA an Russland: https://elpais.com/infografias/2022/02/respuesta_otan/respuesta_otan_eeuu.pdf; eingesehen am 13.02.2022.