#21F - Nicht alle Räder, aber die Kugelschreiber stehen still ¡Vaga General! – Einige Eindrücke vom Generalstreik in Katalonien

Politik

Mo Foc berichtet aus Barcelona über den Generalstreik in Katalonien und den Stand der Unabhängigkeitsbewegung. Davon ausgehend wirft er die Frage nach einer weitergehenden Strategie der katalanischen Bewegung gegen den Rechtsruck und die Repression des spanischen Staates auf.

Generalstreik in Barcelona, Februar 2019.
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Generalstreik in Barcelona, Februar 2019. Foto: Òmnium Cultural (CC BY-SA 2.0 cropped)

15. März 2019
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Unter der Parole „Ohne Rechte gibt es keine Freiheit!“ rief die katalanische Gewerkschaftsföderation Intersindical-CSC für den 21. Februar 2019 zu einem Generalstreik in Katalonien auf. Offiziell wurde mit dem Streik unter anderem die Aufhebung der letzten Arbeitsmarktreform gefordert, welche den Kündigungsschutz de facto abschaffte. Aber auch die Einführung eines Mindestlohns von 1.200 Euro und die die Gleichstellung der Geschlechter in verschiedenen Arbeitsbereichen war Teil des Forderungskatalogs.

Praktisch jedoch richtete sich der Generalstreik vor allem gegen den in der vorangegangenen Woche in Madrid begonnenen Prozess gegen zwölf politische Führungspersonen und Aktivist_innen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Im Zusammenhang mit den Ereignissen rund um das Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens vom 1. Oktober 2017 drohen den Angeklagten Verurteilungen von bis zu 25 Jahren Haft wegen Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung ist mit dem Beginn des Prozesses aus einer Phase des Stillstands erwacht, die mit der ausbleibenden Gründung einer souveränen katalanischen Republik nach dem Referendum begann.

Wie jedoch könnte abseits dieser anlassbezogenen Mobilisierung eine weitergehende Strategie der katalanischen Bewegung aussehen, die die Repression und den Rechtsruck des spanischen Staates mit Gegenmacht konfrontieren könnte? Für die emanzipatorischen, antikapitalistischen Kräfte besteht jedenfalls derzeit die Herausforderung darin, herauszufinden, wie sich das progressive Moment in der Bewegung durchsetzen lässt.

Beginn eines neuen Mobilisierungszyklus?

Der Streik am 21. Februar bildete den zweiten Teil eines aktionistischen Dreiklangs. Aufgerufen wurde von einem Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien wie der Assemblea Nacional Catalana (ANC), Òmnium Cultural, den liberalen Junts per Catalunya, der linksrepublikanischen ERC (Esquerra Republicana de Catalunya), der antikapitalstisch-munizipalistischen CUP (Candidatura d'Unitat Popular) und der katalanischen Regionalpartei Catalunya en Comú.

Am Samstag vor dem Streik wurde unter der Losung „L'autodeterminació no és un delicte!“ („Selbstbestimmung ist kein Verbrechen!“) zu einer zentralen Demonstration in Barcelona aufgerufen, die den Beginn eines neuen Mobilisierungszyklus einleiten sollte. Am Ende strömten Hunderttausende auf die Gran Via. Während die Polizei von 200.000 Teilnehmenden spricht, sprachen die Veranstalter_innen von bis zu 500.000 Menschen. Nach dem Streik wird nun für den 16. März nach Madrid mobilisiert, um die Forderung nach Selbstbestimmung direkt vor die Haustür des politischen Gegners zu tragen.

Die erste Mobilisierung wurde durch die Veranstalter_innen aufgrund der massenhaften Teilnahme als Erfolg ausgewertet. Und auch die Angeklagten im Gerichtssaal geben sich bis dato kämpferisch. So erklärte Oriol Junqueras, ehemaliger Vize-Ministerpräsident der katalanischen Regionalregierung, vor Gericht, dass er sich keiner Schuld bewusst sei und weiterhin zu dem Referendum stehe. Er stellte daran anschliessend klar, dass die Bewegung trotz Repression weitermachen werde: „Wir haben es versucht, und wir werden es weiter versuchen“.

#21F - Nicht alle Räder, aber die Kugelschreiber stehen still

Schon vor dem Generalstreik zeichnete sich ab, dass eine grössere Unterstützung der organisierten Arbeitnehmer_innenschaft ausbleiben würde. Der Intersindical CSC mit ihren 4000 Mitgliedern folgten weitere kleine Gewerkschaftsverbände wie die USTEC (Unió de Sindicats de Treballadors de L'Ensenyament de Cataluña) sowie einige Studierendenverbände. Auch die Regionalregierung von Katalonien schloss sich dem Streik an, was vor allem in den Bereichen Transport und Verwaltung zu Arbeitsniederlegungen führte.

Im Gegensatz dazu stand die Stadtregierung Barcelonas, die sich nun schon zum wiederholten Male nicht zu Aktionen der Unabhängigkeitsbewegung verhielt. Die grossen, der Sozialdemokratie nahestehenden Gewerkschaften CC.OO (Confederación Sindical de Comisiones Obreras) und UGT (Unión General de Trabajadores) unterstützten den Streik nicht und auch die (anarcho)-syndikalistische CGT beteiligte sich nur sehr zurückhaltend im Bildungssektor.

Zusätzlich zum Arbeitsstreik haben die Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR - Comitès de Defensa de la República) dazu aufgerufen, zentrale Kreuzungen und Strassen dicht zu machen, um den Verkehr in Katalonien zum Erliegen zu bringen. So wurden in den Morgenstunden landesweit bis zu 15 Strassen blockiert, der Zugang zum Hafen in Taragona abgeriegelt und auch in Barcelona temporär Kreuzungen versperrt. Dabei fielen die Aktionen, je nach Stärke und Organisation durch die Komitees, sehr unterschiedlich aus. Zu einigen Aktionen kamen am frühen Morgen kaum Leute, so etwa in Vall D´Hebron im Nordosten Barcelonas.

Auch im Stadtteil Sants, wo es eine breite linke Infrastruktur und grössere Unterstützung für die Unabhängigkeit gibt, fanden sich zu einem Demonstrationstreffpunkt am Vormittag nur bis zu 200 Menschen ein. Diese konnten kurzzeitig eine Strasse am Placa de Sants besetzten, wurden dort aber schnell von der, aufgrund etlicher Gewaltexzesse in der Vergangenheit mittlerweile verhassten katalanischen Nationalpolizei Mossos geräumt. Anschliessend machte sich der Demonstrationszug aus Sants auf den Weg zum Plaça de Universidad, wo eine der zwei grösseren Kundgebungen an diesem Mittag stattfinden sollte.

Auf der Strecke wurde das Streikkomitee aus Hostafrancs eingesammelt.In der Zwischenzeit wuchs die Demonstration auf ca. 1000 Leute an. Insgesamt beteiligten sich an diesen Zubringerdemonstration der CDR circa 6000 Menschen, was angesichts der Umstände und hinsichtlich der vorangegangenen Mobilisierung doch eher überschaubar ausfiel. Am Plaça de Universidad wurdeschliesslich jedoch ein wichtiger Akteur in diesem Streik und dessen Mobilisierungsstärke deutlich. Fast 70% der Universitäten wurden an diesem Tag bestreikt und auch viele Schulen wurden von Schüler_innen ausser Betrieb gesetzt.

An diesem Punkt vereinten sich die CDRs, die streikenden Arbeiter_innen, Schüler_innen, Studierende und andere Unabhängigkeitsbefürworter_innen. Es bildete sich eine grosse und kraftvolle Demonstration mit zehntausenden Teilnehmenden. Wie die Unabhängigkeitsbewegung selbst, war auch die Demonstration durchaus heterogen aufgestellt. Von liberalen und vornehm gekleideten katalanischen Nationalhymnensänger_innen, über Arbeiter_innen in verschiedener Arbeitskleidung, bis hin zu Antifa-Parolen rufenden Schüler_innen und revolutionären (Jugend-)Gruppen.

Letztgenannte konnten allerdings das Erscheinungsbild der Demonstration massgeblich prägen. Dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband CC.OO wurde für seine Nichtbeteiligung noch ein kleiner Gruss hinterlassen, indem sein Hauptsitz in der Via Laietana mit Parolen und Rauch verschönert wurde. Anschliessend zog die Demo laut und kraftvoll über die Ramblas zurück zum Plaça de Universidad und weiter zum Plaça de Catalunya. Im Anschluss blockierten einige hundert Schüler_innen und Studierende die Bahngleise an der Plaça und konnten so den Metro- und Zugverkehr für einige Zeit ausser Kraft setzen.

In Barcelona waren die Folgen des Generalstreiks laut Behördenangaben sehr unterschiedlich. Gab es in der Industrie insgesamt nur sehr wenig Arbeitsniederlegungen, lag die Beteiligung im öffentlichen Dienst bei 18 Prozent, im Einzelhandel bei bis zu 30 Prozent. Am stärksten wurden im Transport und an den Universitäten gestreikt. In kleineren Gemeinden wurde der Streik wohl in Teilen voll befolgt und die Strassen ausserhalb der Hauptstadt teilweise den ganzen Tag über blockiert.

Am Abend rief die Bewegung schliesslich zu weiteren Demonstrationen auf. In Barcelona strömten noch einmal bis zu 200.000 Menschen auf die Passeig de Gracia und füllten die breite Strasse unter der imposanten Architektur des katalanischen Modernismus aus. Auf weit über einen Kilometer staute sich ein Meer aus gelben Schleifen, dem Symbol der Solidarität mit den katalanischen politischen Gefangenen, Estelada Blavas, der Fahne für die (staatliche) Unabhängigkeit Kataloniens, sowie der ebenso stark vertreten Esteladas Vermellas, die roten Streifen mit rotem (wahlweise auch schwarzem) Stern auf gelbem Grund, als Symbol für das sozialistische Katalonien. Auch in anderen Städten und Gemeinden fanden grössere Demonstrationen statt. So zum Beispiel in Girona mit bis zu 70.000 Teilnehmenden oder in Lleida mit 15.000 Menschen.

Bemerkenswert ist somit, dass sich die verschiedenen Aktivitäten im Zuge des Generalstreiks über ganz Katalonien verteilten. Auch in kleineren Städten und Gemeinden folgten Viele dem Aufruf, die Arbeit nieder zu legen, Blockaden zu errichteten und sich an den Demonstrationen zu beteiligen. Obwohl nicht einmal eine Woche vorher bis zu 500.000 Menschen auf der Strasse waren, konnten erneut Hunderttausende mobilisiert werden. Gleichzeitig zeigt die geringe Streikbeteiligung in einigen Sektoren, vor allem in der Industrie, dass die Unabhängigkeitsbewegung anscheinend nicht genug Rückbindung an diese durchaus relevanten Gesellschaftsbereiche hat. Hier offenbart sich eine Schwäche der Bewegung, die bei der zukünftigen Entwicklung eine wichtige Rolle spielen könnte.

Governem-nos – Regieren wir uns selbst!

Wie also weiter für die katalanische Unabhängigkeitsbewegung nach diesen Massenmobilisierungen? Fakt ist, dass die konfrontative Haltung des spanischen Staates gegenüber der katalanischen Bewegung nicht nachlassen wird. Im Gegenteil droht mit den vorgezogenen Neuwahlen auf nationaler Ebene Ende April ein politischer Rechtsruck. Erste Prognosen sehen eine Koalition aus der immer weiter nach rechts driftenden „konservativen“ Partido Popular (PP), den rechtsliberalen Ciudadanos und der ultrarechten Vox mit guten Aussichten auf die Parlamentsmehrheit.

Einigkeit herrscht bei den drei Parteien vor allem in der Unabhängigkeitsfrage, welche sie vehement ablehnen. Mit ausschweifender Hetze gegen die Bewegung fischen sie unter anderem ihre Wähler_innenstimmen. Gleichzeitig zeigt sich auf der nationalen Parlamentsebene, auf der es vier Neuwahlen in nur dreieinhalb Jahren gab, die soziale und politische Spaltung des spanischen Staates, die weit über die Unabhängigkeitsfrage Kataloniens hinaus geht. Seit 2011 kam es zu verschiedenen Mobilisierungszyklen unterschiedlicher Akteur_innen, die allesamt die politische Ordnung im spanischen Staat in Frage stellten. Den Anfang machten die Platzbesetzungen der 15M-Bewegung 2011, die entgegen dem korrupten Politiksystem der alteingesessenen Zweiparteienherrschaft von PSOE (neoliberal-sozialdemokratisch) und PP (neoliberal-konservativ) und deren Politik in der Finanzkrise neue Formen der Demokratie forderte. 2014 protestierten Hunderttausende mit einem Marcha de la Dignidad (Marsch der Würde) in Madrid gegen die Krisenfolgen und den Abbau von Arbeitsrechtenunter der Parole „Brot, Arbeit und ein Dach für alle!“.

Bei den Kommunalwahlen 2015 konnten in vielen spanischen Städten Vertreter_innen munizipalistischer Wahlplattformen in die Rathäuser einziehen und dort teilweise die stärkste Kraft stellen. Diese neuen Bündnisse fliessen aus verschiedenen sozialen Bewegungen, Nachbarschaftsversammlungen, selbstverwalteten sozialen Zentren und kleineren Parteien zusammen. Diese eint der Einsatz gegen die vorherrschende Austeritätspolitik und für eine Demokratisierung der Gesellschaft. Nicht zuletzt wäre hier die starke Bewegung um den Frauen*streik zum 8. März zu nennen, an dem sich 2018 mindestens fünf Millionen Menschen, vorrangig Frauen*, beteiligten. Bestreikt wurde hier die Produktions- und Reproduktionsarbeit, um gegen Gewalt an Frauen, für sexuelle Selbstbestimmung, sowie gegen Sozialkürzungen und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen zu protestieren.

Die gesellschaftlichen Widersprüche, die sich aus dem autoritär-neoliberalen Krisenmanagement des spanischen Staates, aber auch aus der mangelhaften Aufarbeitung der faschistischen Franco-Diktatur heraus zuspitzen, gehen nun also an verschiedenen Punkten zusammen. Viele Akteur_innen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegungen verstehen sich als Teil dieser unterschiedlichen Kämpfe. Barcelona ist eine der Hochburgen des Frauen*streiks. Verschiedene Aktivist_innen, politische Gruppen und Parteien sind an munizipalistischen Regierungen beteiligt und ihre sozialen Forderungen wiederum Teil der Bewegung.

Um erneut in die Offensive zu kommen und die Orientierungslosigkeit zu überwinden, muss die katalanische Bewegung wieder stärker an diese Kämpfe anknüpfen. In der politischen Konstellation einer verhärteten Zentralregierung, einer neoliberalen Europäischen Union, von der keine Unterstützung zu erwarten ist und der spanischen Verfassung, die 1978 zwischen den ehemaligen Eliten des Franco-Regimes und den heutigen neuen Eliten ausgehandelt wurde, scheint wenig Spielraum. Das Zusammenbringen der verschiedenen sozialen Kämpfe und die Forderung des Bruchs mit der Verfassung von 1978, könnten landesweit breitere progressive Allianzen ermöglichen und die Ordnung weiter ins Wanken bringen.

Eine zentrale Aussage bei der Abenddemonstration in Barcelona war die Unterstützung für den feministischen Streik am 8. März 2019. Auch über die stärkere Betonung der Forderungen des Generalstreiks könnte eine verbreiterte Unterstützung der organisierten Arbeitnehmer_innenschaft in Katalonien und in der landesweiten Arbeiter_innenklasse erreicht werden. Dafür müssten allerdings auch die Klassenwidersprüche innerhalb der Bewegung zugespitzt werden, die zwar Unterstützung bei den Arbeiter_innen findet, aber auch von Teilen des Bürgertums, etwa durch die Partei des Exilanten Carles Puigdemont, getragen wird.

An die Forderung des Bruchs mit der Verfassung von 1978 könnte landesweit ein verfassungsgebender Prozess von Unten gekoppelt und so Selbstorganisierungs- und Selbstbestimmungsprozesse ausgeweitet werden. Genau darin sehen auch die progressiven Kräfte innerhalb der Bewegung den Schlüssel. Wenn etwa die antikapitalistische CUP mehr Souveränität für Katalonien einfordert, und damit einen neuen gesellschaftlichen Aufbau von „Unten nach Oben“ anstrebt. Dabei erscheint es für diese progressiven Kräfte als unerlässlich, nicht hinter den Dreiklang „Indepencia – Socialisme – Feminisme“ zurückzufallen und anknüpfend an die letztgenannten Punkte die politische Krise im gesamten spanischen Staat weiter zuzuspitzen.

Diese Einschätzung gilt natürlich mit der Einschränkung, dass das alles leichter gesagt, als getan ist. Hier muss selbstkritisch angemerkt werden, dass die ausserkatalanische, spanische und auch internationale Linke, bis dato nicht gerade eine unterstützende Kraft in dem Kampf um die Unabhängigkeit Kataloniens gewesen ist.

Fakt ist aber, dass die nächsten Wochen, Monate und wahrscheinlich auch Jahre turbulent bleiben werden, und sich in diesen noch zeigen wird, ob wirklich ein neuer Mobilisierungszyklus der Unabhängigkeitsbewegung begonnen hat. Oder auch, welche weiteren Bewegungen, etwa durch den Frauen*streik, angestossen werden könnten. Aber auch, ob im spanischen Staat, trotz aller Verwerfungen, die das politische System derzeit destabilisieren, unter Beteiligung gewohnter Akteur_innen weiter die vorherrschende autoritär-neoliberale Politik durchregiert werden kann. Es wird also noch mehr als genug Möglichkeiten für eine internationale Linke geben, verstärkend und solidarisch zu wirken.

Mo Foc
revoltmag.org

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