Die scheinen allesamt auf dem Weg zu sein, das eigene Land und mit ihm die eigene Schutzmacht, die hoheitliche Gewalt, von der doch alle abhängen als Verteidiger des Rechts auf Leben, Unversehrtheit, Sicherheit und persönlicher Freiheit, radikal infrage zu stellen. Im konkreten Wissen um die gleichfalls ziemlich gegensätzlichen Verfasstheit der Staatenwelt da draussen schwört die hoheitliche Gewalt, die die Befehls- und Kommandogewalt, den Oberbefehl über die Streitkräfte und die Menschen im Land innehat, sich und vor Gott:
"Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden [...] So wahr mir Gott helfe." (GG, Art. 56)[8]
Wenn die Befehls- und Kommandogewalt sich dazu entscheidet, aus ihren Gründen heraus, einen Krieg gegen ihresgleichen in nächster Nähe oder fernster Ferne in Angriff zu nehmen, deshalb das "Land in wirklicher Gefahr" zu sehen und den "Verteidigungsfall" ausruft, um den Nutzen des Volkes zu mehren, indem Schaden mittels Krieg von ihm gewendet werden soll, dann droht den Menschen im Land nichts Gutes. Nicht zuletzt ersichtlich daran, dass die deutschen und europäischen hoheitlichen Gewalten als Oberbefehlshaber im Rahmen ihrer Befehls- und Kommandogewalt über die europäischen Völkerschaften sich entschlossen haben, den ganzen Kontinent seit 2022 in angeblich wirklicher Gefahr zu sehen. Weshalb geboten sein soll: Preparing Europe for a more dangerous world - Security is the foundation on which everything is built - Strengthening Europe's Civilian and Military Preparedness and Readiness - A path towards a fully prepared Union. (Niinistö-Report, Safer Together, 30.10.2024)
So setzen die zu allem entschlossenen, verteidigungswilligen europaweiten Oberbefehlshaber seit 2022 ihre Befehls- und Kommandogewalt ein, um die von ihnen anvisierten Kriege "in aller Öffentlichkeit" (B.Brecht, 1952) vorzubereiten. Gefordert ist damit, dass ausnahmslos alle, Jung und Alt, Kind, Mädchen, Frau und Mann, jeder am ihm zugewiesenen Platz, das gesamteuropäische Hoheitskollektiv mit Leib und Leben zu verteidigen und zu schützen hat.
Und zwar: Damit diese Kollektiv in der Verteidigung seiner globalen Ansprüche auf den freien Zugriff auf fremde Völkerschaften, freie Handelswege und Rohstoffe auch in der fernsten Ferne Erfolg beschieden ist. Wegweisend deshalb schon damals: "Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Grösse der Bedrohung entsprechen.“ (Schuhmann-Erklärung, 9. Mai 1950)[9] Eben die Bedrohung, dass dieses ausgreifende Projekt durch was und wen auch immer behindert werden könnte. Denn:
Der politische Westen liegt auch im Osten. Wir setzen heute ein klares Zeichen: Der Indo-Pazifik ist eine Priorität der deutschen Aussenpolitik [...] Der Himalaya und die Strasse von Malakka mögen weit entfernt scheinen. Aber unser Wohlstand und unser geopolitischer Einfluss in den kommenden Jahrzehnten beruhen gerade auch darauf, wie wir mit den Staaten des Indo-Pazifiks zusammenarbeiten [...] Als Handelsnation hängt unser Wohlstand unmittelbar von der Freiheit des Handels und der Seewege ab, die zu einem grossen Teil durch den Indo-Pazifik führen. (Heiko Maas, Leitlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik, 2.9.2020)[10]
Dass solche Unternehmungen nicht so offenherzig und ungeschminkt in der Öffentlichkeit und von den Menschen im Land wahrgenommen werden, dafür sorgen die einschlägigen Verfassungsartikel mit ihrem Schlagwort und der Rede von der "Verteidigung". Zum anderen geht es ja, wie schon erwähnt darum, "mit einer erhellenden Vereinfachung auch komplexe Sachverhalte unter die Menschen zu bringen. Dass die begreifen, die da oben, die wir gewählt haben, die sorgen sich um uns." (J.Gauck) Das ergibt folgendes Bild: Offenbar sind da draussen in nah und fern Akteure und Mächte, hoheitliche Gewalten unterwegs, die in übler Absicht dem Wohl und Nutzen des deutschen Volkes als ganzem und damit jedem Menschen im Land unabsehbaren Schaden zufügen wollen. Das fällt auf durchaus fruchtbaren Boden, denn: von Kindesbeinen an bis zu ihrem letzten Atemzug haben die Menschen im Land in ihrer Schutzmacht- und Verteidigungs-Illusion mehrheitlich die gleichsam unumstössliche Vorstellung und Überzeugung herausgebildet:
Je mächtiger, durchsetzungsfähiger und überlegener die eigene hoheitliche Gewalt nach aussen, und zwar global, auch in den fernsten Fernen, sich gebärden, handeln und wirken kann, umso geschützter und sicherer seien das eigene Leben und Überleben. Dies wiederum umso mehr, je verteidigungsfähiger, verteidigungsbereiter und widerstandsfähiger nach innen die hoheitliche Gewalt sich zuzurüsten vermag: Je kriegstüchtiger und kriegswilliger die gesamte Nation ist, umso sicherer sei das eigene Leben und Überleben garantiert. Denn es gilt, jedem nur erdenklichen Gegner, jeder nur erdenklichen Bedrohung von aussen mit einer auf allen Ebenen überlegenen Verteidigungsarmee präventiv-präemptiv so drohen zu können, so dass diese, solchermassen abgeschreckt, es nie und nimmer wagen auch nur daran denken, unsere hoheitliche Schutzmacht und damit einen jeden von uns, anzugreifen. In den Worten des politischen Oberbefehlshaber, der demokratisch und verfassungskonform die Befehls- und Kommandogewalt über Zerstörung, Leben und Tod innehat: "Verantwortung für Deutschland [...] Wir wollen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen. Wir nennen diesen Grundsatz seit Jahrzehnten Abschreckung. (F.Merz, Regierungserklärung, 14.5.2025)[11]
Zwar sprechen hier keineswegs die Menschen im Land, also "Wir". Sondern die hoheitliche Schutzmacht, die in ihrer politischen Verantwortung sich in Gestalt Deutschlands und nicht jeden einzelnen der Menschen im Land verteidigen will. Und in ihrem Schutzmacht-Idealismus und in ihrer Verteidigungs-Illusion erscheint den Menschen im Land nichts notwendiger als eine hoheitliche Gewalt, die sie verteidigt. Weshalb für sie Verteidigungsministerium, Verteidigungsminister, Verteidigungsstreitkräfte zum Leben einfach dazugehören, wie die Luft zum Atmen. Auf diese Weise schreitet die Verteidigungs-Illusion der Menschen im Land zielstrebig weiter voran und wird damit mit Sicherheit tödlich und selbstmörderisch. Denn dass die auswärtigen hoheitlichen Gewalten und sonstigen politischen Mächte von Format es hinnehmen, sich einer oder auch kollektiv versammelten hoheitlichen Gewalt zu beugen, die ihr mit unbedingter militärischen Überlegenheit droht, ist kaum wahrscheinlich. Die politischen Mächten von Format jedenfalls kennen keinen Grund, sich freiwillig zum Objekt ihnen überlegener politischer Mächte zu degradieren.
So sehen die hoheitlichen Gewalten ihr angeblich "naturgegebenes" Recht zur Verteidigung ihres Selbst mittels den ihrer jeweiligen Befehls- und Kommandogewalt unterworfenen Menschen im Land gegeben. Und machen ihre jederzeit kriegswillige Verteidigungsbereitschaft als ihr moralisch einwandfreies Recht zum gerechten Krieg (bellum justum) geltend. Auf den Schutzmacht-Idealismus und die Verteidigungs-Illusion seitens der Menschen im Land ist grundsätzlich ohnehin Verlass. Was nicht heisst, die Menschen im Land könnten sich nicht auch einmal anders entscheiden. Selbst ein einmal durchgesetzter Mentalitätswandel für den moralisch gerechtfertigten gerechten Krieg, ins Auge gefasst und vorbereitet durch die hoheitliche Gewalt, kann sich jederzeit wieder wandeln.
Deshalb bedarf es einer nachhaltigen moralischen Rechtfertigung der Kriegsvorbereitungen und des anvisierten Krieges, die den in Friedenszeiten längst schon geborenen Schutzmacht-Idealismus und die Verteidigungs-Illusion aufgreift und, sofern notwendig, den Zeit- und Kriegsumständen gemäss anpasst. Das gang und gäbe moralische Bewusstseins und Selbstbewusstseins der Menschen im Land, das in der Überzeugung, sich selbst zu verteidigen die hoheitliche Gewalt und ihre weltweiten Ansprüche gegenüber anderen hoheitlichen Gewalten und politischen Mächten verteidigt, dieses falsche Bewusstsein ist als unbeirrbare Kriegsmoral zu hegen und zu pflegen mittels einer gleichsam überzeitlichen Verteidigungs-Ideologie, die allen hoheitlichen Gewalten und Mächten zu Gebote steht.
Die überzeitliche Verteidigungs-Ideologie
Einerseits ist dem kaum zu widersprechen:Es macht schier fassungslos, in welcher Geschwindigkeit sich ein Denken breit macht, das den Feind besiegen, das Militär als Mittel der Feindvernichtung aufrüsten und das nationale Interesse an der Feindbekämpfung stärken will. (N. Wohlfahrt/J. Schillo, Die deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch 2023)[12]
Andererseits ist dem moralischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein der Menschen im Lande zu verdeutlichen, dass alle die zur Feindbekämpfung und Feindvernichtung notwendigen Gewalttaten, zu denen die Menschen im Land verpflichtet werden, einem guten Zweck dienen: Ihren Nutzen mehren und mittels Einsatz ihres Leibs und Lebens Schaden von ihnen und ihrer hoheitlichen Gewalt, die als Schutzmacht und Beschützer für sie und nur um ihretwillen da zu sein scheint, abzuwenden. Die offensichtliche Bedrohung der heimatlichen hoheitlichen Gewalt durch einen oder mehrere Feinde muss möglichst ein für allemal aus dem Weg geräumt werden. Den Feind zu bekämpfen und notfalls auch auszurotten ist eine Tat des guten Willens und Gewissens: "Für die Kriegsmoral bedarf es eines Feindes, der bekämpft, besiegt und, falls erforderlich, vernichtet werden soll, und dieser Feind wird durch die Nation und ihre vaterländischen Interessen definiert." (N. Wohlfahrt/J. Schillo: 12f.)
Der so ermittelte gerechte Krieg (bellum justum) erlaubt, erfordert, verlangt alles Recht zum Krieg (jus ad bellum). Das gestalten "in einer erhellenden Vereinfachung" (J.Gauck) die Oberbefehlshaber über Zerstörung, Leben und Tod, unterstützt durch ihre massenmedialen Leitmedien und unterstützt durch ein ganzes Heer von akademisch-intellektuellen Zuträgern zu einem moralisch eindringlichen und einwandfreien Bild aus:
- Wir wollen keinen Krieg.
- Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg.
- Der Feind hat dämonische Züge (oder: »Der Teufel vom Dienst«).
- Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele.
- Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich.
- Der Feind verwendet unerlaubte Waffen.
- Unsere Verluste sind gering, die des Gegners aber enorm.
- Unsere Sache wird von Künstlern und Intellektuellen unterstützt.
- Unsere Mission ist heilig.
- Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter. (Anne Morelli, die Prinzipien der Kriegspropaganda, 2014)[13]
Auf den Punkt bringt es mit dem reinsten Gewissen nur Gutes zu tun die Verteidigungs-Ideologie und Kriegsführung zum Beispiel Israels:
This is a struggle between the children of light and the children of darkness, between humanity and the law of the jungle [...] We will win. We will not stop until victory. (Netanyahu, 16.10.2023)[14]
This is a war between the children of light and the children of darkness. We will not relent in our mission until the light overcomes the darkness; the good will defeat the extremist evil that threatens us and the entire world. (Netanyahu, 3.11.2023)[15]
We have an amazing army, with wonderful and heroic soldiers: They are committed to eradicating this evil from the world, for our existence, and I add, for the good of all humanity Israel is fighting not only its war, but a war for all of humanity – the war of humanity against barbarism. The IDF is the most moral army in the world. The IDF does everything to avoid harming non-combatants. (Statement by PM Netanyahu, 28.10.2023)[16] Schliesslich beinhaltet Israels Existenz- und Selbsverteidigungsrecht "the vision of Greater Israel [...] The vision encompasses occupied Palestinian territories as well as parts of Jordan, Lebanon, Syria, and Egypt." (Netanyahu's 'Greater Israel', 14.8.2025)[17] Und das ist einfach eine “historic and spiritual mission [...] "very attached to the vision of the Promised Land and Greater Israel." (Netanyahu, a 'historic and spiritual mission', 12.8.2025)[18]
Wie auch immer: Gelingt es in Europa nicht, einen Mentalitätswandel herbeizuführen, der die Schutzmacht- und Verteidigungs-Illusion mitsamt der Verteidigungs-Ideologie bei den Menschen im Land auflöst, um das Projekt "Preparing Europe for a more dangerous world" (Niinistö-Report, 2024) zu beseitigen, dann droht den Menschen in Europa und möglicherweise allen in der "dangerous world" das Schicksal des Soldaten von La Ciotat.