Die Notwendigkeit einer diplomatischen Lösung Den Ukraine-Krieg vom Ende her denken

Politik

Befürworter von deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine betonen gern, wie wichtig es sei, vor der russischen Aggression nicht zurückzuweichen.

Zerstörte Tankstelle in Bucha bei Kiev, April 2022.
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Zerstörte Tankstelle in Bucha bei Kiev, April 2022. Foto: Стас Козлюк (CC BY-SA 3.0 cropped)

12. Mai 2022
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Werde die russische Armee nicht auf das entschiedenste bekämpft, so wisse niemand, in welche Länder Putin demnächst einmarschiere. Dieses Argument sieht beflissen von einer Kleinigkeit ab: Auch der russischen Führung dürfte nicht verborgen geblieben sein, auf welche Schwierigkeiten sie mit ihrem Militäreinsatz bereits auf ukrainischem Boden trifft. Die jährlichen Ausgaben für das Militär in Russland beliefen sich 2021 auf 65,9 Mrd. Dollar, in Deutschland auf 56, im Vereinigen Königreich Grossbritannien auf 68,4 und in den USA auf … 801 Mrd. Dollar.

Das russische Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2021 (1.648 Milliarden US-Dollar) war so gross wie das von Belgien und den Niederlanden zusammen und betrug ein Zehntel der Wirtschaftsleistung der EU. Wer der russischen Armee zutraut, bis zur Ostsee vorzustossen, muss über ein exklusives Spezialwissen verfügen. Gibt es nicht doch noch einen riesigen Geldschatz und eine konventionelle zweite russischer Armee mit gigantischer Personal- und Waffenstärke? Blieben beide bislang in den unermesslichen Weiten des russischen Hinterland sicher versteckt?

Verbreitet ist die Parole „Wer einem Erpresser nachgibt, ermuntert ihn.“ Diejenigen, die diese Krimiweisheit auf den militärischen Kampf gegen die russische Armee in der Ukraine übertragen, haben keine Antwort auf die russische „Eskalationsdominanz“ (Johannes Varwick). Das konventionelle Eskalationspotenzial der russischen Armee weist enge Grenzen auf. Vgl. dazu den instruktiven Artikel von Andreas Rüesch in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5.5.2022. Aber die russische Armee verfügt über Atomwaffen. Das unterscheidet sie von vielen anderen Armeen in Gegenwart und Vergangenheit.

Wer heute die historische Erfahrung mit der Appeasement-Politik gegenüber Hitler ins Feld führt, betont eine Gemeinsamkeit: In einem rein konventionellen Krieg wären das Nazi-Deutschland von 1938 und das gegenwärtige Russland besiegbar. Der Appeasement-Hinweis übergeht aber den entscheidenden Unterschied: Nazideutschland verfügte über keine Atomwaffen, Russland schon.

Die frühere US-Aussenministerin Madeleine Albright starb einen Tag, bevor die russische Armee in die Ukraine einmarschierte. „Meine Denkweise ist München“ war ein von Albright (Jahrgang 1937) häufig zu hörender Satz, der auf das Münchner Abkommen 1938 anspielte, mit dem die Tschechoslowakei Nazi-Deutschland einverleibt wurde. Albright musste mit ihrer jüdischen Familie aus der Tschechoslowakei fliehen. Manche zogen und ziehen aus der Ablehnung der Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland problematische Schlüsse.

Albright hat exzessive Sanktionen gegen als zutiefst „böse“ angesehene Regime für legitim erachtet. „1996 wurde sie in einem Interview mit der CBS-Sendung 60 Minutes gefragt, ob der Tod von mehr als 500 000 irakischen Kindern durch die von den USA verhängten Sanktionen es wert gewesen sei. Ein UN-Bericht hatte festgestellt, dass zwischen 1991 und Ende 1995 nicht weniger als 576 000 irakische Kinder aufgrund der harten Wirtschaftssanktionen gestorben waren.

Ihre Antwort war deutlich: ‚Ich denke, das ist eine sehr schwere Entscheidung, aber der Preis ist es wert.‛ Erst viele Jahre später entschuldigte sie sich für diese Worte“ (Cyrus Salimi-Asl: Notfalls auch mit Gewalt. In: Neues Deutschland vom 24.3.22.. Das Statement von AussenministerIn Baerbock zu den Sanktionen gegen Russland – „Das wird Russland (!) ruinieren“ (Die Welt, 25.2.22) – ist also noch steigerungsfähig.

Wer betont, er würde sich durch den russischen Atomwaffenbesitz nicht erpressen lassen, gibt seine Gesinnung als mutige Privatperson kund. Politische Mächte stellen sich den Realitäten. Und das gilt auch und gerade für diejenige Nation, die die Ukraine am stärksten unterstützt: die USA. Am 5. Mai teilen Patrick Diekmann und Johannes Bebermeier mit: „Der Einsatz von taktischen – also kleineren – Atomwaffen wird laut russischen Oppositionellen durchaus in Moskau diskutiert. Putin will um jeden Preis einen Sieg erringen oder zumindest einen Teilerfolg in der Ukraine erzielen, den seine Propaganda dann als Sieg verkaufen kann.

Bisher gibt es diesen Erfolg nicht.“ Der Einsatz dieser Sorte kleineren Atomwaffen „würde wahrscheinlich zu einer schnellen Aufgabe der Ukraine führen und wäre vor allem dann denkbar, wenn Putin keinen anderen Ausweg mehr sieht. Für diesen Fall haben Länder wie die USA schon angekündigt, dass sie nicht unbedingt in der Ukraine intervenieren würden. Das steigert natürlich auch die Versuchung im Kreml.“

Das Risiko des Einsatzes kleiner Atomwaffen steigt in dem Masse, wie die russische Führung keine Erfolge im Ukraine-Krieg vorweisen kann und es für sie keinen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Konflikt gibt. Diese Aussage über die Realität zu treffen heisst nicht, das russische Vorgehen zu verharmlosen oder gutzuheissen. Die Beschreibung der faktischen Eskalationsdynamik und die normative Bewertung des Kriegsgeschehens sind strikt auseinanderzuhalten.

Niemandem in der Ukraine nutzt es, auf der moralisch richtigen und legitimen Seite zu stehen, wenn eine Region der Ukraine durch einen Atomwaffeneinsatz zerstört wird. Wer sich das Recht der Ukraine auf territoriale Integrität auf die Fahne schreibt, soll dieses Recht ins Verhältnis setzen zu den Opfern, die der Einsatz kleiner Atomwaffen fordern würde. Wer auf diese Gefahr hinweist, ist kein Putin-Freund. Im Gegenteil. Forian Harms schreibt zu Recht: „Unter Druck tun Menschen die übelsten Dinge, und besonders üble Menschen tun besonders üble Dinge. … ohne Kompromisse wird es kaum gehen. Man kann üble Menschen in die Knie zwingen. Aber solange sie einen Finger am Atomknopf haben, sollte man sie lieber nicht zu Boden werfen“.

Einerseits wird in der deutschen Öffentlichkeit Putin nach Kräften dämonisiert. Andererseits verdrängen Befürworter eines Kriegs für westliche Werte gegen Russland auf dem Boden der Ukraine mit Fleiss das atomare Risiko. Zur Dämonisierung Putins bzw. der russischen Staatsführung gehört, in der imperialen grossrussischen Rhetorik von Putin einen willkommenen Beleg für das eigene Feindbild zu sehen. Dann braucht ein Motiv für das Vorgehen gegen die Ukraine gar nicht mehr in der Diskussion vorzukommen.

Es besteht darin, dass die russische Führung das Zurückdrängen Russlands (Nato-Osterweiterung, Engagement des Westens in der Ukraine) nicht länger widerstandslos hinnehmen will und auf frühere russische Verhandlungsbereitschaft vom Westen nicht eingegangen wurde. Vgl. zur Vorgeschichte des Konflikts die informative und solide Darstellung von Jürgen Wagner Reaktionäre Ideologeme in den Köpfen der russischen Staatsführung sind das eine.

Von grossrussischen Visionen und demagogischen Versuchen, Akzeptanz für den Krieg zu mobilisieren, lässt sich aber nicht umstandslos auf die realen Motive und strategischen Ziele der russischen Seite schliessen. Staatenlenker wollen sich nicht nachsagen lassen, sie seien nur kalte Technokraten und hätten weder Vision noch Mission. Das politische Führungspersonal meint von Zeit zu Zeit, es brauche sinnstiftende und mobilisierende Worte an die Bevölkerung.

Viele haben früher die Rhetorik von George W. Bush („Ich bin ein Kriegspräsident, wenn ich Entscheidungen treffe, dann denke ich immer an den Krieg“) sowie die von Ronald Reagan („Die Sowjetunion – das Reich des Bösen“) für gefährlich gehalten, ohne sie mit den realen Zielen der US-Politik zu verwechseln. Von Madeleine Albright stammt übrigens der Satz „Aber wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann deshalb, weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation“ (Interview 1998 mit dem US-Fernsehsender NBC).

Der Einwand „Wer Putin jetzt Zugeständnisse macht, kann übermorgen sicher mit seiner nächsten Erpressung rechnen“ beansprucht ein logisches Argument. In der Politik geht es aber um konkrete Lagen und Räume, nicht um konsequenzlogische Stringenz. Selbst der „üble Mensch“ Putin macht keinen beliebigen Gebrauch von der Drohung mit dem Einsatz kleiner Atomwaffen. Die russische Staatsführung weiss, dass ein Angriff auf NATO-Länder den Bündnisfall und damit den dritten Weltkrieg auslösen würde.

Die USA haben klargestellt, dass dies für den Einsatz von kleinen Atomwaffen auf dem Boden der Ukraine nicht gilt. Bernie Sanders erklärt zu Recht: „Selbst wenn Russland nicht von einem korrupten autoritären Führer wie Wladimir Putin regiert würde, hätte Russland ebenso wie die Vereinigten Staaten ein Interesse an der Sicherheitspolitik seiner Nachbarn.

Glaubt wirklich irgendjemand, dass die Vereinigten Staaten nichts zu sagen hätten, wenn beispielsweise Mexiko ein Militärbündnis mit einem US-Gegner eingehen würde? Den Ländern sollte es frei stehen, ihre eigenen aussenpolitischen Entscheidungen zu treffen, aber diese Entscheidungen mit Bedacht zu treffen, erfordert eine ernsthafte Abwägung der Kosten und Vorteile. Tatsache ist, dass die USA und die Ukraine, wenn sie eine tiefere Sicherheitsbeziehung eingehen, wahrscheinlich einige sehr ernste Kosten haben werden – für beide Länder.“

Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Er betont zu Recht die Notwendigkeit „kluger Realpolitik. Dazu gehört, zu akzeptieren, dass die Ukraine ein neutraler, demilitarisierter Staat sein wird. Und dazu gehört auch, anzuerkennen, dass die Ukraine nicht die volle Souveränität über ihr Staatsgebiet behält. Das heisst, dass die Bundesregierung die Krim- und die Donbass-Frage pragmatisch angehen müssen wird. Und zwar nicht, weil es eine gute Lösung ist, sondern weil es das Einfrieren des Konfliktes bedeutet. Später kann über eine Friedenslösung nachgedacht werden.

Eine solche wird nur umzusetzen sein, wenn sich die Position in Moskau verändert“ (Junge Welt, 30.4.2022, S. 6). Gregor Gysi spricht am 6. Mai in einem Interview mit dem Deutschlandfunk von der Unterscheidung zwischen einer faktischen und einer juristischen Anerkennung.

Manchen reaktionären Staatsführungen in Osteuropa, die mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht viel im Sinn haben, kommt der Ukraine-Krieg wie gerufen. Endlich sind ihre Differenzen mit der EU kein Thema mehr. Besonders die polnische Regierung drängt andere Staaten zu einer militärischen Unterstützung der Ukraine, die den Krieg nur verlängert und eskaliert. Mariana Sadovska hat den häufig anzutreffenden Fanatismus auf den Punkt gebracht. Diese ukrainische Sängerin und Komponistin, die seit 2002 in Köln lebt, tat das nicht irgendwo, sondern auf einer Veranstaltung am 28.3. im Kanzleramt.

Einige Minuten, nachdem dort Kanzler Scholz geredet hatte, sagte Sadovska: „Natürlich haben wir grosse Angst, dass dadurch alles eskaliert und es zu einem Atomkrieg kommt und die ganze Welt untergeht. … Aber wir können doch nicht so einen Verbrecher wie Putin davonkommen lassen, nur weil er mit der Atombombe droht. … Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen, dann soll es halt so sein!“ (FAZ 29.03.2022).

In den letzten Wochen ist in der deutschen Öffentlichkeit nur noch von Militär und nicht mehr von Diplomatie die Rede. Aber die Notwendigkeit der beschriebenen diplomatischen Lösung bleibt ebenso bitter wie absolut.

Meinhard Creydt