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Bedrohungen und Verteidigung - Anmerkungen zur Verteidigungs-Illusion (Teil 1)

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Sich verteidigen, sich wehren - ein menschliches Urbedürfnis? Bedrohungen und Verteidigung - Anmerkungen zur Verteidigungs-Illusion (Teil 1)

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Politik

Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Greueln der Atombombe erhielt, schreckten ihn anscheinend nur wenig.

Das bodengestützte Flugabwehrraketen-System IRIS-T SLM an der Diehl Defence Ausstellung auf der ILA Berlin Air Show 2024.
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Das bodengestützte Flugabwehrraketen-System IRIS-T SLM an der Diehl Defence Ausstellung auf der ILA Berlin Air Show 2024. Foto: Matti Blume (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 18. August 2025
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Lesezeit8 min.
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Prolog

Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer.

Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Greueln der Atombombe erhielt, schreckten ihn anscheinend nur wenig. Der Hamburger ist noch umringt von den Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben [...] Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äusserster Grad ist der Tod [...] Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden. (B.Brecht, 1952)[1]

Sich verteidigen, sich wehren - ein menschliches Urbedürfnis?

Preparing Europe for a more dangerous world - Security is the foundation on which everything is built - Strengthening Europe's Civilian and Military Preparedness and Readiness - A path towards a fully prepared Union. (Niinistö-Report, Safer Together, 30.10.2024)[2]

Dass der Menschheit Kriege ins Haus stehen, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, dafür sorgen diejenigen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten. Und das verkünden die deutschen wie die europäischen politischen Entscheidungsträger über Krieg und Frieden so gut wie unbehelligt als "Zeitenwende" den berühmten Menschen im Lande rund um die Uhr. Assistiert und bekräftigt durch Denk-"Fabriken", durch "Experten" für Sicherheit, durch Experten für USA-, Deutschland-, Europa-, Aussen-, Geo- und Weltpolitik; Generäle, Offiziere, Reservistenverbände Militärfachleute aller Couleur breiten sich und lassen sich anhand aller möglichen Zerstörungs-, Tötungs- und Vernichtungsgerätschaften über die möglichen Sieges-Perspektiven aus.

Die sollen umso gewisser sein, je kriegswilliger, kriegstüchtiger und kriegsbereiter die gesamte Nation ist. Und die demokratischen Leitmedien für die Massen propagieren in vollkommener Geistes- und Seelenverwandtschaft mit den politischen Entscheidungsträgern und Regierungsverantwortlichen, sowie mit ihren akademisch-intellektuellen und militärfachlichen Zuträgern, dass ohne eine europaweite, gnaden- und rücksichtslose, nach oben offene Billionenrüstung und schonungslose Militarisierung des Kontinents die Siegesperspektiven eher dürftig sein werden. Das droht schon mal.
Allerdings: So ohne weiteres ungeschminkt und offenherzig tun allen voran die politischen Entscheidungsträger und Regierungsverantwortlichen ihre Botschaft nicht einfach kund. Bei ihren öffentlich-massmedialen Auftritten, Kundgaben und Verlautbarungen bedarf es gewisser sprachlich-rhetorischer und propagandistisch überzeugender Stilmittel, Methoden, Techniken und sprachregelnde Kunstgriffe, um den erforderlichen "Mentalitätswandel" bei der untergebenen Bevölkerung zu bewerkstelligen. Etwas grobschlächtig, aber nicht unzutreffend formuliert: "Es geht darum, mit einer erhellenden Vereinfachung auch komplexe Sachverhalte unter die Menschen zu bringen. Dass die begreifen, die da oben, die wir gewählt haben, die sorgen sich um uns." (J.Gauck, zdf-Interview, 2.10.2022)[3]

So hat seit der Ausrufung der Zeitenwende die Rede vom der Verteidigung massenmediale Hochkonjunktur. Und zwar vornehmlich als Schlagwort. Das heisst: "Mit Titel oder Schlagzeile wird nicht einfach das Thema einer Nachricht oder eines Berichts angegeben." Denn damit "[...] ist in vielen Fällen schon eine Perspektive, ein Standpunkt formuliert, dessen Übernahme den Lesern und Zuschauern nahegelegt werden soll. (R.Dillmann, Medien. Macht. Meinung. Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit, 2025)[4]

Dies in der Gewissheit, dass es jedem Menschen das allernatürlichste von der Welt ist, sich gegen körperliche Übergriffe, Angriffe oder sonstigen Bedrohungen gegenüber Person und Eigentum notfalls verteidigen zu müssen. Sich verteidigen, sich wehren, sich selbst und seine Nahestehenden und Liebsten zu schützen, erscheint als ein gleichsam menschliches Urbedürfnis, gegen das keinen Einwand geben kann. Das umso mehr, als das moderne soziale Miteinander ein ausgiebiges, ein antagonistisches Gegeneinander ist, eine ziemliche "dangerous world" (Niinistö-Report) schon im eigenen Land, in der Person und Eigentum jederzeit gefährdet und bedroht sind.

Ein soziales Miteinander, dem insbesondere die gewöhnlichen Menschen im Lande nicht so ohne weiteres auskommen, da es nun einmal unausweichlich die soziale Lebenswelt ist, die sie von Geburt an vorfinden; und in der sie sehen müssen, dass sie, gemäss ihren Mitteln, über sie sie recht unterschiedlich aber exklusiv verfügen, da durchkommen, so gut es eben geht: der Eine hat seine Hände, andere haben eine Fabrik.

Die Frage, warum das moderne soziale Miteinander ein ausgiebiges Gegeneinander ist, in dem sich jederzeit verteidigen und sich wehren müssen zu einem gleichsam menschlichen Urbedürfnis verfestigt, diese Frage stellt sich so gesehen erst einmal nicht. Der praktische Zwang, sich in dieses vorgefundene, gegensätzliche soziale Miteinander einzufügen; sich an dessen vorgegebenen Regeln zu halten; letztlich: sich dieser sozialen oder öffentlichen Ordnung zu unterwerfen, herrscht den Menschen im Land endgültig die Vorstellung auf, das Sich-Verteidigen und Sich-Wehren sei ein menschliches Urbedürfnis. Aber, keine Sorge, denn wie es heisst: „You'll never walk alone.“ (O.Scholz, 22.07.2022)[5]

Die Verteidigung und ihre Schutzmacht - eine Verteidigungs-Illusion

Mit der unausweichlich wie antagonistisch verfassten öffentlichen Ordnung und ihrem Regelwerk, treten den Menschen im Land "die da oben" (J.Gauck) in Gestalt der hoheitliche Gewalt, als Urheber und Instanz entgegen, die gebietet, diese soziale Ordnung und mit ihr die hoheitliche Gewalt anzuerkennen: Eben als Urheber und Instanz, die die Macht und somit das Recht hat, von den Menschen im Land, Rechts- und Gesetzes-Gehorsam einzufordern - im Rahmen genau dieser öffentlichen Ordnung. Auch diese Unterwerfung ist gleichermassen unausweichlich und damit erst einmal hingenommen mit der Vorstellung und dem Lebensprogramm: das Beste daraus zu machen und so gut es geht, in dieser "dangerous world" durchzukommen. Dem kommt die hoheitliche Gewalt explizit entgegen:

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt [...] Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. (GG, Art. 2, Abs.1 und 2)[6]
Dem scheinbar menschlichen Urbedürfnis, sich verteidigen und sich wehren müssen in der aufgeherrschten und akzeptierten Sozialordnung und alltäglichen Lebenswelt, treten die da oben, tritt die hoheitliche Gewalt als öffentliche Schutzmacht offensichtlich hilfreich beiseite: In Anbetracht dessen, dass es so gut wie unvermeidlich ist, dass die Menschen im Land innerhalb dieser öffentlichen Ordnung in Fragen von existenzieller Bedeutung fundamental gegeneinander stehen: Unternehmer-Arbeitgeber hier, Arbeitnehmer, Lohnabhängiger dort; Grundeigentümer hier, Behausung, Wohnungssuchender dort; in Anbetracht dieser keineswegs von der Natur eingerichteten Gegebenheiten wünschen und wollen alle Beteiligten und jeder für sich, dass die öffentliche, die hoheitliche Gewalt einfach da ist: Da ist zugunsten ihres jeweiligen Durchkommens und ihnen zur Verfügung steht. Das dürfen die Menschen im Land als Rechtsanspruch, als ihr gutes Recht gegen die hoheitliche Gewalt als Schutzmacht geltend machen.

Das lässt sich die hoheitliche Gewalt nicht zweimal sagen. Denn längst schon hat sie als hoheitliche Schutzmacht und Schutzschirm die von ihr eingerichteten existenziellen Gegensätzlichkeiten gesetzlich so geregelt, dass das Durchkommen eines jeden zumindest als Rechtstitel auf die von oben gewährte freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf die persönliche Freiheit und Sicherheit verteidigt sein soll. Auf diese Weise gilt, "die da oben, die wir gewählt haben, die sorgen sich um uns" (J.Gauck), denn: You'll never walk alone. (O.Scholz)

So sind die Menschen im Land tatsächlich nicht nur existenziell auf die höhere Gewalt als Schutzmacht und Schutzschirm ihres lebenslangen Durchkommens faktisch verwiesen: Vielmehr wollen sie in ihrem Schutz- und Sicherheitsbedürfnis diese Schutzmacht auch, die ihnen als Beschützer und Verteidiger ihres Rechts auf Leben, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf körperliche Unversehrtheit und auf die persönliche Freiheit und Sicherheit mit aller Macht und Gewalt beiseite stehen möge. Was, wie gesagt, auch dringend nötig ist in einer existenziell reichlich bedrohlichen und unsicheren Welt.

Allerdings übersehen die Menschen im Land mehrheitlich in ihrer akzeptierten Abhängigkeit von der Schutzmacht, dass diese ihre hoheitliche Schutzmacht eben auch der Schutz-Herr über ihr Leben, über ihre körperliche Unversehrtheit, über ihre persönliche Freiheit und Sicherheit ist - mithin auch über ihr Sterben und ihren Tod.

Die Verteidigung des Durchkommens in der öffentlichen Ordnung durch die hoheitliche Schutzmacht erweist sich als ein gediegens Herrschaftsverhältnis und fällt in eins mit dem Faktum, dass diese Verteidigung, wie so gut alles in dieser Welt, einen gewissen Preis hat: Der wird bezahlt damit, dass dem Schutzherrn Leben, Unversehrtheit, persönliche Freiheit und Sicherheit, das Sterben und der Tod der Menschen im Land zur freien Verfügung steht: als frei verfügbare Dispositionsmasse ihres hoheitlichen Verteidigers. Dass die Menschen im Land mit dem ihnen gewährten Rechtsanspruch auf Verteidigung ihres Durchkommens die hoheitliche Gewalt wollen, ihre Unterwerfung unter die hoheitliche Schutzmacht besiegeln und insgesamt deshalb glauben, nur um ihretwillen sei die Schutzmacht da und eingerichtet - und nicht umgekehrt: Das ist die eine Seite der Illusion über die Verteidigung ihres Durchkommens.

Aus diesen Irrtum, aus dieser Illusion, der hoheitliche Verteidiger ihres Durchkommens sei ihretwegen da folgt der Schluss, der zugleich die definitive Parteinahme für die Schutzmacht als Verteidiger des Durchkommens bedeutet: Je stärker, mächtiger, souveräner und durchsetzungsfähiger die Schutzmacht sei, desto mächtiger und gesicherter könne und werde der Schutzherr als Verteidiger des persönlichen Lebens, der Unversehrtheit, der persönlichen Freiheit und Sicherheit fungieren. Also müsse auf jeden Fall und vorbehaltlos für sie Partei ergriffen werden. Die Illusion über die Verteidigung des eigenen, existenziellen Seins und Daseins in Form des Durchkommen-Müssens und -Wollens hat damit eine weitere Gestalt angenommen.

Der Schutzherr und Verteidiger des Durchkommens seiner Menschen im Land seinerseits handelt: Allerdings auf seine eigene Weise und im seinem eigenen, hoheitlichen Interesse - in Friedenszeiten immer schon und im Krieg auf noch ganz andere Art und Weise.

Manfred Henle

Fussnoten:

[1] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt/Main, 1967, Bd.20, Schriften zu Politik und Gesellschaft: 322f.

[2] Niinistö-Report, Safer Together, 30.10.2024, unter: https://commission.europa.eu/document/download/5bb2881f-9e29-42f2-8b77-8739b19d047c_en?filename=2024_Niinisto-report_Book_VF.pdf

[3] J.Gauck, -zdf-Interview, 2.10.2022, unter: https://www.zdfheute.de/video/heute-journal/gauck-deutsche-einheit-100.html

[4] R.Dillmann, Medien. Macht. Meinung. Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit, 2025: 41.

[5] O.Scholz, „You'll never walk alone“, 22.07.2022, unter: https://www.spd.de/aktuelles/detail/news/youll-never-walk-alone/22/07/2022

[6] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art 2, unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_2.html