Interview mit einem IHD-Vertreter Kurdistan: „Es ist eine Tragödie“

Politik

Interview mit Abdulkerim Pusat, Vertreter vom Menschenrechtsverein IHD aus Cizre.

HDP Mitglieder werden auf dem Weg in die Stadt Cizre während der ersten Belagerung am 10. September 2015 von Polizeikolonnen aufgehalten.
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HDP Mitglieder werden auf dem Weg in die Stadt Cizre während der ersten Belagerung am 10. September 2015 von Polizeikolonnen aufgehalten. Foto: Mahmut Bozarslan (PD)

10. Februar 2016
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Kannst du mir etwas über die Ausmasse der Belagerung von Cizre und die humanitären Situation dort erzählen?

Cizre hat eine Einwohnerzahl von knapp 133.000 und besteht aus 10 Vierteln. In vier dieser Viertel – Nur, Cudi, Sur und Yafes – sind Gräben ausgegraben und Barrikaden aufgebaut worden. In diesen vier Vierteln finden die heftigsten Gefechte statt. Cudi ist mit 50.000 EinwohnerInnen das grösste Viertel, Nur weist eine Einwohnerzahl von 30.000-35.000 auf. Sprich knapp 85% der Bevölkerung von Cizre ist von den Auseinandersetzungen betroffen.

Die Ausgangssperre ist seit dem 14. Dezember über ganz Cizre verhängt worden, nicht nur über diese vier Viertel. Grundlegende Rechte wie das Recht auf Leben, Kommunikation, Gesundheit, freien Verkehr sowie Zugang zu Wasser und Strom sind massiv beschränkt bis nicht mehr vorhanden. So gibt es zum Beispiel in Nur, Sur und Yafes seit dem 15. Dezember keinen Strom mehr; in Cudi gibt es ebenfalls weitgehend keinen Strom. Die Wasserversorgung funktioniert kaum noch und wird ebenfalls aktiv seitens des Staates behindert: so wurde ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung seitens der Sicherheitskräfte angeschossen, als er Wasser in eins der Viertel bringen wollte.

Manchmal werden Apotheken geöffnet, die sich in der Nähe der Krankenhäuser befinden. Aber diese Apotheken liegen weit ab vom Schuss und sind für den Grossteil der Menschen nicht zu erreichen. Alle Bäckereien in den oben genannten vier verbarrikadierten Vierteln sind geschlossen. In den Vierteln Sah, Kale und Dagkapi sind 2 Märkte pro Tag jeweils für 2 Stunden geöffnet, manchmal machen ebenfalls einige Bäckereien in diesen Vierteln auf.

Sprich 85% der Bevölkerung von Cizre haben so gut wie keinen Zugang zu frischem Wassern und Lebensmitteln. Andererseits befinden sich in den vier zubarrikadierten Vierteln eh kaum mehr Zivilisten; der Grossteil von ihnen ist zwangsemigriert in umliegende Viertel, Dörfer und Städte. Das führt natürlich zu enormen Wohnraumproblemen: erst vor Kurzem hat mich eine Familie angerufen und gesagt, dass sie nun zu Zehnt in einer Wohnung für vier Menschen bleiben. Es gibt zahlreicher solcher Fälle.

Die Kinder haben ernsthafte Probleme: es gibt keinen Zugang zu Babyfutter, Lebensmittel werden von aussen nicht durchgelassen. Schwangere und stillende Mütter haben Probleme, sie können nicht zu Routinekontrollen. Ausserdem, das wissen wir schon von der Belagerung im September 2015, erleiden einige schwangere Frauen Fehlgeburten unter diesen Bedingungen. Laut unseren Informationen haben mehr als 20 Frauen bei der Belagerung im September 2015 Fehlgeburten erlitten.

Die meisten Menschen, die derzeit in Cizre, Sur und Silopi ermordet werden, sind Kinder, Frauen und Alte. Unter ihnen befinden sich auch Menschen mit geistiger Einschränkung: 3 in Cizre, 1 in Silopi, wie wir bisher feststellen konnten. Viele von diesen Toten sind über 40 Jahre alt, Sanitäter befinden sich ebenfalls darunter. Die Vermutung liegt sehr nahe, dass Sanitäter gezielt beschossen werden.

In Nusaybin wurde vor Kurzem wieder ein Arzt verhaftet, weil er Verwundeten half; in Cizre wurde der Sanitäter Agit Tetik verhaftet, weil er seinem verwundeten Onkel helfen wollte. Den Menschen wird also das Recht auf Gesundheit genommen.

Was ist mit den Vierteln von Cizre, in denen sich keine Barrikaden und Gräben befinden, sprich die nicht zu den Hauptkonflikzonen gehören?

Dicle, Sah, Kale, Alibey und Dagkapi sind diejenigen Viertel, in denen sich keine Barrikaden und auch keine Gräben befinden. Doch einige der zivilen Opfer insbesondere in der letzten Zeit stammen aus diesen Vierteln. Auch diese Viertel werden mit schwerer Artillerie beschossen, was zu zivilen Opfern führt. Die Sümer-Brüder zum Beispiel sind ein solcher Fall. Der eine wird erschossen, als er Wasser holen geht, sein Bruder, als er versucht ihm zu helfen.

Erst vor Kurzem ist eine Granate im Viertel Sah eingeschlagen. Das Viertel Sah ist eher ein Beamtenviertel. Ebenfalls wurde eine Moschee im Viertel Kale von Artillerie beschossen. Zwei Kinder wurden verletzt, eines davon starb.

Ums kurz zu machen: auch in diesen Vierteln sind die Menschen nicht sicher und auch von hier hat eine Migrationswelle eingesetzt. In letzter Zeit ist es auch zunehmend schwierig, die Menschen, die sich noch in diesen Vierteln befinden, per Telefon oder Internet zu erreichen. Meine eigene Familie lebt im Viertel Sah; ich kann sie seit 10 Tagen kaum mehr erreichen.

Funktionieren die Krankenhäuser?

Nicht wirklich. Nach den uns vorliegenden Informationen wurde das staatliche Krankenhaus von Cizre in ein Hauptquartier der Streitkräfte umgewandelt, auf dessen Gelände Panzer stationiert sind, die in die Stadt hinein schiessen.

Was hier stattfindet ist ein totaler Angriff auf Städte und eine totale Zerstörung derselben. Hunderttausende Menschen haben ihr Zuhause verloren, ihre Wohnungen wurden zerstört oder ausgebrannt; sie wurden Sperrfeuer ausgesetzt und ihre Autos zertrümmert. Es ist eine Tragödie. Ein Teil Tragödie ist, dass die Kinder ihre Erziehung nicht mehr fortsetzen können. Zum Beispiel wurden gestern landesweit die Zeugnisse ausgestellt, nur nicht in Cizre, Sur, Silopi und Nusaybin. In Cizre 40.000, in Silopi 40.000 und in Sur mehr als 30.000 SchülerInnen haben also ihre Zeugnisse nicht ausgehändigt bekommen.

Die Psychologie der Kinder ist völlig durcheinander, sie machen Traumata durch. Es wird Jahre brauchen, bis sich diese Kinder davon erholen – vielleicht werden sie sich gar nicht erholen. Es wird gezielt so vorgegangen, dass sich die Kinder von diesen Traumata nicht erholen können sollen. Ich zum Beispiel war ein Kind während der 1990er. Was ich damals erlebte wirkt heute immer noch nach, ich konnte mich immer noch nicht davon freimachen. Und was die Kinder heute durchleben, ist heftiger, als was wir damals erlebten: in den 1990ern wurde noch nicht ein solch umfassendes Kriegskonzept angewandt. Ja, die Dörfer wurden geleert. Aber jetzt werden die Städte bombardiert. In den Dörfern lebten damals jeweils 100, 200 vielleicht 500 Menschen; in den Städten, die derzeit bombardiert werden, leben jeweils mehr als Hunderttausend Menschen.

Hier finden schwere Vergehen an den Menschenrechten statt. Wir haben uns mehrmals mit Eilanträgen an den Europäischen Gerichtshof gewandt, aber der entschied leider nicht bestimmt genug. Es ging um die Erzwingung der Auslieferung von Schwerverletzten an Krankenhäuser; alle vier Personen, für die wir Eilanträge beim Europäischen Gerichtshof einreichten, verstarben, trotz dass der Europäische Gerichtshof im Sinne der Verletzten entschied. Wir sind der Meinung, dass der Europäische Gerichtshof regelrecht rebellieren müsste bei solch ausufernden und brutalen Ausgangssperren, aber nichts dergleichen tut.

Wieviele zivile Opfer sind derzeit zu beklagen?

In der neuesten Untersuchung von Amnesty International werden Zahlen zu den zivilen Opfern genannt: in Cizre sind bisher mehr als 65, in Silopi nach Ende der Gefechte 27 und in Sur bisher 21 zivile Opfer zu beklagen. Wir wissen, dass die meisten dieser Meschen an Blutverlust starben, weil sie nicht rechtzeitig in die Krankenhäuser gebracht werden konnten.

Wie sieht es mit humanitärer Hilfe für die Bevölkerung von aussen her aus? Wer kümmert sich um die Geflüchteten?

Der Staat hilft den Menschen aus Cizre nicht. Ihnen helfen diejenigen, bei denen sie nach der Emigration unterkommen. Ich selbst zum Beispiel verliess Cizre wegen einem Arztbesuch in Ankara; ein paar Tage darauf wurde die Ausgangssperre verhängt. Seitdem komme nicht mehr zurück nach Cizre, obwohl ich das die ganze Zeit versuche. Ich befinde mich also gewissermassen im Exil wider Wıllen und komme derzeit hier in Diyarbakir bei Freunden unter, die sich um mich kümmern. Ich bin natürlich ein Individuum, das macht es einfacher. Aber es emigrieren ja vor allem Familien. Das führt zu Wohnraum- und Lebensmittelproblemen. Wenn man heute Dörfer in der Umgebung von Cizre besucht, sieht man, dass mehrere Familien in einer Wohnung untergebracht sind. Es ist regelrecht eine Tragödie. Die Menschen sind im Schockzustand: sie wissen nicht, wo sie hin sollen und was sie machen sollen. Die Menschen haben kaum Geld, um irgendwohin zu reisen; sie wissen nicht, wie sie ihr Überleben dort sichern sollen, wo sie hinfliehen.

Einmal hat der Staat einen LKW vom Roten Mond geschickt. Wir denken, dass das eine Show war für den Europäischen Gerichtshof, bei dem wir die Türkei ja verklagt hatten. Ausserdem ist es auch hier der Fall gewesen, dass die Polizei die Menschen, die Zugang zu diesen Hilfsgütern wollten, bedrohte und in die Luft schoss.

Uns rufen öfter zivilgesellschaftliche Organisationen an und bieten an, humanitäre Hilfe nach Cizre oder Silopi zu schicken. Aber der Provinzgoverneur erlaubt das nicht. So wurden einmal LKW's in Idil festgehalten und daran gehindert, weiter zu fahren.

Wie wird begründet, dass keine humanitäre Hilfe durchgelassen wird?

Nun, der Provinzgoverneur meint, dass sich der Staat schon ausreichend um seine BürgerInnen kümmert und deshalb keine humanitäre Hilfe von aussen nötig noch wünschenswert ist, was natürlich absurd ist. Ausserdem leben die meisten Menschen schon nicht mehr in Cizre. Wie gesagt, knapp 90.000 Menschen sind wegen dem Krieg emigriert und leben nun wo anders.

Und der Wiederaufbau? Wie soll der denn nach einem Ende der Belagerung vonstattengehen?

Der Staat sagt, er würde mit dem TOKI [Anm. d. Red.: die Toplu Konut Idaresi ist die staatliche Wohnungsbaubehörde, die bekannt dafür ist, dass sie Gentrifizierungsprozesse in ehemals eher ärmeren Gegenden vorantreibt und die ansässige Bevölkerung in Randgebiete umsiedelt] neue Wohnhäuser bauen. Die TOKI-Wohnhäuser, d.h. vielstöckige Mehrfamiliengebäude, die jeweils für Kleinfamilien entworfen sind, vertragen sich nicht mit unserer soziologischen Struktur. Wir leben oft als Grossfamilien zu zwanzigst oder dreissigst gemeinsam in einstöckigen, einzelnen Wohnhäusern mit Gärten und grossen Wohnzimmern. Nachbarschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen sowie ein aktives gemeinsames Leben im Viertel zeichnen unsere Wohnkultur aus. Wir wissen auch deshalb, dass unser Volk keine Lust auf TOKI-Wohnhäuser hat, weil wir vor einiger Zeit eine Umfrage gemacht haben, bei der herauskam, dass fast 100% der Befragten in Cizre die TOKI-Wohnhäuser ablehnen und in solchen nicht wohnen wollen.

Gibt es Unterschiede zwischen der ersten Belagerung von Cizre vom 4. bis zum 12. September und der derzeitigen?

Damals wurden die Viertel Nur, Cudi und Yafes und insbesondere Nur ins Visier genommen. Diesmal ist über der ganzen Stadt eine Ausgangssperre verhängt und die ganze Stadt wird in den Konflikt hineingezogen. Damals wurden 22 Zivilisten umgebracht, inklusive einem 28-tägigen Baby. Die Ausgangssperre hielt damals 9 Tage, diesmal ist sie heute schon beim 40. Tag. Wir können sagen, dass die derzeitige Belagerung umfassender, die Methode aber die gleiche ist: auch damals wurden ganze Viertel beschossen, wenn auch Panzer weniger zum Einsatz kamen. Aber auch damals wurden schon willkürlich Zivilisten ermordet: so konnten wir feststellen, dass 8 Zivilisten im Viertel Cudi, in dem gar keine Gefechte stattfanden, von Scharfschützen aus grosser Distanz, also aus einer Entfernung von 500-1000m, erschossen wurden.

Derzeit wird die Stadt mit Dutzenden Panzern umzingelt, die meisten Häuser, insbesondere in den Vierteln Cudi, Sur, Yafes und Nur, sind beschädigt.

Warum hat der türkische Staat einen so barbarischen Krieg gestartet?

Die Türkei geht gerade durch eine Periode der Geistesumnachtung. Ich denke es gibt für das derzeitige Geschehen keine andere Erklärung. Denn niemand in diesem Land möchte Krieg, möchte, dass Menschen sterben, egal ob Soldaten oder Guerilla. Krieg und Tod machen uns nicht glücklich. Im Gegenteil, sowas macht uns unglücklich.

Aber es herrscht eine Geistesumnachtung vor. Akademiker unterzeichnen einen Aufruf für den Frieden und was passiert, ist, dass sie fast gelyncht werden: viele werden inhaftiert, einige werden gefeuert, gegen alle sind Verfahren am Laufen. Der Präsident und der Ministerpräsident haben Erklärungen durchgegeben, die den Aufruf im Grunde mit Terrorismus gleichsezen. Wie soll man das denn anders erklären? Es heisst, in diesem Land herrsche Meinungsfreiheit. Das glaube ich nicht mehr.

Was hier derzeit stattfindet ist ein unglaublich zerstörerischer Krieg, der in Gebieten ausgetragen wird, in dem Zivilisten leben. Das ist inakzeptabel. In Cizre geht es offensichtlich darum, die Menschen aus der Stadt zu vertreiben, die Stadt gewissermassen zu leeren. Das hat furchtbare Konsequenzen für die Bevölkerung. Ich kann dies nur als Geistesumnachtung bezeichnen, ich kann diesem Krieg keinen anderen Sinn geben.

Ich möchte hier nochmal an internationale Institutionen wie die UN, die EU-Kommission und ähnliche Institutionen appellieren, ihre Hand schnell zu halten, weil hier schwerste Vergehen an Menschenrechten stattfinden. Um dem allem und vor allem um zivilen Toten vorzubeugen, müssen diese internationalen Institutionen dringend handeln, BeobachterInnen schicken und auf beide Kriegsparteien Druck ausüben, damit dieser Krieg endet.

Was müsste jetzt gemacht werden, um den Krieg und den Konflikt ein für allemal zu beenden?

Wir glauben, dass es klar ist, was die Türkei machen muss, damit der Konflikt beendet wird: die Gefechte müssen sofort aufhören, die Waffen schweigen und beide Seiten – die PKK wie auch der Staat – müssen erklären, dass sie keine Operationen mehr starten. Beide Seiten müssen diese Auseinandersetzungen stoppen, bevor noch mehr Menschen sterben und noch mehr Verwüstung stattfindet. Der umgestossene Verhandlungstisch muss wieder aufgestellt, der Lösungsprozess wieder aufgenommen werden. Auf den Philippinen hat die Türkei doch vor Kurzem eine Lösung zwischen dem Staat und den Guerilla der MILF mit starken Autonomierechten für die Moro vermittelt. Das ist doch kaum zu glauben, dass die Türkei sowas auf den Philippinen schafft, im eigenen Land aber Krieg führt, weil eine Minderheit mehr demokratische Rechte möchte.

Es gibt eine parlamentarische Basis für eine Lösung der Probleme. Die Regierungspartei hat eine Mehrheit von 49% und die HDP, die auch schon früher die Verhandlungen und den Friedensprozess mitgeführt hat, ist ebenfalls mit über 10% im Parlament vertreten. Die beteiligten Parteien müssen sich im Rahmen der Reformierung der Verfassung zusammensetzen und das Kurdenproblem auf einer verfassungsrechtlichen Ebene lösen, die dementsprechenden Gesetze erlassen. Ich denke, dass das eigentlich ganz einfach ist.

Das Interview führte Alp Kayserilioglu vom LCM