Diese Hybris und ihr Versprechen der Grösse haben Staatspräsident Erdoğan und das unter seiner Führung organisierte national-autoritäre Regime auch bitter nötig, wo doch die Realität ganz anders aussieht: eine teils katastrophale Pandemiebekämpfung, einbrechende Umfragewerte für das Regime, eine schwere Wirtschaftskrise insbesondere für die unteren und Mittelklassen und eine erstarkende Opposition vor allem in den (oppositionsgeführten) Grossstädten. Das entgeht natürlich weder Erdoğan noch seinen Verbündeten.
Deshalb radikalisieren sie ihre bisherigen Hauptmechanismen der autoritären Konsolidierung: militärische Auslandseinsätze, Inhaftierung von Oppositionellen, Repression gegen Dissident*innen, Gesetze zur Schwächung der Zivilgesellschaft, Einschränkung der Handlungsfähigkeit oppositioneller Bürgermeister*innen, chauvinistische und sexistische Propaganda und so weiter. Dabei verschärfen sich auch die internen Fraktionskämpfe des Regimes. SARS-CoV-2 ist somit ein Katalysator gesellschaftlicher Antagonismen in der Türkei. [1]
Im Prinzip handelt die Türkei in der Bekämpfung des Virus nach denselben Handlungsmaximen wie alle entwickelten kapitalistischen Länder des Westens: Das Regime versucht eine Strategie umzusetzen, die abwägt zwischen kurzfristigen Stabilitäts- und Wirtschaftsinteressen und langfristigen Interessen kapitalistischer Akkumulation. Sterben zu schnell zu viele Menschen, kann es zur Destabilisierung kommen; werden zu viele beschränkende Massnahmen verhängt, fallen die Profite zu stark. Eine konsequente Eindämmungspolitik des Virus wird deshalb, wie auch in Deutschland, explizit nicht verfolgt.
Der Präsidentensprecher Ibrahim Kalın brachte das sehr direkt auf den Punkt, als er festhielt: »Die wirtschaftlichen Kosten einer allgemeinen Ausgangssperre wären hoch.« Auch dem Gesundheitsminister Fahrettin Koca war klar, dass die Eindämmungsperspektive durchaus möglich ist; er wischte sie allerdings allzumenschlich beiseite: »Um dieses Problem vollständig zu lösen, müsste man eine vollständige Isolation implementieren. Aber kein Land der Welt will das. Auch die Türkei will das nicht. Aus nachvollziehbaren Gründen wird nirgends auf der Welt und auch in der Türkei nicht auf vollständige Isolation gesetzt.«
Im Unterschied allerdings zu Ländern wie der BRD verfügt die krisengebeutelte Türkei nicht über genug Ressourcen und vor allem das politische Regime nicht über genug Stabilität, um eine Kontrolle der Epidemie im Rahmen jener Handlungsmaximen effektiv zu betreiben. Zwar wurden nach und nach alle grösseren Geschäfte und gastronomischen Läden geschlossen, es gab aber im Prinzip nie effektive Kontaktbeschränkungsmassnahmen, und die meisten Massnahmen wurden nur sehr zögerlich und dann für vergleichsweise kurze Zeit eingeführt.
Wie die türkische Ärztekammer (TTB) ganz richtig festhält, wälzte der Staat die gesamte Verantwortung auf die einzelnen Bürger*innen ab und sorgte selbst für die Verbreitung einer Aura der Sorglosigkeit mittels einer sogenannten »Rückkehr zur Normalität« ab dem 1. Juni, inklusive propagandistischer Grossveranstaltungen wie die Einweihung der Hagia Sophia mit Hunderttausenden Beteiligten. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Virusverbreitung wurden zwar wiederholt komplette Ausgangssperren in mehreren Grossstädten verhängt. Dies aber bewusst nur an Wochenenden oder Feiertagen, also an Tagen, an denen Arbeiter*innen sowieso am ehesten frei haben und deshalb am wenigsten Profite zu entfallen drohen.
Das halbherzige Vorgehen in der Pandemiebekämpfung schlägt sich auch nur bedingt in verlässlichen Zahlen nieder. Mit Stand vom 22. September 2020 sind offiziell 302.867 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert gewesen und 7.506 Personen daran verstorben. Aber noch Monate nach der ersten offiziellen Corona-Infektion gab es kaum eine genaue Aufteilung der Infizierten und Toten nach Regionen, Alter und Vorerkrankungen, so dass sich die Ärztekammer über längeren Zeitraum nicht in der Lage sah, eine angemessene epidemiologische Analyse vorzunehmen.
Erst am 1. Juli, also 112 Tage nach dem ersten registrierten Infektionsfall, fing das Gesundheitsministerium an, regelmässige Berichte und Daten zu veröffentlichen. Aber bis zum heutigen Tage beschwert sich die Ärztekammer über intransparente und unzulängliche Daten. Irregularitäten in den zur Verfügung gestellten Daten sowie prohibitive Interventionen des Gesundheitsministeriums in die Forschung wurden in einem offenen Brief vom 15. August in der internationalen Fachzeitschrift The Lancet von praktizierenden Ärzten gebrandmarkt und vom Gesundheitsminister natürlich sofort in derselben Zeitschrift dementiert.
Ärztekammer wie Gewerkschaften des Gesundheitssektors weisen seit geraumer Zeit darauf hin, dass die echten Infektionsfälle weit über den offiziellen Zahlen liegen und dass sie Todesfälle registrieren, die COVID-19 zuzuordnen sind, aber anders klassifiziert werden, um die Statistik zu beschönigen. Der Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu meinte kürzlich, dass laut den ihm vorliegenden Zahlen allein Istanbul so viele Neuinfektionen am Tag registriert wie das Gesundheitsministerium für die ganze Türkei angibt (also grob über 1500); ähnliches meinte der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş.
Aus vielen Städten wurde zumindest zeitweise darüber berichtet, dass die Intensivstationen in Krankenhäusern überfüllt waren, was sogar der Gesundheitsminister nachträglich zugeben musste. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Grossstädte – etwa 70 Prozent – glaubt laut einer Umfrage den Zahlen des Gesundheitsministeriums nicht. Aber auch schon die offiziellen Zahlen zeigen, dass die Türkei in eine Phase der Lockerungen eintrat, als die erste Welle noch gar nicht abgeklungen war, weshalb Expert*innen wie die Türkische Thorax-Vereinigung schon längst vor dem Gesundheitsminister von einem »zweiten Peak der ersten Welle« sprachen. Unter den Umständen einer intransparenten und relativierenden Vorgehensweise der Regierung, überrannter Krankenhäuser, steigender Infektions- und Todesfälle unter Krankenhausbeschäftigten und fehlenden Schutzmassnahmen haben mittlerweile Hunderte Gesundheitsarbeitende ihre Kündigung eingereicht.
Als Folge der unentschlossenen Pandemiebekämpfung erreichte die effektive Reproduktionszahl [2] in Istanbul kurzzeitig (Anfang April) den sagenhaften Wert von 16 und türkeiweit (Ende März) den Wert von neun, was im weltweiten Vergleich sehr hoch ist. Laut Ärztekammer schneidet die Türkei im Vergleich zu ähnlich situierten Ländern auch in anderen Hinsichten (Tote pro 1000 Einwohner*innen, Neuinfektionen gerechnet auf Tage nach dem ersten Infektionsfall, usw.) eher schlechter ab. Dabei zeigen erste vorläufige Studien, dass mit 0,81 Prozent Seroprävalenz von Coronavirus-Antikörpern in der Bevölkerung auch die Türkei weit entfernt ist von einer Herdenimmunität, für die ja grob 60 Prozent notwendig wären (Stand: Ende Juni).
Dabei trifft SARS-CoV-2 wie in den meisten Ländern so auch in der Türkei die Schwächsten: Von den Fabriken über die Textilbranche und den Dienstleistungssektor bis hin zum Bausektor hatten viele oft informell beschäftigte Arbeiter*innen, die nicht zum Management gehören, keine andere Wahl, als auch in Hochzeiten der ersten Welle zu arbeiten, oft ohne ausreichende Schutzbestimmungen, gefangen zwischen der Skylla der Infektion und der Charybdis des Hungers. [3] Besonders negativ betroffen sind Frauen, insofern sie viel häufiger als Männer ihre Jobs verloren und zudem den Grossteil der zusätzlich anfallenden Reproduktionsarbeiten im Haushalt übernahmen, wie eine UN-Studie festhält. Auch in der Türkei brachen grössere Infektionsgeschehen an Produktionsstandorten aus, so bei SuperFresh (Lebensmittel) und Ülker (Gebäck) in Bursa, Eti Gıda (Gebäck) in Eskişehir oder Gedik Piliç (Geflügelfabrik) in Uşak und BMC (Automobil) in Izmir.
In einer der grössten Fabriken des Landes, Dardanel (Dosenfisch) bei Çanakkale, wandten Manager ein sogenanntes »geschlossenes Arbeitssystem« an, um die Produktion trotz eines grossen Infektionsgeschehens fortzusetzen. »Geschlossenes Arbeitssystem« hiess in diesem Fall, dass die Infizierten nur mehr miteinander auf Schicht arbeiten und auf dem Betriebsgelände isoliert von Kontakt nach aussen leben sollten – um niemanden sonst mehr anzustecken! Bei Vestel (Haushaltsgeräte), einer anderen grossen Fabrik mit Tausenden Arbeiter*innen, ignorierten Manager*innen nicht nur Sicherheitsbestimmungen und versuchten ein grosses Infektionsgeschehen zu verdecken, sondern sie exponierten die Arbeiter*innen willentlich und wissentlich einem grossen Infektionsrisiko.
In Yusufeli bei Artvin hingegen wurden Arbeiter*innen eines Staudamms de facto vom Gouverneur dazu gezwungen weiter auf der Baustelle zu verbleiben und zu arbeiten trotz eines laufenden Infektionsgeschehens. Ausser BMC bei Izmir wurden aber bisher keine der betroffenen Fabriken geschlossen. Bei einer solchen Sorglosigkeit ist es kein Wunder, dass in Istanbul – dem »Wuhan der Türkei« laut dem Gesundheitsminister – die ärmsten Viertel wie Bağcılar, Esenler und Bayrampaşa am heftigsten von der Epidemie betroffen sind.
Um die tatsächlichen Ausmasse der Pandemie einzuschätzen, könnte man nun einen Blick auf die Exzessmortalität (eine im Verhältnis zu einem Vergleichszeitraum feststellbare erhöhte Sterblichkeit) werfen, wie dies in Europa üblich ist. Das ist allerdings für die Türkei wegen der mangelhaften Datenlage schwierig. Die New York Times und der Economist haben weltweit die Übersterblichkeit untersucht. Der Economist kommt dabei zum Ergebnis, dass sich die Exzessmortalität in Istanbul auf der Höhe des ersten Peaks zwischen März und Mai auf grob 50 Prozent belief, während die Anzahl der Exzess-Toten fast doppelt so gross war wie die offiziell festgestellten COVID-19-Toten.
Die New York Times hingegen schätzt die Exzessmortalität in Istanbul im Vergleich zu 2017-19 auf grob 20 Prozent, allerdings für den Zeitraum von März bis Ende Juni. Da es aber keine genauen Zahlen zu allen Todesfällen geschweige denn zu COVID-19-Toten in Istanbul gibt, ist dies nur eine grobe Schätzung und zudem nicht auf das ganze Land übertragbar. Prof. Steve Hanke von der Johns Hopkins Universität ordnete die Türkei wegen all dieser Ungenauigkeiten und Intransparenz denjenigen Ländern zu, deren Zahlen zu COVID-19 sehr unzuverlässig seien.
Der Einbruch
Wie überall sonst auf der Welt, führte die Corona-Krise auch in der Türkei trotz Beschönigungsversuchen des Regimes zu einem massiven Wirtschaftseinbruch, der die unteren und mittleren Klassen ungleich härter trifft. Dabei traf aber die Corona induzierte Krise auf eine sowieso schon angeschlagene Wirtschaft, was zu einem Währungsschock wie im Sommer 2018 führte und das Potenzial für eine ausgewachsene Wirtschaftskrise hat. Die Industrieproduktion brach zwischen Februar und Mai durchgehend ein und wuchs erst im Juni wieder; die Nettokapitalinvestitionen gingen, wie durchgehend seit Mitte 2018, zurück so wie auch das gesamte Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal 2020 um 9,9% gegenüber dem Vorjahresquartal zurückging.Besonders stark waren Exporte und Tourismus, die Hauptdeviseneinnahmenquellen der türkischen Wirtschaft, betroffen: Während Exporte um grob 35 Prozent im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum einbrachen, besuchten 75 Prozent weniger Besucher*innen die Türkei im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Optimistische Hochrechnungen gehen davon aus, dass die Einnahmen aus dem Tourismus im gesamten laufenden Jahr um mehr als 50 Prozent gegenüber 2019 einbrechen könnten. Der IWF rechnet mit einem Einbruch des Bruttoinlandproduktes von fünf Prozent über das gesamte Jahr, die OECD hingegen von 2,9 Prozent, während die echte Arbeitslosenquote [4] schon jetzt um die 25 Prozent beträgt und bei Umfragen mindestens die Hälfte aller Beteiligten über finanzielle Einbussen, Nöte und Zukunftsängste im Zuge der Pandemie klagt. Bis zu 20 Millionen Menschen könnten in die Armut rutschen, doppelt so viele wie bisher.
Dem Regime stehen dabei nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung, um die aktuelle Krise zu bekämpfen. Wegen der strukturellen Schwächen des Neoliberalismus in der Türkei (hohe Abhängigkeit von ausländischen Kapitalflüssen, Devisen, Importen für Binnen- wie Exportproduktion und so weiter) kam die türkische Wirtschaft schon 2013 ins Straucheln, als die us-amerikanische Zentralbank (US Fed) das Ende ihres zwecks Bekämpfung der Krise 2007ff. implementierten Anleihekauf- und Geldexpansionsprogramms (quantitative easing) verkündete.
Die teilweise Abwendung des Regimes vom neoliberaliberalen Konstitutionalismus wie die Ablösung nichtpolitischer Institutionen und Wirtschaftspolitiken durch die Re-Politisierung des Wirtschaftsmanagements sowie Erdoğans dezisionistische Politikgestaltung kamen erschwerend hinzu, so dass es seit 2013 zu mehreren Einbrüchen der Wirtschaft und einer Instabilität derselben kam. Als diese Instabilität im Sommer 2018 ausgelöst durch einen diplomatischen Konflikt mit den USA zu einem schweren Währungsschock führte, explodierten die Importkosten und Auslandsschulden des Privatsektors, was wiederum zu Rückzahlungsproblemen, Schuldenumstrukturierungen im Milliardengrösse, einer Explosion der Inflation und zu einem Inflations-induzierten Konsumtionseinbruch führte.
Als die Corona-induzierte Wirtschaftskrise unter diesen Umständen einsetzte, intervenierte die Regierung zuerst in dreierlei Art und Weise, um Unternehmen zu stützen. Zum einen wurde im März ein Konjunkturpaket im Umfang von 100 Milliarden Türkischen Lira (TL) (derzeit etwas weniger als 11,5 Milliarden Euro) verabschiedet, das hauptsächlich aus Steuererleichterungen und Lohnnebenkostenhilfen bestand, aber fast nichts für die Werktätigen selbst beinhaltete. Zum zweiten intervenierte die Regierung mittels Zentralbank (TCMB) und anderen öffentlichen Banken massiv in den Finanzmarkt und den Aussenhandel, um einen weiteren Fall der Lira angesichts der sich trübenden Weltwirtschaftslage und der einsetzenden Kapitalflucht von etwas mehr als 11 Milliarden US-Dollar in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres zu verhindern.
Das beinhaltete den Verkauf von Devisenreserven der Zentralbank in einer Grössenordnung von grob 65 Milliarden US-Dollar von Anfang des Jahres bis Ende Juli, aber auch die Einführung von leichten Kapitalverkehrskontrollen und Handelsbeschränkungen wie die Beschränkung des Devisenhandels und die Erhöhung von Importzöllen auf mittlerweile fast 5000 Waren. Drittens stieg die Kreditvergabe an angeschlagene Unternehmen zu realen Negativzinsen über öffentliche Banken explosionsartig.
Inmitten dieses Corona-Einbruchs und der Krisenmassnahmen setzte plötzlich erneut ein schwerer Währungsschock im August ein. Als der Tagessatz für TL-Swaps [5] in London in der Nacht des 4. August auf unglaubliche 1050 Prozent sprang – weil die schon erwähnten Kapitalrestriktionen für ausländische Banken und Restriktionen von TL-Swaps zu einer TL-Krise von Anlegern und daran anschliessend zu einem Panikverkauf von TL-dotierten Aktien und Wertpapieren zwecks Beschaffung von Liquidität in TL führte – fiel der Wert der Lira ins Bodenlose: Seit Anfang des Jahres bis zum 17. September verlor die Lira fast 27 Prozent gegen den US-Dollar und 32 Prozent gegenüber dem Euro, den zwei für die türkische Wirtschaft wichtigsten Auslandswährungen.
Relativ schnell gingen die Nettoreserven der TCMB – ausschliesslich Swaps – ins Negative und die TCMB musste Swapdeals mit Qatar, China und den Privatbanken der Türkei abschliessen, um die Lage zu retten – was nicht viel brachte, da nun die negativen Nettoreserven exklusive Swaps der TCMB die Situation verschärften. Weil Erdoğan seit Jahren gegen die Erhöhung des Leitzinses ist – und zwar nicht, weil er ein Idiot ist oder an eine »heterodoxe Wirtschaftstheorie« glaubt, sondern weil er zurecht die Vernichtung der kleinen und mittleren Unternehmen, eines wichtigen Elements seiner popularen Basis durch höhere Zinsraten befürchtet –, blieb der TCMB nichts anderes übrig als im Prinzip eine 180°-Wendung in der Krisenbekämpfung hinzulegen: Der massiven Kreditexpansion folgte eine ebenso massive Kreditkontraktion und die TCMB fing an durch die Hintertür die Zinsraten zu erhöhen, obzwar der Leitzins unverändert blieb.
Vergeblich die Tausend Bemühungen der Sterblichen: Die Lira stürzt weiter und Expert*innen gehen davon aus, dass der TCMB so langsam die Alternativen zur Erhöhung des Leitzines ausgehen, da die negativen Realzinsen Investitionen behindern und Druck auf Bankeinlagen erzeugen, weil Konsument*innen wegen Furcht vor Kaufkraftverlust ihr Geld abziehen und in sicherere Anlagen wie Immobilien oder Wertmetalle deponieren.
Goldimporte belegen mittlerweile mit einem Anstieg von 119 Prozent in den ersten acht Monaten des Jahres gegenüber dem Vorjahreszeitraum Platz eins im Leistungsbilanzdefizit der Türkei und die Regierung zerbricht sich den Kopf darüber, wie sie all die Schätze, die unter den Matratzen versteckt werden und fast halb so viel wert sind wie das Bruttoinlandsprodukt der Türkei, in das Finanzsystem überführen kann. Gleichzeitig fallen die Aktienpreise türkischer Banken stark wegen sinkender Profitaussichten (da realer Negativzins) und private Haushalte investieren immer mehr nicht mehr nur in ausländische Währungen, die mittlerweile über 50 Prozent aller Bankeinlagen ausmachen, sondern in Eurobonds (Wertpapiere in ausländischer Währung), weil diese höhere Profite versprechen als Währungseinlagen.
Ob die von der TCMB am 24. September vorgenommene Erhöhung des Leitzinses um 200 Basispunkte von 8,25 Prozent auf 10,25 Prozent einen wirklichen Trendwechsel im Krisenmanagement markiert, wird sich noch zeigen, vor allem da der de facto Zins wegen den Hintertür-Massnahmen schon höher liegt und 10,25 Prozent immer noch einen realen Negativzins darstellen. Berat Albayrak hingegen ist weiterhin erpicht darauf, seine künstlerische Dauerperformance mit dem Titel »Finanzminister der Türkei« weiter aufzuführen: Seiner Ansicht nach werde »dynamisch« mit der Situation umgegangen und gewinne die Türkei wegen einer »kompetetiven Währung«, was zu einem Höhenflug führen werde.
Fast alle diese Massnahmen der Regierung widersprechen strengen Dogmen des Neoliberalismus. Es scheint aber zu früh, um deshalb schon von einem Post-Neoliberalismus in der Türkei als eines eigenen Akkumulationsregimes zu sprechen, wie es der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Ümit Akçay zu tun scheint. Ebenso verkehrt ist es, von einem neuen Neoliberalismus in der Türkei zu sprechen, wie es die Marxistin Pınar Bedirhanoğlu schon seit längerem tut. Neoliberalismus lässt sich nicht allein verstehen mittels eines Blicks auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit; es muss auch noch das Verhältnis von Staat und Kapital und letztlich die Gesellschaftsformation als Ganze in Betracht gezogen werden.
Die schwierige, teils widersprüchliche Beziehung zwischen autoritären Populisten an der Macht, dem Neoliberalismus und den führenden Fraktionen des Grosskapitals wurde von kritischen Forscher*innen global vergleichend herausgearbeitet. Ob es sich in der Türkei bezüglich der politischen Ökonomie derzeit um einen Übergang zu einer anderen Akkumulationsweise oder gar zu einem neuen Neoliberalismus handelt, lässt sich gar nicht so genau angeben, da sich die Türkei in dieser Hinsicht derzeit eher in einem instabilen Krisenregime befindet, um dessen Stabilisierung unterschiedliche Akteure auf Grundlage unterschiedlicher Interessen und strategischen Vorstellungen miteinander fechten. Re-Politisierung des Wirtschaftsmanagements, eine viel zu starke und unkontrollierte Autonomie der Exekutive, Isolation in der Aussenpolitik und gesellschaftliche Polarisierung beschränken und behindern auch in der Türkei die Mobilität, Stabilitätsinteressen und Kontrolle der führenden Fraktionen des Kapitals, weswegen sich der grösste Interessenverband des Grosskapitals, TÜSIAD, seit 2013 durchgehend diesbezüglich beschwert.
Auch während der Corona-Pandemie betonte der TÜSIAD, dass zu frühe Lockerungen gefährlich sind, eine Importsubstitution grosse Schäden verursacht, dass Frauenrechte zu achten sind und letztlich dass ein politisiertes und Kredit-basiertes Wirtschaftsmanagement nicht funktioniert und stattdessen ein produktives Update des türkischen Kapitalismus vonnöten ist. Selbstverständlich sind es aber zugleich die führenden Fraktionen des Grosskapitals in der Türkei, die am meisten von der Wirtschaftspolitik der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) profitierten – sei es durch Privatisierungen, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse oder dem Zufluss von ausländischem Kapital.
Daher sehen sie die derzeitige Krise auch als grosse Chance: Die Interessenverbände des Grosskapitals, ob nun eher islamisch-konservativ (MÜSIAD) oder westlich-laizistisch (TÜSIAD) orientiert, reden davon, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, China in der globalen Wertschöpfungskette zu ersetzen. Die vorgeschlagenen Mittel sind dystopisch: Die Rede ist von riesigen, abgeschotteten Industrie-Städten mit rechtlosen Arbeitskräften und einem elektronischen Überwachungspanopticon unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung. Gleichzeitig arbeitet die Regierung auf Anweisung von Erdoğan an Gesetzen, um das Abfindungsrecht massiv einzuschränken und Teilzeitarbeit zu normalisieren. Der linke Gewerkschafter Aziz Çelik warnt, auf dem Hintergrund der oben erwähnten Erfahrung mit dem »geschlossenen Arbeitssystem« bei Vestel, zu Recht vor »Covid-1984«.
Für die Armen und Mittellosen hat der Staat jedenfalls so gut wie nichts übrig. Das Kurzarbeitergeld für formell Beschäftigte beschränkt sich auf etwas weniger als fünf Euro pro Tag. Davon und von ähnlichen Zuwendungen profitierten zwar grob sechs Millionen Arbeiter*innen bis Anfang August. Aber allein die Unterstützungszahlungen des staatlichen Arbeitslosenfonds an Unternehmen (!) seit 2019 bis heute sind höher als die Gesamtsumme an Kurzarbeitergeldern, die der Fonds im Zuge der Corona-Pandemie an Werktätige und Arbeitslose auszahlte.
Auch die offiziellen Zahlen des Präsidialamtes zeigen auf, dass alle Unterstützungszahlungen für Werktätige bis Anfang September grob ein Drittel so gross waren wie das unternehmensfreundliche Hilfspaket vom März. Also appellierte der Staat an die Bevölkerung das zu tun, was eigentlich Aufgabe des Staates ist, nämlich sich um Menschen in Notlagen zu kümmern: Fast zeitgleich riefen Erdoğan wie die von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) geführten Stadtregierungen separat zu Spendenkampagnen für Bedürftige auf. Die offizielle Kampagne von Erdoğan konnte nach eigenen Angaben bis zum 30. Juni etwas weniger als 280 Millionen Euro zusammentragen.
Die ganze Misere macht sich allerdings erst auf lokaler Ebene fest: Zur bisherigen Hochzeit der Pandemie im Mai beantragten ein Siebtel aller Istanbuler Haushalte, mehrheitlich aus den ärmsten Vierteln, individuelle Hilfsleistungen bei der Stadtregierung; in Ankara wurden bis Ende Mai Güter im Wert von über 30 Millionen TL (grob 3,4 Millionen Euro) durch die Vermittlung der Stadtregierung an Bedürftige gespendet. Laut eigenen Angaben versorgten CHP-geführte Kommunen bis Ende Mai insgesamt mehr als vier Millionen Familien mit Hilfen. Diese und ähnliche Kampagnen gingen weiter bis zum Opferfest (kurban bayramı). Das war dem Regime ein Dorn im Auge.
Versuche autoritärer Konsolidierung
Die Corona-Pandemie und ihre Bekämpfung leiteten Akt Zwei im Kampf um die Grossstädte ein. Nachdem das Regime bei den Kommunalwahlen letzten Jahres fast alle wichtigen Grossstädte inklusive Istanbul und Ankara verlor, wurde es seine Leitlinie, die oppositionellen CHP-Bürgermeister finanziell lahmzulegen und ihren Handlungsspielraum über die noch von den Regime-Parteien dominierten Stadtparlamente zu blockieren. So sollte verhindert werden, dass die Opposition über erfolgreiche Lokalpolitik an Fahrt aufnimmt. Als nun die CHP-Bürgermeister ihre eigenen lokalen Spendenkampagnen ins Leben riefen, intervenierte das Innenministerium sofort und verbot die Annahme von monetären Spenden seitens der Stadtregierungen. Erdoğan sprach vom Versuch, einen Parallelstaat aufzubauen, und verglich das Vorgehen der Bürgermeister mit Terrorismus.Daraufhin wichen die Stadtregierungen auf Naturalhilfen und die Vermittlungstätigkeit von Spenden aus. Die Rechnung der Regierung ging somit nicht auf: Die Zustimmungswerte für die oppositionellen Bürgermeister*innen und ihre Parteien steigen kontinuierlich; Opposition und AKP beziehungsweise Erdoğan nehmen sich in Umfragen nicht mehr viel. Gleichzeitig brechen aber die Einnahmen der Städte ein, und die Regimeparteien reduzieren oder blockieren Finanzmittel und Kreditaufnahme. Schon jetzt kündigt der Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu (CHP) ein Kürzungsprogramm von 35 Prozent in allen Ressorts an. Wie lange die Ressourcen der oppositionellen Bürgermeister reichen, ist ungewiss.
Um die schwindende Legitimation auszugleichen, griff das Regime auf seine altbekannten Taktiken autoritärer Konsolidierung zurück. Zum einen ging die Repression, insbesondere gegen die linke, pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), nahtlos weiter: Mittlerweile sind fast alle HDP-Bürgermeister*innen wegen »Terrorverdachtes« abgesetzt, drei Parlamentarier*innen (zwei von der HDP, einer von der CHP) wurden teils zeitweise inhaftiert, missliebige Richter*innen wie die Vorsitzende der Richter*innengewerkschaft Ayşe Sarısu Pehlivan strafversetzt oder vom Dienst suspendiert. Erst heute wurde wieder zu einem grossen Schlag gegen HDP und andere Linke in mehrere Städten ausgeholt: 82 Personen, darunter ehemalige Parlamentarier*innen wie Sırrı Sürreyya Önder oder Altan Tan, wurden festgenommen unter den abstrusesten Terrorvorwürfen.
Aber Repression und Autoritarismus sind auch ein mobilisierendes Mittel der Herrschaftssicherung, sofern sie in der Lage sind, eine autoritäre Basis aufzubauen, die den autoritären Staat stützt und selbst wiederum von ihm gestützt und aufgewertet wird. Das funktioniert partiell. Drei armenische Kirchen wurden innerhalb eines Monats angegriffen, die Hrant-Dink-Stiftung hat Todesdrohungen bekommen, die alltägliche Polizeigewalt hat zugenommen, ebenso anti-kurdische Übergriffe. Eine AKP-Anhängerin konnte live im Fernsehen darüber fantasieren, dass ihre Familie mindestens ein paar Dutzend Oppositionelle umbringen kann.
Kein Wunder, dass unzählige kleine Despot*innen wie Pilze aus dem Boden schiessen, wenn der Staatspräsident gegen die »armenische und griechische Lobby« wettert, das Innenministerium Folter durch die Polizei verteidigt und generell von den höchsten Staatsspitzen aus eine extrem polarisierende und chauvinistische Rhetorik gegen Oppositionelle und Minderheiten gefahren wird. Die Rückwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee mit bis zu 300.000 Beteiligten beim ersten Freitagsgebet vom 24. Juli diente demselben Ziel der Konsolidierung der Regimebasis durch einen rasenden nationalistisch-islamistischen Chauvinismus.
Gleichzeitig wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Entlassung von bis zu 90.000 Straftätern aus den Gefängnissen ermöglichte – politische Gefangene ausgenommen. Frauenorganisationen führen unter anderem darauf den Anstieg von Gewalt an Frauen zurück. Mittlerweile wird offen über einen Austritt aus der Istanbul-Konvention debattiert, die der Prävention von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen dient. Als der oberste Religionsgelehrte des Landes seitens der Anwaltskammer von Ankara stark kritisiert wurde, weil er öffentlich äusserte Homosexuelle würden Krankheiten verbreiten und zur Degeneration beitragen, stellte sich Erdoğan hinter den Religionsgelehrten und sah die »nationalen Werte« in Gefahr.
Ähnlich ausfallend über LGBTI+ äusserten sich der Vorsitzende des Roten Halbmondes in der Türkei und der Präsidentensprecher, während seitens der AKP als eines der Hauptargumente gegen (!) die Istanbul-Konvention die angebliche Förderung von LGBT-Identitäten durch dieselbe angeführt wird. War die Anrufung einer autoritären, patriarchalen Heteronormativität stets ein beliebtes Mittel der AKP, so radikalisiert sich diese angesichts von Corona und gender-basierter hate speech von oben führt zu gender-basierter Gewalt von unten: Die LGBTI+-Organisation SPoD berichtet von einer Verdopplung von Hilfegesuchen wegen gender-basierter Diskriminierung und Gewalt in den 45 Tagen seit jenen Äusserungen des obersten Religionsgelehrten.
Auch institutionell wurden Schritte zur autoritären Verankerung unternommen: Ein Gesetzespaket gab der zusätzlich zur Polizei neu gegründeten und über 20.000 Mann starken Sicherheitsstruktur der Nachtwächter (bekçi) das Recht zur Waffennutzung. Diese steht mutmasslich der Regierung nahe und fällt durch brutale Übergriffe auf. Eine andere relativ autonome und hauptsächlich dem hohen Staatspersonal zugeordnete Sicherheitsstruktur innerhalb der bestehenden Polizei, die Hilfseinsatzkräfte der Polizei (Takviye Hazır Kuvvet Polis Birimi), wurde verstärkt. Zudem verabschiedeten die Regimeparteien ein Gesetz, das die Macht der oppositionellen und mitgliedsstärksten Anwaltskammern (Istanbul, Izmir und Ankara) bricht und die regimetreuen und mitgliedsschwachen anatolischen Anwaltskammern stärkt.
Angekündigt ist ein ähnliches Vorgehen gegen fast alle restlichen relativ autonomen und regimekritischen Kammern (Ärztekammer, Ingenieurskammer), während Erdoğans Hauptbündnispartner, der Chef der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) Devlet Bahçeli gar gleich ganz die Schliessung der Ärztekammer fordert. Aus der Perspektive legislativer Macht ist das Parlament de facto dysfunktional geworden, da Erdoğan in den zwei Jahren seiner Präsidentschaft nach dem neuen Präsidentschaftssystem mehrere Dutzend Gesetze und Tausende von Gesetzesänderungen in Form von Präsidialdekreten ohne Beteiligung des Parlaments und noch nicht einmal seiner eigenen Partei erlassen hat.
Nicht zuletzt nimmt das militärische Engagement der Türkei zu. Nach mehreren Invasionen in die mehrheitlich kurdisch kontrollierten Teile Nord- und Nordwestsyriens (auch Rojava genannt) in den letzten Jahren, legte sich die Türkei kurz vor Ausbruch der Pandemie mit dem syrischen Regime im letzten grösseren, mehrheitlich von Jihadisten kontrollierten Gebiet in Nordwestsyrien, Idlip, an. Noch mitten in der Pandemie intervenierte die Türkei zusätzlich in Libyen zugunsten der Übergangsregierung (GNA) von as-Sarraj und konnte nicht nur deren totale Niederlage gegen General Hafter abwenden, sondern ihr sogar zu einer Offensive verhelfen.
Parallel dazu begann die Türkei im Juni wieder mit mehreren Militäroperationen im Irak, um logistische Strukturen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu zerschlagen. Zielt der Libyeneinsatz auf eine Grossraumkontrolle im östlichen Mittelmeer zwecks Zugriff auf Energieressourcen, so geht es in Syrien und im Irak eher um die Hegemonie im Nachkriegssyrien und die Zerschlagung kurdischer Autonomie. Und natürlich dient der Militarismus auch der Aufrechterhaltung des autoritären Regimes im Inneren.
Das in der Geschichte der Türkischen Republik bisher einmalig breit aufgefächerte aussenpolitische und militärische Auftreten entspricht zwar dem Aktionspotenzial des türkischen Kapitalismus und ist nur auf dem geschichtlichen Hintergrund neuer strategischer Perspektiven und Praktiken zu verstehen, die unterschiedliche politische Eliten der Türkei seit Ende der Sowjetunion entwickelten und die wiederum einem globalen Trend zur Multipolarisierung entsprechen. Aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunkten formuliert besteht der gemeinschaftliche Kern jener neuen strategischen Perspektiven darin, der Türkei mehr Autonomie und Weltgeltung zu verschaffen mit dem Fokus auf die unmittelbare geographisch-kulturelle Umgebung der Türkei beziehungsweise auf die sunnitisch-islamische Welt im Allgemeinen. Aber das derzeitige aggressive Vorgehen der Regierung bei der Umsetzung dieser Strategie erhöht gleichzeitig die aussen- und innenpolitischen Risiken des Regimes.
Nicht nur nimmt der Ertrag von »coercive diplomacy« rapide ab, da ein einseitiger Fokus auf diese Taktik es der Türkei verunmöglicht Demonstration militärischer Stärke in diplomatische Siege umzuwandeln. Zugleich muss die Türkei nun aktiv gegen andere etablierte Interessen wie die Russlands, Ägyptens oder der Vereinigten Arabischen Emirate Politik machen. Die derzeitige exzessive Militarismus der Türkei hat zu einer beispiellosen Isolation der Türkei insbesondere in der arabischen Welt geführt: Länder wie Bahrein, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Israel, die bisher aus historischen Gründen nicht die besten Beziehungen miteinander unterhielten, haben sich de facto zu einem Block gegen die türkisch-imperialistischen Ambitionen zusammengeschlossen. Gleichzeitig bringt sich das Regime wegen der militarisierten Politik immer mehr um eine integrative Lösung der sogenannten »Kurdischen Frage« nicht nur im Inneren der Türkei.
Wölfe unter sich
Erdoğan ist zwar als Staatspräsident de jure die höchste Macht im Staate, aber wie in allen autoritären Staaten regiert auch in der Türkei kein Mann allein, sondern die Wölfe sind unter sich. Umso mehr Dezisionismus Konstitutionalismus ersetzt, umso mehr kristallisiert sich ein polykratischer Führerstaat heraus, in dem Machtgruppen miteinander ebenfalls dezisionistisch und unter Anrufung Erdoğans als letzten Richter und grossen Vermittler um Einfluss und Status konkurrieren. Während sich die nationalistischen Fraktionen im Machtblock zunehmend durchsetzen, tun sich unterhalb Erdoğans eine Reihe starker Männer hervor, die nicht aus der Tradition des politischen Islams stammen.So der Innenminister Soylu, dessen von Erdoğan abgelehnter Rücktritt wegen des desaströsen Vorgehens bei der ersten Ausgangssperre im Land – sie wurde vom Innenministerium zwei Stunden vor Inkrafttreten verkündet, was zu einer Massenpanik führte und Millionen auf die Strasse zwecks Panikkäufen trieb – weitestgehend als erfolgreiches Machtmanöver der nationalistischen Fraktion um Soylu gegen AKP-interne Kontrahent*innen gedeutet wird. Soylu ist mittlerweile einer der beliebtesten Politiker im Land, insbesondere bei der Basis des Regimes, und wird als derjenige angesehen, der am besten dazu geeignet ist Erdoğan zu ersetzen, sollte dieser den Vorsitz der AKP abgeben.
Der Dezisionismus der unteren Ebenen kann dabei jederzeit vom Dezisionismus Erdoğans gebrochen werden: Obwohl Innenministerium und Gesundheitsministerium – die beiden für die Pandemiebekämpfung zentralen Ministerien – mit Zustimmung Erdoğans am ersten Juniwochenende, als die »Normalisierung« eigentlich schon angefangen hatte, erneut eine Ausgangssperre für 15 Städte beschlossen, hob Erdoğan diesen Beschluss nachträglich auf, da er so etwas mit seinem »Gewissen nicht vereinbaren« konnte. Als der Finanzminister Berat Albayrak 2018 im Zuge einer Offensive zur Rehabilitierung des Ansehens der türkischen Wirtschaftspolitik im Ausland ein Büro erschuf, das unter wesentlicher Beteiligung des internationalen Beratungsunternehmens McKinsey & Company die Wirtschaftspolitik der türkischen Regierung überprüfen und bewerten sollte, intervenierte Erdoğan innerhalb einer Woche und löste die Vereinbarung auf.
Auch das institutionelle Geflecht der Staatsapparate franst aus: Die Aufgabenteilung innerhalb der Exekutive ist mittlerweile unklar, da dem Präsidenten unterstehende Beratungsgremien und Büros exekutive Arbeiten wie die Planung des nationalen Wirtschaftsprogramms übernehmen, die eigentlich jeweiligen Fachministerien wie dem Finanzministerium zugeordnet sein müssten. Das führt zu einer Erosion des institutionellen Eigengewichts der jeweiligen Ministerien und ihrer relativ autonomen Traditionen und Operationsweisen wie beispielsweise des Aussenministeriums, das sich laut eines sich anonym äussernden Diplomaten in einer »state of paralysis« befindet.
Politisierung und Klientelismus angeführt durch den Präsidialapparat ersetzen so zunehmend auch die exekutive Arbeitsteilung in Ministerien, die selber immer mehr zu uneigenständigen technokratischen Anhängseln des Präsidialapparats werden statt politische Entscheidungsträger zu sein. Wo Ministerien mal initiativ hervorstechen wie das Wirtschaftsministerium oder das Innenministerium, dann wegen ihrer jeweiligen Minister (Berat Albayrak beziehungsweise Süleyman Soylu), die im Kampf um Einfluss und Status Risikobereitschaft zeigen und eigenständige Initiativen übernehmen in der Hoffnung, dass Erdoğan ihr Vorgehen absegnet.
Andererseits stärkt der militärische Kurs den ehemaligen Generalstabschef und derzeitigen Verteidigungsminister Hulusi Akar, der zum wiederholten Male konkurrierende Generäle strafversetzen liess oder zum Rücktritt zwang. Nicht zuletzt gibt der Hauptbündnispartner der AKP, die MHP, immer mehr den Ton in der Regierungspolitik an. Als ein grosser Erfolg der MHP in Pandemiezeiten kann gewertet werden, dass der faschistische Auftragsmörder Alaattin Çakıcı, ein glühender MHP-Anhänger, nach 16 Jahren Haft wegen Mordes frühzeitig freigelassen wurde.
Erdoğan sperrte sich bis zuletzt gegen eine Amnestie, mutmasslich weil er eine zu starke MHP fürchtete. Offensichtlich haben sich die Kräfteverhältnisse innerhalb des Regimes verschoben. Ähnlich der Fall des nationalistisch-islamistischen Intellektuellen Mümtaz'er Türköne: Seit 2016 inhaftiert – absurderweise wegen Gülen-Nähe –, verlangte Bahçeli im Frühjahr 2020 dessen Freilassung, was gestern vom Kassationshof tatsächlich vollzogen wurde.
Was die hohe Justiz angeht, dringt genug durch, dass wir feststellen können, dass es einen intensiven Machtkampf gibt zwischen unterschiedlichen islamistischen Gruppierungen, die zusammen genommen Weg der Rechtschaffenheit (Hakyol) genannt werden und dem Justizminister Abdülhamit Gül nahestehen, der sogenannten Istanbuler Gruppe mit Nähe zu Albayrak und den Überresten einer nationalistisch-alevitisch-partiell linken Koalition, die sich organisiert in der Vereinigung für Einheit in der Judikative (Yargıda Birlik Platformu). Während letztere nach 2014 in die hohe Justiz aufgenommen wurden, um beim Kampf gegen den Einfluss der Gülenisten zu helfen, werden sie jetzt sukzessive wieder aus den höheren Posten verdrängt.
Andererseits leistet die Istanbuler Gruppe Widerstand gegen Reformen des Justizministeriums, die eine oberflächliche Teilliberalisierung der politisierten Justiz beabsichtigen, weil diese ausser Kontrolle gerät. Unter anderem daraus lässt sich erklären, warum einige Lokalgerichte weiterhin verbindliche Entscheidungen des Verfassungsgerichtes (AYM) ignorieren wie im Fall der Altan Brüder, und warum die Anzahl von Urteilen von unteren Gerichten, die das AYM wegen Verletzung des Rechts auf freies und faires Verfahren aufhob, in die Höhe geschossen sind und mittlerweile über 50 Prozent aller vom AYM revidierten Urteile ausmachen. Seit einigen Tagen findet wieder ein hauptsächlich über Medien ausgetragenes Wortgefecht zwischen Innenminister Soylu und dem Vorsitzendem des AYM, Zühtü Arslan statt, wobei jener das AYM dafür kritisiert viel zu lax vorzugehen angesichts »terroristischer Gefahr« für die »nationale Sicherheit«, während sich das AYM gegen eine Einmischung in die Unabhängigkeit der Justiz wehrt.
Aber da der Dezisionismus auf allen Ebenen des Staates Konstitutionalismus ersetzt, ist auch das AYM durchpolitisiert: Nicht nur spaltet es sich regelmässig in zwei etwa gleich starke Lager bei Entscheidungen, bei denen es um politisch sensible Inhalte geht, wobei dann die eine Hälfte die Grundreiheiten, die andere die nationale Sicherheit hochhält. Während erstere letztes Jahr mit einer Stimmenmehrheit von nur einer Stimme die Akademiker*innen für Frieden von allen Vorwürfen freisprach und dafür vom anderen Lager gebrandmarkt wurde, konnte letztere ebenfalls mit nur einer Stimme Mehrheit durchsetzen, dass der liberale Mäzen Osman Kavala wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit nicht freigesprochen wurde, wogegen wiederum der Vorsitzende des AYM heftig protestierte.
Die kürzlich erfolgte Aufhebung des vom Innenministerium erlassenen Gesetzes zum Verbot von Versammlungen auf Autobahnen – diese Entscheidung führte zum Zwist zwischen AYM und Soylu – wurde ebenfalls mit nur einer Stimme Mehrheit, und zwar mit der des Vorsitzenden Zühtü Arslan beschlossen. Zugleich reproduziert aber das AYM im Grossen die anti-konstitutionalistische Herangehensweise, die Lokalgerichte gegen das AYM bezeugen, namentlich wenn es aktiv ablehnt, sich bindenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beugen.
Moderatere Stimmen wie die Bürgermeisterin von Gaziantep, Fatma Şahin (AKP), die die Bezeichnung der Opposition als Terroristen ablehnte, sind mittlerweile innerhalb des regierenden Parteienblocks eine Rarität geworden. Die meisten gemässigten Politiker*innen haben mittlerweile bei zwei AKP-Abspaltungen Zuflucht gefunden, der Partei für Demokratie und Fortschritt (DEVA) des ehemaligen Finanzministers der AKP, Ali Babacan und bei der Zukunftspartei (GP) des ehemaligen Aussen- und Premierministers der AKP, Ahmet Davutoğlu. Vertritt Davutoğlu eher den islamisch-konservativen Flügel ehemaliger AKPler, so Babacan eher den liberal-konservativen Flügel.
Für beide ist allerdings klar, dass die Anfangsjahre der AKP bis 2013 eine Erfolgsstory waren, die zu wiederholen ist. Eine grundlegende Infragestellung des neoliberalen Akkumulationsregimes, das die AKP errichtete und das sich derzeit in einer tiefen Krise befindet, ist von diesen Parteien nicht zu erwarten. Für die Regimeparteien ist die Formation dieser neuen Parteien aber trotzdem eine solche Gefahr, dass eine Zeit lang offen über vorgezogene Neuwahlen diskutiert wurde um einem potenziellen Erstarken der neuen Parteien zuvorzukommen und derzeit ein Gesetzespaket in Arbeit ist, das einerseits gegen kleine Parteien gerichtet ist und andererseits den Parteienwechsel von Parlamentarier*innen erschweren soll.
Die andere Türkei
Es gibt aber auch eine andere Türkei, die nicht so tickt wie das Wolfsrudel. Eine von der linken Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (DISK) angekündigte organisierte Ausübung des Rechts auf Arbeitsniederlegung wegen unmittelbar drohender Gefahr (Gesetz Nr. 6331 über den Arbeitsschutz) durch Corona wurde zwar nie flächenweit umgesetzt; dennoch streikten Arbeiter*innen von sich aus beispielsweise in Darıca/Kocaeli (Sarkuysan Elektronik Bakır), Diyarbakır (Diyarbakır Organize Sanayi Bölgesi), Istanbul (AKM Taksim) und Izmir (Akar Tekstil) wegen Infektionsfällen und fehlendem Gesundheitsschutz.In Izmir demonstrierten Gesundheitsarbeiter*innen gegen Gehaltskürzungen und ausstehende Zusatzzahlungen, in Istanbul Bauarbeiter*innen bei Ofton Construction für die Auszahlung von zurückgehaltenen Löhnen (mit Erfolg). In grösseren Fabriken in Izmir und Istanbul wird neuerdings gegen ein geplantes Gesetz zur Zerschlagung des Abfindungsrechts protestiert, während Kämpfe gegen klassische union busting-Methoden wie die fristlose Kündigung von gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen ebenfalls weiter geführt werden. [6]
Auf der politischen Ebene stechen neben der erfolgreichen Anti-Korruptions- und Sozialpolitik der CHP-Bürgermeister die zwei grossen Protestmärsche der Anwaltskammern und der HDP im Juni sowie die Proteste von Fraueorganisationen gegen eine mögliche Abschaffung der Istanbuler Konvention hervor. Die HDP hielt trotz aller Polizeirepression einen Demokratiemarsch ab gegen die Absetzung ihrer Bürgermeister*innen und die Inhaftierung ihrer Parlamentarier*innen; die Anwaltskammern organisierten einen »Verteidigungsmarsch« gegen das Gesetzespaket zur Schwächung der Anwaltskammern.
Ein Grossteil des Dissens und des abweichenden Potenzials ist zwar nicht greifbar, offenbart sich aber in anonymisierten Umfragen. Deren Ergebnisse zeigen, dass junge Menschen, die 2018 zum ersten Mal wählen durften und bei den 2023 anstehenden Wahlen etwa 20 Prozent aller Wähler*innen ausmachen werden, in überwältigender Mehrheit (über 70 Prozent) nicht die Regimeparteien wählten und sich für Demokratie und Gerechtigkeit aussprechen. Ein Grossteil der Jugendlichen fühlt sich von den in der Gesellschaft dominanten Werten wie Nationalismus oder Konservatismus nicht mehr angesprochen, ebenso wenig von den bestehenden Parteien. Bevölkerungsrepräsentative Umfragen ergeben ebenso, dass dieselben demokratiefreundlichen Tendenzen vorherrschen, wenn auch abgeschwächter und weit weniger ausgeprägt, sobald spezifischer nach Rechten der Kurd*innen und Alevit*innen gefragt wird.
Zudem steigt die Zustimmung zu feministischen Themen und nimmt die Entgegensetzung von Religiösität und linker Politik ab. Ein Grossteil der Bevölkerung inklusive der AKP-Basis lehnt eine Abschaffung der Istanbuler Konvention ab. Sogar die Frauenorganisation der AKP protestierte vehement gegen eine mögliche Abschaffung der Istanbuler Konvention (während sie sich allerdings zugleich sehr stark anti-LGBTQI+ positionierte), was zu Überwerfungen im Regimelager führte. Die ökonomische Situation ist zum Hauptproblem der Bevölkerung weit vor »Terror«, Aussenpolitik oder andere Themen gerückt. Auch die Rekonversion der Hagia Sophia hat keinen Einfluss auf potenzielles Wahlverhalten gehabt, da ein Grossteil der Bevölkerung glaubt, dass die Rekonversion vollzogen wurde um von ökonomischen Schwierigkeiten abzulenken. Gleichzeitig mit einem demokratischen Grundkonsens in der breiten Bevölkerung artikuliert sich allerdings auch ein aggressiver Nationalismus, der nur mässig bis gar nicht religiös motiviert ist.
Auch in der weithin konservativen Wähler*innenbasis von AKP und MHP zeigen sich, wie schon seit längerem, ähnliche Tendenzen auf: Wie eine neuere ausführliche Analyse von Max Hoffman mittels Interviews in der urbanen Basis von AKP und MHP aufzeigen konnte, beschweren sich diese – und hierin insbesondere die Jugendlichen – weiterhin über Korruption, Klientelismus, eine zu stark aufoktroyierte Religiösität und unbrauchbare Medien und sprechen sich für Toleranz aus.
Das zeigt, wie stark transformierte Überreste von Überzeugungen redistributiver, kommunaler Gerechtigkeit im islamisch-national-konservativen Milieu weiter existieren, auch wenn sie zugleich gekreuzt werden von reaktionären Überzeugungen. Denn die Studie von Hoffman zeigt zugleich auf, wie die AKP-MHP-Basis Erdoğan mystifiziert überhöht und teils stark nationalistisch geprägt ist. Dieses widersprüchliche Amalgam aus reaktionären und (potenziell) fortschrittlichen Elementen entspricht recht genau dem, was sich mit Gramsci als »Widersprüchlichkeit des Alltagsbewusstseins« bezeichnen lässt und das sich dann einstellt, wo es kein organisiertes Klassenbewusstsein oder gesellschaftliche Verhältnisse gibt, innerhalb derer die Menschen selber ermächtigt sind.
Wie die Widerstände gegen den Autoritarismus und der starke demokratische Grundkonsens neben reaktionären Elementen innerhalb eines grossen Teils der Bevölkerung aufzeigen, gibt es mehr als genug Ansatzpunkte für eine andere Türkei. Dass diese (noch?) nicht erblüht, hat nicht nur mit der Repressionsfuror des autoritären Regimes zu tun. Einige der wichtigsten Oppositionsparteien tun sich weiterhin schwer damit, ernsthaft für diese andere Türkei zu streiten. Zwei Gründe sind hier zentral: Einmal das Verhältnis zur »Kurdischen Frage«, zum anderen die allgemeine Staatsräson.
Die CHP hat die HDP während der gesamten Phase bis auf Lippenbekenntnisse mehr oder minder alleine gelassen, ja CHP-Chef Kılıçdaroğlu lehnte mehrmals ab, auf die Strassen zu mobilisieren, weil er meinte, dies sei eine Einladung für die AKP, den Ausnahmezustand wieder einzuführen. Als ob ein den Wünschen und Dekreten des Präsidenten unterstehender Staat mit einer durch und durch politisierten Justiz und polizeistaatlicher Willkür nicht schon ein Staat des Ausnahmezustands wäre; als ob sich ein solches System ohne auch die Macht der Strasse umwälzen liesse. Akşener, Chefin der oppositionellen MHP-Abspaltung Gute Partei (IYI), ist da unverblümter: Sie identifiziert regelmässig die HDP mit der verbotenen PKK, verweigert offen die Solidarität mit der HDP angesichts von Repressionen und rief Erdoğan sogar zur »Nationalen Einheit« auf, um der Pandemie zu begegnen.
Ihrer Ansicht nach sind Regierung und Opposition schon geeint in aussenpolitischen Dingen, das heisst im chauvinistischen Militarismus, wie auch die CHP oder Davutoğlus GP die Regierung dafür kritisierten, zu viele Zugeständnisse zu machen und nicht genug die Rechte der Türke im östlichen Mittelmeer zu wahren, sprich nicht genügend chauvinistisch und militaristisch zu agieren. Bezeichnenderweise dauerte es Tage, bis Akşener ein gemeinsames Angebot von Erdoğan und Bahçeli das Oppositionslager zu verlassen und sich auf Regimeseite zu schlagen ablehnte.
Die »Kurdische Frage« ist nicht das einzige demokratische Problem der Türkei, sie ist aber zur Chiffre aller demokratischen Probleme der heutigen Türkei geworden. Und das ist zugleich auch in der allgemeinen Staatsräson begründet: Staat und Kapital in der Türkei befürchten, dass mit der unkontrollierten Partizipation des Grossteils des Bevölkerung am politischen Prozess wie während des Gezi-Aufstandes 2013 auch Forderungen nach einer grundlegend anderen, demokratischen und sozialen Republik stark werden, in der die starken Männer und die staatstreue Opposition von heute keinen Platz mehr haben.
Das ist vielleicht auch der Hauptgrund dafür, warum die Hauptoppositionsparteien unfähig und vor allem nicht gewillt sind, Erdoğan grundlegend herauszufordern, der wiederum Tag um Tag seine relative Autonomie weiter ausbaut und die Türkei immer mehr in eine Sackgasse aus Wirtschaftskrise und Instabilität manövriert – wobei letzteres offensichtlich nicht den Interessen der führenden Fraktionen des Kapitals und der bürgerlichen Opposition entspricht.
In eingängigeren Analysen der Erfolge der Opposition in den letzten Jahren, die diese Erfolge an einer anti-populistischen Inklusivität und der Koordination der Opposition auf Grundlage einer demokratischen Perspektive im Antagonismus zum Autoritarismus festmachen, wird üblicherweise fast vollständig unterschlagen, wie ineffektiv oder gar unterstützend die Hauptoppositionsparteien gegenüber der Politik des Regimes über Jahre hinweg blieben, insbesondere hinsichtlich des Militarismus und Chauvinismus.
Auch als das Regime die Rekonversion der Hagia Sophia in eine Moschee in ein regelrechtes nationalistisch-islamistisches Festival verwandelte, kam – ausser von der HDP – nichts von den Oppositionsparteien, um ja nicht muslimische Wähler*innen abzuschrecken. Ja, wichtige Oppositionspolitiker*innen wie Muharrem Ince (republikanischer Kontrahent Erdoğans im Präsidentschaftswahlkampf 2018) oder Meral Akşener begrüssten sogar die Rekonversion – daher die Einladung von Erdoğan und Bahçeli an Akşener und die sehr freundliche Berichterstattung der pro-Regime-Medien über Ince, der derzeit an einer Abspaltungsbewegung von der CHP arbeitet.
Es gibt einen feinen, aber dennoch sehr klaren Unterschied zwischen einem inklusiven Vorgehen, das versucht auch Wähler*innen von AKP und MHP zu gewinnen, und einer Appeasementpolitik, die noch den reaktionärsten Befindlichkeiten opportunistisch oder, noch schlimmer, aus Überzeugung nachgibt. Letzteres stärkt nicht nur das Regime. Es erschwert zudem die Möglichkeit einer demokratischen und sozialen Zukunft der Türkei dadurch, dass es der Dispersion und Verankerung autoritärer Attitüden und Subjektivitäten Vorschub leistet, die wiederum einer solchen Zukunft abträglich sind auch in einer Zeit nach Erdoğan.
Die Hauptpole des derzeitigen politischen Kampfes in der Türkei sind nicht die zwischen Autoritarismus und Demokratie, sondern die zwischen einer krisenhaften autoritären Konsolidierung und einer neoliberalen Restauration. Teile der liberalen und tatsächlich auch republikanischen und marxistischen Intelligenz tappen gerade erneut ungewollt in die Falle einer Unterstützung für ein neoliberales Restaurationsprojekt gegen ein autoritäres Projekt so wie sie es beim Aufstieg der AKP in den frühen 2000er-Jahren taten.
Auch der inhaftierte ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, tappt in diese Falle, wenn er für die Illusion einer »demokratischen Allianz« inklusive aller Oppositionsparteien wirbt anstatt das demokratisch-soziale Profil der HDP gegen beide Pole zu schärfen, wie er das noch vor einigen Monaten tat. Es gibt aber eine gangbare Alternative zu beiden Polen und einen Ausweg aus der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Eine solche Alternative, den »dritten Block« zu organisieren und von den beiden anderen bürgerlichen Polen abzugrenzen war ja der Grund für die Gründung der HDP im Jahre 2012.
Wenn die wirkliche demokratische und soziale Opposition in der politischen Arena erstarkt und die Menschen der anderen Türkei ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, dann können sie nicht nur die Macht von Erdoğan brechen, sondern auch dafür sorgen, dass die dystopischen Pläne des Kapitals nicht aufgehen und sich das politische System grundlegend ändert – oder zumindest gezwungen ist, viel mehr Zugeständnisse und Kompromisse in Richtung der popularen Kräfte zu tätigen als wenn eine neoliberale Restauration einfach so, das heisst ohne oder fatalerweise sogar mit Unterstützung des demokratisch-sozialen Lagers durchregiert.