Das Wu Ming-Tagebuch Bologna in Zeiten des Coronavirus

Politik

Schon länger spüre ich in mir das Bedürfnis nach einem gesunden Abstand (was für ein Euphemismus dieser Tage) zu dem Grossteil dessen, was sich in diesem Lande die radikale Linke nennt.

Bologna, 5. Februar 2020. Freiwillige Helfer des Katastrophenschutzes bei der Gesundheitskontrolle am Flughafen
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Bologna, 5. Februar 2020. Freiwillige Helfer des Katastrophenschutzes bei der Gesundheitskontrolle am Flughafen "Guglielmo Marconi". Foto: Dipartimento Protezione Civile (CC BY 2.0 cropped)

17. März 2020
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Und überfiel mich nach Chemnitz, nach Halle, nach Hanau tiefe Scham, wenn ich jene Pflichtübungen besuchte, die sich frei von Hass und ehrlicher Trauer durch die “Szenebezirke” hindurchschlängelten, nichts hinterlassend als eine kurze Meldung in den Regionalnachrichten, so stellte ich am Abend des 19. Februar das erste Mal fest, dass die ganze Angelegenheit mich zu ekeln begann.

Zehn Menschen waren nur wenige Stunden zuvor von einem Faschisten niedergemetzelt worden und ich war nach der Arbeit nach Neukölln geeilt. So stand ich da am Rande und liess die Demonstration an mir vorbeiziehen, auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Ich sah in diese Gesichter, unter denen es auch ehrliche gab, dies gilt es zu benennen, der Gerechtigkeit wegen, und um nicht endgültig dem Wahnsinn zu verfallen, aber ich sah auch so viele mit einem Lächeln im Gesicht Freunde und politische Gefährten grüssen, umarmen, in einen spontanen smalltalk verfallend, dass mir geradezu körperlich übel wurde. Kurz darauf traf ich einen alten Genossen, der eigentlich um einiges jünger ist als ich, aber in meinem Alter hat man schnell alte Genossen. Wir schauten uns nur kurz an und wechselten wenige Worte. Wozu auch. Es war alles so offensichtlich.

Nun also erleben wir dieser Tage die umfassendste weltweite Etablierung eines Pandemie Faschismus der (Post)Moderne, der mittels Dekreten (nicht einmal mittels Gesetzen, nur um den Anschein einer bürgerlichen Demokratie zu wahren) über Nacht sämtliche sogenannte Grundrechte aufhebt, Menschen ohne Urteil und ohne Möglichkeit der Anhörung nur auf Verdacht isoliert, einsperrt. Und eine (deutsche) radikale Linke, die zu Grossteilen sich freiwillig in ihre Höhlen verkriecht, dabei mantraförmig #FlatTheCurve und #StayAtHome murmelnd. Fingerzeigend denunziatorisch Bilder von Menschen in der Frühlingssonne postend, während sie selber doch in tiefster Abstinenz die Welt rettend auf Demonstrationen, Widerstand, ja nur der puren Versammlung zum Zwecke des Austausches und der Organisierung verzichtet. Alles im tiefsten Brustton der Überzeugung es ginge um den Schutz der Alten und Kranken. Jenen Alten und Kranken, die hier jeden Tag in den Pflegeheimen, Krankenhäusern und Hospizen in tiefster Einsamkeit krepieren, ohne dass dies sonst irgendeine Szene gross interessieren würde.

Über Nacht ist jeder hier quasi studierter Virologe, kann genau den potentiellen Verlauf der Corona Pandemie herunterbeten, labert das immer gleiche Zeug der paar Koryphäen nach, die in den Talkshows herumgereicht werden und die mit fester Stimme den wahren Weg aus der Krise predigen. Das der eine oder die andere vor wenigen Wochen genau das Gegenteil von dem erzählt hat, was er oder sie heute von sich gibt, interessiert nur noch notorische Querulanten. Niemand, wirklich niemand weiss wirklich was passieren wird, da können noch so viele Schautafeln und Diagramme versendet und gedruckt werden. Wird es Mutationen des Virus geben, wird nicht eh ein Grossteil der Bevölkerung im Laufe der nächsten 12 oder 24 Monate Träger des Virus werden und dies zu 99% überleben.

Fragen über Fragen, für die es keine Gewissheiten gibt. Ja es werden Menschen sterben, und ja, es gilt um jedes Menschenleben zu kämpfen, was wären wir für Menschen, wenn wir dies nicht versuchen würden. Aber dies darf nicht dazu führen, die Waffe der Kritik stumpf werden lassen, uns unseren Todfeinden anzuvertrauen, deren Herrschaft jeden Tag sowieso Zehntausenden das Leben kostet. Gestorben und ermordet durch Hunger, Krieg, Armut, mangelnde Gesundheitsversorgung und unmenschlichen Arbeitsbedingungen.

Als Träger des Corona Virus wurden in China bis Mitte März um die 80.000 Menschen positiv getestet, 3130 Menschen verloren ihr Leben. Das ist schrecklich. Aber wir reden über ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohner, in dem jedes Jahr durch die Bedingungen eines erbarmungslos staatlich gelenkten Kapitalismus eine Vielzahl an Menschen getötet werden. Der Bürgerkrieg in Syrien, der seinen Anfang nahm durch Massaker der Regierungsarmee an unbewaffneten Demonstranten hat bisher über eine halbe Million Menschen das Leben gekostet. Die letzte Ebola Epidemie, die von 2014 bis Anfang 2016 in Westafrika grassierte, führte zur Erkrankung von mehr als 28.000 Menschen, fast die Hälfte der Erkrankten, über 11.300 Menschen starben.

Das wirklich Schreckliche, das wahre Drama an dieser Pandemie, die durch die Welt rast, in Echtzeit weltweit versendet, ist nicht der Virus, der sich in unseren Körpern einnistet, uns, wenn wir alt oder schwach sind, oder einfach Pech haben, das Leben kosten wird. Die eigentliche Monstranz ist das Krisenmanagement, das unser aller Leben erfasst, bewertet und an das zu glauben uns als alternativlos verkauft wird. Die Tragödie oder die Farce, die Wiederholung ist in diesem Fall das Narrativ “vom Ende der Geschichte”.

Es gibt scheinbar so wenig Hoffnung, während ich diese Zeilen schreiben, aber wie soll man schreiben ohne Hoffnung, also klammert man sich an das, was da noch da ist. Unter den Trümmern. Aufgeschrieben im Epizentrum des europäischen Ausnahmezustandes, unter den Bedingungen einer fast allgegenwärtigen Isolierung und Quarantäne. Ein Auszug aus dem “Virus- Tagebuch” des Wu Ming Kollektivs aus Bologna, dessen Bücher der geneigten Leserschaft durch die Veröffentlichung bei Assoziation A zur Verfügung gestellt wurden. Die Übersetzung erfolgte aus der Version, die am 16.03.2020 auf Lundi Matin erschien. Für etwaige Ungenauigkeiten in der Übersetzung bitte ich um Nachsicht.

Bologna in Zeiten des Corona Virus - Das Wu Ming-Tagebuch

Die Wu Ming ("Anonym" auf Chinesisch) sind ein Kollektiv von vier Schriftstellern aus Bologna, deren Werke sowohl in der Art und Weise, wie sie geschrieben werden (kollektiv oder individuell, aber immer anonym), als auch in der Art und Weise, wie sie beworben werden (sie weigern sich, in Bildern zu erscheinen), die Gegenwart in Frage stellen, selbst wenn sie über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder die Kriege des 14. Jahrhundert schreiben. Sie führen in ihrem Blog ein Virus-Tagebuch, ein Tagebuch über das Leben in ihrer Stadt, das seit einigen Wochen beispiellosen staatlichen Einschränkungen unterworfen ist, die es so in Westeuropa noch nie gegeben hat und die mit der Coronavirus-Epidemie zusammenhängen. Hier sind zunächst die jüngsten Ergänzungen von Wu Ming 1 zu diesem Tagebuch, das aufzeigt, was uns wahrscheinlich in Frankreich in den kommenden Wochen erwartet. Die Übersetzung des gesamten Tagebuchs ist in Arbeit. Fortsetzung folgt… (Lundi Matin)

Das Versammlungsverbot hat sich in der Tat in ein Ausgehverbot verwandelt, hier in Bologna werden Dutzende von Menschen für das "grundlose" Umhergehen strafrechtlich verfolgt. Sie trafen sich mit niemandem, sie waren niemandem auch nur weniger als einen Meter nahe: Sie waren einfach an die frische Luft gegangen.

Sie sagen uns, dass wir uns zurückziehen und paranoid bleiben müssen, wenn es so weitergeht, werden wir bald einen Gipfel der Entmündigungen, der psychischen Krisen, der Frauenmorde, der häuslichen Massaker und der Zwangsinternierung erleben. Von nun an sind viele Menschen in psychischem Leiden ohne soziale Kontakte, ohne Hilfsdienste. Ich kenne einige von ihnen.

Der Befehl "Bleib zu Hause" entstand aus einer sehr präzisen Vorstellung von "Zuhause". Er hängt mit dem Wunsch zusammen, dass Fremde "zu Hause" bleiben und sich "zu Hause" fühlen. Er ist der Bruder des Ausdrucks "dieser Typ weiss nicht, wo er wohnt", um auf jemanden hinzuweisen, der nicht normal ist. Er entsteht aus dem Gegensatz zwischen der Heimat als privatem Territorium und den öffentlichen, offenen, von jedermann betretbaren Orten. Er drückt in seinem Kern den Willen aus, dass auch diese Orte "Heimat" werden: immer privater, geschlossener, sauberer.

Er zeugt von der wachsenden Agoraphobie der Gegenwart. Um der Ausbreitung entgegenzuwirken, sollte ein enger Kontakt mit anderen Menschen vermieden werden, aber dieses Gebot könnte auf viele andere Arten vermittelt werden: Es ist bezeichnend, dass das Diktat "zu Hause bleiben" gewählt wurde. Ein Mantra, das nicht nur eine bestimmte Art von Zuhause voraussetzt - aus der Sicht der Innenräume, des Komforts, der Fläche - sondern auch ein Zuhause als "sicherer Ort", während, wie ein Kommentator bemerkte, das Zuhause für viele Frauen überhaupt kein Ort ist, an dem sie sich sicher fühlen.

Bei genauerem Hinsehen ist es auch nicht sicher für viele ältere Menschen, die sich ruhig im Freien bewegen, während sie zu Hause oft schwere häusliche Unfälle erleiden und noch mehr Einsamkeit erfahren. "Bleib zu Hause" war schon immer ein patriarchalischer Refrain, der sich an Frauen richtete, die nicht an ihrem Platz bleiben. Auch hier gibt es leider eine Verlangsamung des kritischen Denkens: Wie viele von uns, Frauen und Männer, haben auf diesen Zufall hingewiesen? Wie viele haben diesen Versprecher untersucht?

"Bleiben Sie zu Hause" sagt uns, dass unser Zuhause nicht länger ein Ort der Geselligkeit, der Zusammenkunft, der Begegnung ist. Die Verfügung sagt uns, dass unsere Häuser keine "Orte" mehr sind, denn ein Ort ist nur dann ein solcher, wenn er als Knotenpunkt zwischen mehreren Wegen dient, und nicht durch die Gnade einer Tür, eines Tores. Ambrose Bierce gibt in seinem "Wörterbuch des Teufels" diese Definition des Hauses: "Hohle Konstruktion, errichtet, um von Menschen, Ratten, Kakerlaken, Fliegen, Mücken, Flöhen, Bazillen und Keimen bewohnt zu werden". Wir werden im Gegenteil in der Illusion eingelullt, eine aseptische, saubere Unterkunft ohne ungebetene Gäste zu haben. Oder besser gesagt: ganz ohne Gäste.

Aber es gibt Häuser, in denen noch immer verschiedene Menschen untergebracht sind: Familienhäuser, Wohngemeinschaften. In diesen Tagen sind viele Pädagogen, die mit behinderten und zerbrechlichen Menschen arbeiten, in grossen Schwierigkeiten, weil die Tageszentren geschlossen sind, in denen diese Menschen früher ihre Tage verbrachten und Aktivitäten hatten, sich unterhalten und sich gehen liessen. Jetzt müssen sie "zu Hause bleiben", und es geht ihnen überhaupt nicht gut, weil sie "nicht wissen, wo sie wohnen". "Wir bleiben zu Hause", verängstigt durch die Falle der Wirtschaft - die im Gegenteil der "Nomos", das Gesetz, der "Oikos", das Haus sein sollte. "Wir bleiben zu Hause", weil wir die Ökologie, die Fähigkeit, über unseren gemeinsamen “Oiko” nachzudenken, aufgegeben haben.

(...) Die Schliessung von öffentlichen Parks ist eine abscheuliche und berüchtigte Massnahme. Ich frage mich, welche miserable Vorstellung vom Leben der Gouverneur von Piemont haben kann, der zur Rechtfertigung erklärt: "Es ist ein Notfall, kein Feiertag! "Ich frage mich, was für eine ungeheuerliche Vorstellung von der Stadt diejenigen haben können, die sagen, dass die Schliessung unvermeidlich war, weil die törichten und dummen Leute mit den Kindern Schlitten fahren und sich auf den Bänken versammeln. Aber im öffentlichen Raum - und zum Beispiel auf der Strasse - gab es schon immer Menschen, die sich strafbar gemacht haben. Einige Leute halten sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung, andere parken auf illegalen Parkplätzen, aber das ist nicht der Grund, warum die Strassen gesperrt sind. Weil sie für den Verkehr und das Leben der Stadt unverzichtbar sind. Parks sind für sie offensichtlich nicht so wichtig, trotz all der schnulzigen grünen Rhetorik, die einige Charaktere von Zeit zu Zeit entwirren können. (…)

Die Tatsache, dass die öffentlichen Behörden grob und improvisiert handeln, indem sie sich auf die Gleichgesinnten, die sie in den Netzen sammeln, und die Viralität der Schlagzeilen, die sich auf ihre Ankündigungen beziehen, einlassen, hindert keineswegs daran, die systemische Funktionalität dieser Notlage zu verbessern. Ganz im Gegenteil: Sie ermöglicht es uns, sie besser zu erfassen.

Diese Wendung der Ereignisse zeigt in der Tat, wie sehr die Sphäre der politischen Entscheidungsfindung nun davon abhängt, wie sich das Kapital um die Extraktion grosser Daten herum neu konfiguriert hat. Extraktion, die durch die Netzwerke, die Plattformwirtschaft, die Gamifizierung der gesamten Kommunikationssphäre usw. stattfindet. Und wie durch Zufall, wie schon viele betont haben, dienen alle ergriffenen Massnahmen letztlich genau den Interessen der grossen Plattformen: Die Online-Bildung wurde von Google angeeignet, der Handel wurde fast vollständig in die Hände von Amazon gelegt, wir werden ständig gedrängt, uns zu Hause zu verschliessen, wo wir am Ende noch mehr Zeit damit verbringen, grosse Daten zu produzieren, in den Netzwerken zu bleiben, Millionen von Nachrichten auf Whatsapp auszutauschen und Serien auf Amazon Prime oder Netflix zu sehen.

Wenn das so ist, dann nicht, weil Conte oder irgendjemand anderes eines Morgens aufwachte und dachte: "Lasst uns die Covid-19-Epidemie ausnutzen, um die Profite von Amazon, Facebook, Google, Netflix, Deliveroo und anderen grossen Technologiemächten zu steigern...". Nur ein Idiot würde so etwas denken, und wir halten uns nicht für Idioten. Es ist so, weil das kapitalistische System auf eine bestimmte Art und Weise funktioniert, es hat seine grundlegende Logik, die aus Aktienbesitz, Machtverhältnissen und Trägheitskraft besteht.

Dasselbe gilt für die öffentliche Politik im städtischen Raum, die bereits seit Jahren von der Sicherheitspolitik durch unterschiedliche Ausnahmezustände angegriffen wird: "die Verschlechterung der Nachbarschaften", "die Invasion" usw. Diese angebliche Notlage, die die Kultur des Verdachts nährt und zu Schuldgefühlen und Denunziation führt, führt auch zu einer weiteren Verstärkung jeglicher Art von Sicherheitsdenken, und davon werden auch die Big-Tech-Firmen profitieren, sei es durch den Verkauf von Hardware zur Kontrolle und Überwachung oder durch die zusätzliche Datenablage, die die Entwicklung dieses Netzes garantiert.

Es ist nicht nur, dass "es passieren könnte": es passiert.

Wu Ming

Vorwort und Übersetzung von Sebastian Lotzer