Wie Kroatiens Zivilgesellschaft gegen Rechtspopulismus kämpft “An fremde Mächte verkauft”

Politik

Was nach 1989 als Übergang vom “Kommunismus” zum Kapitalismus in westliche Geschichtsbücher einging, wird von Rechten in Osteuropa als Erbsünde dargestellt, bei der verräterische Eliten ihr Land an die perversen Technokrat*innen der EU verkauft hätten – ein Mem, das jeden Versuch, eine starke Zivilgesellschaft aufzubauen, zutiefst untergräbt.

Der ehemalige kroatische Präsident Franjo Tuđman in Zagreb, 1997.
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Der ehemalige kroatische Präsident Franjo Tuđman in Zagreb, 1997. Foto: Zdenko Lučić (CC BY-SA 4.0 cropped)

6. Oktober 2021
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Die Kommunalwahlen im Mai 2021 in Kroatien, insbesondere die Wahl des Bürgermeisters von Zagreb, waren die meistbeachteten und hitzigsten Wahlen seit langem. Tomislav Tomašević, ein Kandidat der links-grünen Partei Možemo!, hat eine Kampagne geführt, die auf seinem zwei Jahrzehnte währenden Engagement aufbaute – einerseits für die Rettung des öffentlichen Raums und der öffentlichen Dienstleistungen in Zagreb und gegen das Korruptionsnetz, das vom vorherigen Bürgermeister Milan Bandić betrieben wurde. Bandić starb während des Wahlkampfs 2021 und liess die Stelle seines Nachfolgers offen. Die Rolle übernahm Miroslav Škoro, ein Sänger und Anführer der Domovinski pokret (Heimatbewegung), der eine nationalistische Semiotik mit importierten politischen Kommunikationstaktiken verbindet.

In seinem Wahlkampf konzentrierte sich Tomašević hauptsächlich auf Details der Stadtpolitik, da er sehr gut weiss, wie die Stadt zu verwalten ist. Škoro wiederum hatte keine Ahnung über Zagreb und konnte viele grundlegende Fakten über die Stadt und ihre Funktionsweise nicht beantworten. Insofern war es logisch, dass er seine Kampagne als eine Desinformationsoffensive gestaltete. Die zentrale Botschaft lautete: “Tomašević und Možemo! sind ausländische Agenten einer 'Cosa Nostra' bestehend aus NGOs, die von George Soros und anderen imperialistischen Eliten finanziert werden und entschlossen sind, 'unsere Lebensweise' mit 'lesbischem Syndikalismus' zu infizieren.”

Die Hälfte Kroatiens besteht aus ausländischen Agent*innen

Diese Angriffslinie wurde während einer Fernsehdebatte zwischen Zlatko Hasanbegović von der Heimatbewegung und Sandra Benčić von Možemo! sichtbar. Hasanbegović geriet bizarrer Weise ausser Kontrolle und beschimpfte Možemo! als ausländische Agent*innen. Als Benčić ihn drängte, zu erklären, was das bedeutet, antwortete er unverblümt, dass alle, die von jemandem ausserhalb Kroatiens bezahlt werden, ausländische Agent*innen seien. Benčić merkte ruhig an, dass dies bedeutet, dass alle, die für ein ausländisches Unternehmen oder ein EU-Projekt arbeiten, ausländische Agent*innen ist – das würde bedeuten, dass “halb Kroatien ausländische Agent*innen sind”.

Hasanbegović, ehemaliger Kulturminister der rechtsextremen Regierung von 2016, die schon zehn Monate nach der Machtübernahme zusammenbrach, ist eine unbeholfene Person, die sich ihrer radikalen nationalistischen Weltanschauung aufrichtig verpflichtet zu fühlen scheint, aber eher ungeschickt ist, wenn es um öffentliche Auftritte geht. Es war ein willkommener Moment, als er die Ehre hatte, die Leere der klassischen Taktik der kroatischen Rechtsextremen zu enthüllen, indem er seine Definition des “ausländischen Agenten” ausplauderte. Dies hielt die Heimatbewegung jedoch nicht davon ab, diese Anschuldigung in den nächsten zwei Wochen des Wahlkampfes zu wiederholen. Einen Wahlkampf, den sie schliesslich verlor.

Das ist nur auf den ersten Blick eine gute Nachricht. Als Vertreter einer gut finanzierten und straff organisierten Koalition rechtsextremer Parteien mit starker Präsenz im nationalen Parlament waren sie bei anderen Kommunalwahlen erfolgreich. Und die Wahl in Zagreb, selbst wenn sie ein Misserfolg war, konnte dennoch beeindruckend vorführen, welche beträchtliche Wirkung ihre hochentwickelten Desinformationstechniken entfalten können. Die Bedrohung durch ihre paranoiden Reinheitsphantasien ist also noch lange nicht vorbei. Ihr zentraler Vorwurf der “ausländischen Subversion” ist eine historisch verbürgete Taktik mit erheblichem Zukunftspotenzial.

Völliger Ausverkauf an alle Teufel

Um die Geschichte dieser Taktik zu verstehen, müssen wir in die 1990er Jahre und die Zeit der Herrschaft von Franjo Tuđman zurückgehen. Das phantasmatische Kroatien des Tuđmanschen Nationalismus war immer widersprüchlich. Damals stellte man sich Kroatien als eine alte europäische liberale Demokratie vor, die endlich von den Fesseln der “kommunistischen” Eindringlinge befreit war, und als eine natürliche Gemeinschaft, die allergisch auf die Perversität und soziale Komplexität eben dieser europäischen liberalen Demokratie reagierte.

Diese Ideologie bildete die Grundlage für die Angriffe auf alle, die sich in den 1990er Jahren in irgendeiner Weise dem autoritären Ethnonationalismus widersetzten. Es bedeutete, dass “jeder Andersdenkende immer ein ausländischer Agent war, der daran arbeitete, das natürliche Gleichgewicht unserer reinrassigen Lebensweise mit den Perversitäten des imperialistischen Europas zu infizieren”. Tuđman selbst war ein entschiedener Verfechter dieser Taktik und ging mit seinen Angriffen auf die freie Presse (insbesondere die Feral Tribune) und Nichtregierungsorganisationen, die Menschenrechtsverletzungen und Demokratiedefizite aufdeckten, in die Geschichte ein, indem er sie beschuldigte, sich für “30 Silberlinge” nicht nur an “schwarze, sondern auch grüne und gelbe Teufel” zu verkaufen.

Dieses Zitat ist Teil einer Rede von Tuđman, die er 1996 hielt. Und es ist eine Anspielung auf den Preis, für den Judas Iskariot Jesus verraten hat, wie es im Matthäus-Evangelium 26:15 im Neuen Testament heisst. Kurzum, Tuđman schürte damit unterschwellig eine antisemitisch kodierte Paranoia gegen verbrecherische Verräter*innen, als er seine Gegner*innen des “Ausverkaufs” bezichtigte – und antisemitisch kodiert war (und ist) diese Paranoia nicht zuletzt deshalb, weil die philanthropischen Aktivitäten des jüdischen Investors George Soros in Osteuropa bereits in den 1990er Jahren Zielscheibe populistischer Ressentiments waren, die die Rede von “Soros-finanzierter Agenten” salonfähig machten.

Insofern war Tuđmans Projekt so etwas wie ein Vorläufer, ein Vorbote des heutigen illiberalen Nativismus. In vielerlei Hinsicht folgen die heutigen illiberalen Nativist*innen Tuđmans Drehbuch: Sie übernehmen die Kontrolle über alle öffentlichen Institutionen und die Medien, bauen die Demokratie zu einem Mechanismus um, die den Willen einer “natürlichen Gemeinschaft” durchsetzt, und unterdrücken abweichende Meinungen, indem sie ihre Kritiker*innen beschuldigen, Agent*innen globaler Eliten zu sein, die eine ausländische Infiltration „reiner Körper“ durchführen.

Wie Nicholas Mulder schreibt, stellt der grundlegende Mythos der illiberalen Nativist*innen den Übergang zur liberalen Demokratie in den 1990er Jahren als die Erbsünde dar, bei der verräterische Eliten ihr Land an die perversen progressiven Technokraten der Europäischen Union verkauft hätten. Es gibt eine komplexe Geschichte über die Gründe, warum sie diese Angriffslinie verwenden. Hier werden wir uns jedoch nur auf zwei davon konzentrieren.

Die Unfähigkeit, politisch zu denken, als Teil der nationalen Identität

Die Behauptung eines “Ausverkaufs an ausländische Mächte” zielt natürlich in erster Linie darauf ab, jede abweichende Meinung als Verrat zu diskreditieren. Sie zielt jedoch auch darauf ab, einen tieferen und nachhaltigeren Einfluss auszuüben. Dies wird erreicht, indem man Menschen (in diesem Fall ist „die Kroaten“) glauben macht, dass politisches Denken nichts für sie sei. Die Behauptung des Ausverkaufs dient also nicht nur dazu, Andersdenkende auszulöschen, sondern soll die Bevölkerung darauf vorbereiten, dass die Komplexität des Aufbaus freier Institutionen zur kollektiven Entscheidungsfindung im Rahmen des Pluralismus “einfach nichts für 'unser Volk' ist.” Stattdessen entwerfen die illiberalen Nativist*innen das Bild des Regierens als spontane Entwicklung einer natürlichen Gemeinschaft, die in uralten Gewohnheiten und Werten verwurzelt ist (im Falle Kroatiens “seit dem 7. Jahrhundert”).

Für die Tuđmaniten und für die heutige Heimatbewegung können die Kroat*innen (als Fantasie einer ethnischen Gruppe) nicht über eine Politik nachdenken oder diskutieren, die verfassungsmässige Freiheiten, soziale Dienste, Sicherheit, ökologische Entwicklung oder die Gleichstellung der Geschlechter anstrebt. Sie können sich nicht auf eine kosmopolitische Zusammenarbeit oder pluralistische Verhandlungen einlassen. Ihre politische Subjektivität ist lediglich eine Wiederholung eines alten kroatischen Habitus, und ihre Vorstellungskraft, ihre Argumentation und ihre Varianz sind durch Linien begrenzt, die vor Jahrhunderten in den kroatischen Boden gezogen wurden.

Sie können diese Grenzen nicht überschreiten – keine politischen Gedanken hegen oder sich neue Institutionen und Gemeinschaften vorstellen – ohne im Zuge dessen einen existentiellen Verlust zu erleiden, sprich: ein Nicht-Kroate oder eine Nicht-Kroatin zu werden. In den Augen illiberaler Nativist*innen sind Kroat*innen wie erwachsene Kinder, die keine eigenständigen Gedanken denken können, sondern nur die von ihren Vorfahren choreografierten Bewegungen ausführen, eingesperrt in eine Puppenstube ursprünglicher Authentizität, wo sie vor Meinungsverschiedenheiten und dem fremden Geschmack der Aussenwelt sicher sind.

Auf diese Weise konstruieren illiberale Nativist*innen eine nationale Identität als eine antipolitische Subjektivität: „Wir sind Kroaten, weil wir nicht politisch denken können“.

Feedback-Mechanismen zerstören und zum Orakel der “natürlichen Gemeinschaft” werden

In ihrem Aufsatz “Epistemology of Democracy” (Erkenntnistheorie der Demokratie) argumentiert Elizabeth Anderson, dass “die Demokraten im 'postkommunistischen' Europa so viel Energie auf den Aufbau der Zivilgesellschaft verwendet haben”, weil diese einen organisierten Dissens und eine Rückkopplung auf die Politik ermöglicht, was wiederum für das Wirksamwerden der erkenntnistheoretischen Kräfte der Demokratie entscheidend ist.

Seit den 1990er Jahren ist die Zivilgesellschaft Angriffen von beiden Seiten des politischen Spektrums ausgesetzt. Die Angriffe von der extremen Rechten wurden bereits beschrieben. Doch auch Linke neigen dazu, die Zivilgesellschaft pauschal abzutun, etwa weil sie nicht ausreichend mit ihren politischen Doktrinen übereinstimme. So werden zivilgesellschaftliche Akteure manchmal als die verlängerte Hand des kapitalistischen Kolonisators dargestellt. Das wäre, grob gesagt, die linke Version des Ausverkaufsvorwurfs. Dazu an anderer Stelle mehr.

Die Zivilgesellschaft ist ein komplexes soziales Gefüge, an dem eine Vielzahl von Menschen und Projekten beteiligt sind, und ja, sie ermöglicht die Ausbreitung zahlreicher Organisationen, denen nicht jeder von uns zustimmen würde und sollte. Die Zivilgesellschaft und ihre Strukturen sind natürlich nicht immun gegen Korruption und kriminelle Aktivitäten. Aber das ist keine institutionelle Struktur an sich.

Der Schutz vor bösartigen Entwicklungen erfordert nicht, “das Kind mit dem Bade auszuschütten” (ein typisch anti-institutionalistischer populistischer move), sondern fordert uns vielmehr heraus, eine institutionelle Komplexität zu schaffen, die den Schaden begrenzen und eine strenge Aufsicht gewährleisten kann. Der erkenntnistheoretische und politische Wert der Zivilgesellschaft wird nicht durch spezifische Projekte oder Agenden bestimmt, die eine bestimmte NGO verfolgt. Vielmehr hängt er davon ab, wie inklusiv sie ist und ob es institutionelle Bedingungen für Vereinigungen gibt, die Raum für Dissens und Feedback zur Politik bieten.

Die Darstellung der Zivilgesellschaft als “Cosa Nostra” der NGOs – um noch einmal die Formulierung der Heimatbewegung zu verwenden – und als “Rattenkönig der ausländischen Agenten” zielt darauf ab, die Glaubwürdigkeit und damit die Möglichkeit des Dissenses und des Feedbacks zur Politik zu zerstören: Ohne organisiertes öffentliches Feedback zur Politik gibt es keinen Grund oder Anreiz für die Entscheidungsträger*innen, diese zu ändern. Die Darstellung der freien Organisation der Bürger*innen zur Beeinflussung ihrer gewählten Vertreter*innen und der Politikgestaltung als ruchloses Geheimprojekt der globalistischen Eliten zielt wiederum darauf ab, den Bürger*innen zu sagen, dass sie, wenn sie einer solchen Organisation beitreten oder eine solche Einflussnahme versuchen würden, nur eine weitere ausländische Ratte wären, deren Schwanz mit dem anderer Verräter*innen und Imperialist*innen verflochten ist.

Wer den Kanal für die öffentliche Kommunikation von unten nach oben verstopft, hat den wertvollsten Preis für jede Oligarchie oder jedes despotische Regime gewonnen: die Möglichkeit, als einziger Kanal aufzutreten, der dem Willen einer “natürlichen Gemeinschaft” eine Stimme gibt. Abgesehen von den finanziellen Gewinnen und den Freuden des sadistischen Traditionalismus ist dies der Traum der illiberalen Nativist*innen, die sich aktuell rund um den Globus konsolidieren. Sie wollen zum Orakel ihrer natürlichen Gemeinschaften werden. Insofern schwingen sich die notorischen Gegner*innen von diskursiver Offenheit immer wieder von Neuem dazu auf, den Schlachtruf vom “Ausverkauf an ausländische Mächte” anzustimmen.

Sanja Bojanić / Marko-Luka Zubčić
berlinergazette.de

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