IAEA-Mission soll die Situation verbessern AKW Saporoschje: Kann IAEA dem 'Wahnsinn' ein Ende setzen?

Politik

Wegen den Artillerieangriffen auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja bereitet die Sicherheitssituation rund um diese Anlage der gesamten Weltgemeinschaft aktuell grosse Sorgen.

Inspektion der IAEA-Delegation im AKW Saporischschja am 2. September 2022.
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Inspektion der IAEA-Delegation im AKW Saporischschja am 2. September 2022. Foto: IAEA Imagebank (CC BY 2.0 cropped)

6. September 2022
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Dass ein AKW von einer der Konfliktparteien offenbar mit voller Absicht unter Beschuss genommen wurde, ist in der Geschichte der Menschheit einmalig und anders als Wahnsinn nicht zu bezeichnen. Um eine nukleare Katastrophe zu verhindern, hat eine Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) den AKW-Standort in der Ostukraine kürzlich besucht.

Als eine der grössten Sorgen, die der Ukraine-Krieg den Menschen bereitet, gilt derzeit die Sicherheitssituation rund um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja im Osten des Landes. Diese seit Anfang März von Russland kontrollierte und weiterhin von ukrainischen Ingenieuren betriebene Anlage befindet sich nur wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt, wo gerade die Kampfhandlungen zwischen den russischen und ukrainischen Streitkräfte wieder in eine aktive Phase übergehen.

Es ist anzumerken, dass das AKW Saporischschja die leistungsstärkste Atomanlage Europas ist, die vor dem Krieg etwa ein Viertel des gesamten Stroms in der Ukraine produziert hatte. Das Kraftwerk befindet sich in der Stadt Energodar und besteht aus sechs Reaktorblöcken, die sich über viele hundert Meter entlang des Kachowkaer Stausees am Unterlauf des Flusses Dnepr ziehen und für eine Leistung von etwa 6.000 Megawatt verantwortlich sind. Gegenwärtig sollen weniger als 70 Prozent der Gesamtleistung erreicht werden, heisst es aus russischen Quellen.

Immenses Sicherheitsrisiko wegen Kriegshandlungen

Das Hauptproblem jedoch stellt aktuell die Gewährleistung der Sicherheit der Anlage dar. Denn es ist hinreichend belegt, dass sowohl die Stadt Energodar als auch das AKW-Gelände immer wieder unter teilweise schweren Artilleriebeschuss geraten waren. Vor allem in den vergangenen Wochen wurde die Lage rund um das Kraftwerk aufgrund von Angriffen zunehmend brenzlig. Im August hatte die russische Seite diesbezüglich dutzende Male Alarm geschlagen und beschuldigte dabei die Ukraine, das AKW wiederholt angegriffen zu haben. Moskau betonte dabei, dass der Beschuss aus der Richtung gekommen sei, in der sich die ukrainischen Truppen befunden hätten. Zudem haben die Russen die in Folge der Attacken gefundenen Überreste von Projektilen als Beweise präsentiert, von denen einige auf US-Munition hinweisen sollen.

Die Ukraine ihrerseits hat Russland beschuldigt, die Atomanlage als Schutzschild für Waffen und Munition sowie als Basis für Angriffe zu nutzen. Zugleich weist Kiew die Vorwürfe Moskaus von sich und behauptet, dass die russischen Truppen selbst das Kernkraftwerk beschossen haben sollen, um den Ukrainern darfür die Schuld zu geben. Dies bedeutet, dass Russland im Grunde seine eigenen Soldaten, die die Anlage kontrollieren, angegriffen hat und damit einen Unfall im AKW in Kauf nahm.

Die westlichen Medien, die erfahrungsgemäss allzu gern die offiziellen Angaben der ukrainischen Behörden und Nachrichtenagenturen verbreiten, melden in diesem Zusammenhang allerdings meist nur rätselhafte Attacken, ohne dabei einen Schuldigen zu benennen.

Dass ein Nuklearkraftwerk in einem Gebiet liegt, wo Kriegshandlungen stattfinden, ist übrigens nicht ungewöhnlich. Aber dass ein AKW von einer der Konfliktparteien offenbar mit voller Absicht (durch schwere Artillerie) unter Beschuss genommen wird, ist in der Geschichte der Menschheit einmalig. Anders als Wahnsinn kann man diesen Umstand, bei dem ein Grossteil Europas einer atomaren Gefahr ausgesetzt wird, nicht bezeichnen.

Angesichts dessen wachsen die Sorgen in der Weltgemeinschaft. Vor allem werden dabei die Erinnerungen an Tschernobyl-Katastrophe wach, die vor mehr als 36 Jahren zum Tod von Tausenden Menschen geführt und ganze Landstriche unbewohnbar gemacht hatte.

IAEA-Mission soll die Situation verbessern

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hatte auch aufgrund der jüngsten Entwicklung rund um das Kernkraftwerk Saporoschje vor einem möglichen Nuklearunfall in der Anlage gewarnt. Der IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi hatte Anfang August erklärt, dass die Lage 'komplett ausser Kontrolle' sei und dass 'jeder Grundsatz der nuklearen Sicherheit' verletzt worden sei. Er rief Russland und die Ukraine dazu auf, Experten Zugang zum AKW zu ermöglichen, um es vor einer Katastrophe zu bewahren.

Moskau hatte sich in dieser Frage aber von Anfang an für eine Beteiligung der IAEA eingesetzt und drängte die Behörde nach den ersten Angriffen auf das Kraftwerk darauf, den Standort des Kraftwerks besuchen und sich ein klares Bild über den Zustand der Reaktoren und die Situation vor Ort zu machen.

Kiew hat der Mission der Atombehörde zwar ebenfalls zugestimmt, bereitete der Delegation zu Beginn der Reise zum Kernkraftwerk Ende August jedoch einige Schwierigkeiten. Unter anderem wurden die Experten am Kontrollpunkt im Gebiet Saporischschja am 31. August für mehrere Stunden aufgehalten, weil sie von ukrainischen Sicherheitsleuten nicht sofort durchgewunken wurden und stattdessen warten mussten. Darüber hinaus hat die ukrainische Armee etwa zur gleichen Zeit den Versuch unternommen, das AKW militärisch unter ihre Kontrolle zu bringen. Das Landungsunternehmen scheiterte offenbar relativ schnell, wie das russische Verteidigungsministerium behauptet.

Die IAEA-Delegation unter Leitung von Rafael Grossi war am gleichen Tag in der Energodar und kurz darauf schliesslich in der Atomanlage eingetroffen. Nach der Inspektion erklärte Grossi vor Ort, dass er alles gesehen habe, was er sehen wollte. Er konstatierte, dass Schäden durch mehrfachen Beschuss der Anlage enstanden seien, unklar bleibe aber, ob das AKW absichtlich oder zufällig angegriffen worden sei. Zudem wollte Grossi den Verursacher nicht beim Namen nennen.

Festzustellen, wer für die Angriffe verantwortlich ist, ist aber auch nicht die Aufgabe der internationalen Inspektoren. Es geht ihnen stattdessen darum, bestimmte technische Aspekte klarzustellen und ein Urteil über den Zustand der Anlage zu treffen, um die Sicherheitslage selbst einschätzen können.

Nach dem Besuch der ukrainischen Nuklearanlage hat Grossi ein teils positives Fazit gezogen, wie der Tagesspiegel berichtet. Trotz Schäden funktionierten wichtige Sicherheitselemente wie die Stromversorgung des Kraftwerks, sagte der Experte. Ihm zufolge klappt auch die Zusammenarbeit zwischen der russischen Seite und dem ukrainischen Personal auf professioneller Ebene einigermassen. Seine grösste Sorge aber bleibe, so Grossi, dass das Atomkraftwerk durch weiteren Beschuss schwer beschädigt werden könnte.

Laut dem Tagesspiegel erwartet der IAEA-Leiter eine genaue Analyse der Sicherheit des Kraftwerks durch die vor Ort verbliebenen Experten im Laufe dieser Woche. Dafür sollen zwei Mitarbeiter auch bis auf Weiteres vor Ort bleiben und dazu gibt es aktuell die Zustimmung der Ukraine und Russlands.

Die Ankunft der Delegation scheint zunächst eine erste Wirkung gehabt zu haben. Die russische Seite hatte am Donnerstag mitgeteilt, dass es in der Umgebung des Kraftwerks während des Aufenthalts der IAEA-Delegation keinen Beschuss gegeben habe. In den beiden darauffolgenden Tagen soll es aber wieder zu Angriffen gekommen sein. Ungeachtet einiger positiver Tendenzen bleibe die Lage vorerst realitv schwierig, heisst es.

Wie geht es weiter?

Solange der Frontverlauf sich nicht ändert und die Kampfhandlungen weiterhin nahe Energodar stattfinden, bleibt ein Sicherheitsrisiko für das AKW bestehen, unabhängig davon, wie erfolgreich die IAEA-Mission verlaufen wird.

Die russische Seite verweist darauf, dass durch Angriffe nicht nur die Gefahr einer Explosion, sondern auch die Gefahr einer Überhitzung des Kraftwerks erhöht wird. Falls nämlich die Reservedieselgeneratoren und mobile Pumpen in einer Notsituation ausfallen und sich die Kühlsysteme für den nuklearen Abfall anschliessend abschalten sollten, dann würde es zu einer Überhitzung der Reaktoren kommen und es drohten Strahlungslecks. Die Folgen wären katastrophal und kaum auszudenken.

Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass ein modernes Atomkraftwerk über zahlreiche Schutzvorkehrungen verfügt, weshalb Experten einen Zwischenfall im AKW Saporischschja ungeachtet des bestehenden Sicherheitsproblems für unwahrscheinlich halten. Grund zur Beruhigung liefern auch die Strahlungswerte, die rund um die Anlage regelmässig gemessen werden. Nach offiziellen Angaben sollen bislang keine Überschreitungen festgestellt worden sein.

Alexander Männer