Das Ergebnis weicht signifikant von den Vorhersagen diverser Meinungsumfragen sowie der meisten politischen Analysten im In- wie Ausland ab. Die Deutlichkeit des Resultats hat zu Spekulationen Anlass gegeben, es habe in grossem Umfang Wahlbetrug gegeben. Unregelmässigkeiten und Merkwürdigkeiten hat es gegeben, und selbstverständlich ist einer Regierung wie der von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und seines Sultans, Tayyip Erdogan, zuzutrauen, die eine oder andere Stimme nach Bedarf verschwinden oder erscheinen zu lassen. Es hat mit Sicherheit Wahlbetrug gegeben, vielleicht auch in grösserem Ausmass als bei den vergangenen Wahlen. Aber nicht die gesamte Machtbasis Erdogans beruht auf Tricksereien.
Als Erklärung der klaren Niederlage der Linken in einer zugespitzten Auseinandersetzung taugt der Vorwurf des Schummelns nur begrenzt. „Ich bin nicht so naiv, zu denken, die AKP würde bei Wahlen nicht betrügen“, sagt Dogukan, ein linker Aktivist aus Istanbul, unmittelbar nach der Wahl gegenüber LCM. „Nichtsdestotrotz sind 8 Prozent der Stimmen 3.5 Millionen Wählerstimmen und ich glaube nicht, dass sie so viel manipulieren oder ändern konnten oder gar das ganze Wahlsystem gehackt haben. Für uns als Linke hat sich gezeigt, dass wir unser Volk und unsere Arbeiterklasse nicht gut genug kennen. Wir müssen nun unsere Niederlage eingestehen.“
Die Gründe für die erneute Stabilisierung der Macht Erdogans uns seiner Gefolgsleute liegen aber tiefer.
Wiederkehr der Angst
Die offenkundigen Faktoren für den Rückgewinn der absoluten Mehrheit durch die AKP nach deren Verlust bei den Wahlen im Juni 2015 sind oft genannt worden. Erdogans Strategie, den Urnengang zu einer Wahl zwischen „Chaos“ und „Stabilität“ zu machen, ist aufgegangen. Nach dem 7. Juni sah sich Erdogan in einer schwierigen Lage. Offen hatte er für die Umgestaltung des politischen Systems der Türkei hin zu einer Art Präsidialdiktatur geworben. Die Wählerinnen und Wähler gaben ihm aber nicht nur nicht die Mehrheit, die es gebraucht hätte, um selbige umzusetzen, sondern verunmöglichten seiner AKP eine Alleinregierung.Schnell wurde klar, dass man sich auf keine Koalitionsregierung einigen würde und die AKP alles daran setzen werde, die verlorene Alleinherrschaft zurückzugewinnen. Der Konflikt mit der kurdischen Befreiungsbewegung rund um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wurde angeheizt, wo immer es ging. Der seit langem andauernde „Lösungsprozess“ samt Waffenstillstand wurde aufgekündigt.
Im Rahmen einer grossangelegten „Anti-Terror-Operation“ begannen Luftangriffe gegen PKK-Stellungen, willkürliche Verhaftungen (bisweilen mit tödlichem Ausgang) und systematische Angriffe auf kritische Medien bis weit ins bürgerliche Spektrum. Begleitet wurden diese Attacken durch die tödlichen Terroranschläge von Diyarbakir, Suruc und Ankara, deren Urheberschaft bei einer IS-Zelle namens „Dokumancilar“ vermutet wird. Staatliche Mitwirkung wurde und wird vermutet, von Regierungsseite wurden und werden absurderweise die PKK sowie die syrisch-kurdische PYD als Mittäter genannt.
Kurdische Städte und Gemeinden, die ihre „demokratische Autonomie“ erklärten, wurden militärisch besetzt, Ausgangssperren samt Schiessbefehl wurden verhängt. Tote Zivilisten, extralegale Hinrichtungen von Gueriallas, die öffentliche Schändung von Leichen kurdischer Kämpferinnen und Kämpfer – Das Ziel war eindeutig, eine Atmosphäre der Angst zu kreieren. Diese Strategie ist – entgegen aller Voraussagen – aufgegangen. Erdogan und Davutoglu haben ihr Land in eine Gewaltspirale gestürzt und sich selbst als einzigen Ausweg verkaufen können.
Einige regionale Beobachtungen
Allerdings lassen sich – wenn wir die derzeitigen „offiziellen“ Ergebnisse zu Grunde legen und regional aufschlüsseln – einige interessante Beobachtungen machen. Merkwürdiger Weise ist die Strategie der Angst gerade an jenen Orten, an denen sich die meisten und heftigsten Kämpfe zugetragen haben, nicht aufgegangen. Nehmen wir Cizre. Über die Stadt wurde eine Ausgangssperre verhängt, sie wurde belagert, die gewählte HDP-Bürgermeisterin abgesetzt und angeklagt, es gab viel Staatsterror und Tote.Dennoch ist das Ergebnis der HDP in Cizre nicht eingebrochen. Im Gegenteil. Der Anteil erhöhte sich um 1,6 Prozent auf 93,2 Prozent. Wenig Verluste – im Durchschnitt zu den insgesamt zu verzeichnenden – gab es auch in Silopi, ebenfalls einer Stadt, die besonders vom Terror Ankaras heimgesucht wurde. Generell erwiesen sich die Provinzen Sirnak und Hakkari als die stabilsten (trotz einiger schwer erklärbarer Ausnahmen, wie etwa in Şemdinli). Diese Gebiete sind klassenmässig gesehen diejenigen, in denen die ärmsten Schichten der kurdischen Bevölkerung leben und traditionell Gebiete besonders starken Rückhalts für die PKK.
Dass hier Erdogans Angebot – „Wählt mich und es kommt Stabilität“ – weniger zog, hat damit zu tun, dass die Menschen hier wenig zu verlieren haben und ihre gesamte Existenz am gemeinsamen Widerstand hängt. Anders sieht das bei einigen urbanen Wählerschichten der HDP aus. Vor allem in Diyarbakir, der Kurdenmetropole schlechthin, ist das Ergebnis überraschend schlecht. Die HDP verlor zwischen sieben und acht Prozent. Allein mit Stimmenklau ist das nicht erklärbar. Vielmehr – und das korrespondiert mit Berichten von Genossen von vor Ort – dürfte auch bei Teilen der kurdischen Mittelschichten und (Klein-)Unternehmer der Wunsch nach „friedlichen“ Geschäftsbedingungen grössere gewesen sein, als der nach politischer Veränderung.
In anderen Gegenden, etwa in Sanliurfa, wo vornehmlich religiös äusserst konservative Kurden leben, dürfte sich ebenfalls herausgestellt haben, dass im Konfliktfall die kurdische Identität bei einigen hinter der islamischen zurücksteht. Clanstrukturen lassen sich dann wieder für die AKP mobilisieren.
Bei jenen Wählern, die die HDP in Städten ausserhalb der im engeren Sinne kurdischen Gebiete im Juni dazugewonnen hatte, dürfte die Dauerpropaganda der AKP, dass die HDP die „Partei des Terrors“ sei, verfangen haben.
Der Bonapartismus des Sultans
Gefährlich ist es allerdings, den Wahlsieg und den seit über zehn Jahren andauernden Höhenflug Erdogans und seiner Gefährten allein durch Betrug und Gewalt erklären zu wollen. Betrug und Gewalt zählen mit Sicherheit zum Repertoire der islamistischen Neoliberalen. Und Gewalt hat sicher einen noch grösseren Anteil an Erdogans Sieg als der Betrug.Gleichwohl hat die AKP eine tatsächliche Wählerbasis. Sie hat ein Netz sozialer Beziehungen etabliert, von dem auch tatsächlich bestimmte Gesellschaftsschichten profitieren oder zumindest den Eindruck haben, zu profitieren.
Das trifft zum einen auf bestimmte Schichten der Bourgeoisie und des „Mittelstandes“ zu, die durch den neoliberalen Modernisierungsprozess Profit machen. Allerdings nicht nur. Es trifft auch auf die ärmeren (auch urbanen, vor allem aber auch ländlichen) Schichten der sunnitischen Bevölkerung zu. Sie wurden in den diversen kemalistischen Parteien nie stark repräsentiert, die CHP als eine Partei mit dem Image gebildeter, säkularer „weisser“ Türken vermag sie nicht zu interessieren. Die Linke, deren Kontakt zu ärmeren und Arbeiterschichten sich – nicht ausschliesslich, aber eben überwiegenden Teils – auf alevitische und kurdische Menschen beschränkt, hat bei ihnen ebenfalls keinen nennenswerten Einfluss. Dazu kommt die Bindung, die Erdogan dadurch herzustellen versucht, indem er das Land in „Gläubige“ und „Ungläubige“ einteilt.
Die AKP und ihre diversen Vorfeldorganisationen haben in jenen Bezirken, in denen sie stark sind, eine Art soziale Absicherung für diese Schichten etabliert, eine Art Cemaat. Nicht, dass sie den ärmsten eine Art sozialen Aufstieg ermöglichen würden oder gar so etwas wie Partizipation. Aber sie halten diese Schichten in einem Abhängigkeitsverhältnis, das auf Loyalitäten beruht. Wer diese nicht brechen kann, wird langfristig die AKP nicht los werden.
Verstärkend kommt dazu, dass Erdogan sich als jemand präsentiert, der den „Stolz“ der Türkei gegenüber jenen Vorgängerregierungen zurückgewinnt, die mehr oder minder immer als Stellvertreter des US-Imperialismus gesehen wurden. Diese Strategie wirkt vor allem auch bei den Wählern im Exil. In diesem Kontext spielen auch Besuche wie der von Merkel in der Wahlkampfendphase eine Rolle. Sie demonstrieren: Wir sind eigenständig, aber der Westen ist auf uns angewiesen.
Den Massenanhang Erdogans zu unterschätzen, bedeutet, die zentrale Funktion, die er erfüllt, zu verkennen. Erdogan hat – das nur als These zwischendurch – eine Art spezifisch türkischen Bonapartismus geschaffen, um es in klassisch-marxistischem Wording auszudrücken. Es ist ein „Staatsstreich im Namen des allgemeinen Wahlrechts“, wie der italienische Historiker Luigi Canforra den Bonapartismus beschreibt.
Was kommt nach der Wahl?
Was wird nun geschehen? Zunächst einmal nicht viel. Weder jene, die nun panisch vor der Appokalypse warnen, noch jene, die nun freudig die immerwährend neue Türkei entstehen sehen, haben dazu irgendeinen Grund. Die Türkei steht nun vor einer Alleinregierung der AKP, also genau dem, was wir ja auch schon vor der Juni-Wahl hatten. Die AKP wird versuchen, ihr Projekt einer „Präsidialdemokratie“, also einer auf Recep Tayyip Erdogan zugeschnittenen Verfassungsänderung auf die eine oder andere Weise auf den Tisch zu bringen – der Kampf gegen diese ist aber noch nicht verloren. Wir können mit mehr Repression rechnen, und die Angriffe auf die Pressefreiheit werden sicherlich nicht weniger, weil Erdogan seit langem die zentrale Funktion der Massenmedien für seine Herrschaftssicherung erkannt hat.Interessanter wird die Frage werden: Wie wird die HDP das Geschehene auswerten? Und wie wird die Arbeiterpartei Kurdistans reagieren? Die HDP verzeichnet seit langem die Tendenz, ein Primat des Parlamentarismus zu verinnerlichen, das letztlich verspricht: Wählt uns, wir ändern Dinge. Die Enttäuschung, die notwendig nach der Euphorie dieses Versprechens folgt, wird ihr nun zu schaffen machen. Sie wird etwas anderes anbieten müssen als: „Wählt uns nächstes mal, wir ändern Dinge.“
Noch interessanter wird allerdings: Was wird die PKK tun? Dass die AKP-Regierung den „Friedensprozess“ nur zum Preis der Entwaffnung und Unterwerfung will, und dass sie die Feindschaft gegenüber der kurdischen Autonomie sogar auf das Staatsgebiet Syriens ausdeht, hat sie oft genug bewiesen. Auf der anderen Seite wird der weitere Ausbau der „Demokratischen Autonomie“ – und nur der könnte die Bewegung tatsächlich voranbringen – wohl einen hohen Blutzoll fordern. Ankara hat in den letzten Wochen und Monaten gezeigt, dass es Autonomie-Deklarationen mit Bürgerkriegsmitteln niederschlagen will. Intensivierung der Zusammenarbeit: Im Zuge der "Flüchtlingskrise" will Europa Ankara wieder mehr Unterstützung zusagen - wohl auch auf dem Gebiet der
Was wir hier in Deutschland beobachten werden, ist eine Intensivierung der Beziehungen Europas mit Erdogan. Mehr Kooperation mit dem oft gescholtenen Sultan, denn der NATO-Partner ist unerlässlich, geht es um die Great Games in Syrien, im Irak, ja überhaupt in der gesamten Region. Dazu kommt: Nur er – „seine Gnade“ sagte Politclown Elmar Brok (CDU) – kann die Flüchtlinge von den Wohlstandsinseln Europas fern halten. Im Austausch dafür wird auch Deutschland wieder konsequenter die Exillinke triezen.
Und dieser letzte Bereich ist der einzige, in dem wir hier wirklich etwas tun könnten: Es darf kein ruhiges Hinterland für die Kooperation Berlins mit Ankara geben.