Über aufgeklärten Katastrophismus und Analphabet*innen der Angst Worst-Case-Szenarien II
Politik
„Gewalt gegen Gewalt funktioniert nicht. Sie dürfen den Krieg gar nicht erst anfassen, denn er ist infektiös wie ein Virus.“ Alexander Kluge


Schulklasse vor einer Replica der Atombombe «Fatman» in einem Museum von Nagasaki, April 2019. Foto: OKJaguar (CC-BY-SA 4.0 cropped)
Dieses interne Papier wurde von einem bislang anonym gebliebenen Expertenteam aus Virologen, Epidemiologen, Medizinern, Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern mit dem Ziel erarbeitet, unterschiedliche Szenarien der Ausbreitung des Coronavirus zu analysieren, unabhängig von ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit. Falls nichts unternommen werde, rechne man mit „über einer Millionen Toten im Jahr 2020 – für Deutschland allein.“ Insofern sei 1.) der „Worst Case (.) mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich, entschlossen und transparent zu verdeutlichen“; 2.) die „Vermeidung des Worst Case (.) als zentrales politisches und gesellschaftliches Ziel zu definieren“; und 3.) den Bürger*innen klar zu machen, „dass folgende Massnahmen nur mit ihrer Mithilfe zu ihrem Wohl umgesetzt werden müssen und können.“ (2)
Bei den Kritiker*innen war damals von Panikmache die Rede. Viele, auch ich, stiessen sich an der formulierten Absicht, mittels drastischer Schilderungen – von den Krankenhäusern abgewiesene Schwerkranke sterben „qualvoll um Luft ringend zu Hause“, Kinder bringen ihre Eltern ins Lebensgefahr, „weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen“ usw. – eine „Schockwirkung“ (3) erzielen zu wollen, um Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung für die ergriffenen Massnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehen herzustellen.
Der aufgeklärte Katastrophismus im Sinne Dupuys besteht genau in dieser Schockwirkung, in einem negativen Gesellschaftsentwurf, „der die Form eines fixen Zukunftsbilds annimmt, das man nicht will“ (4). Dieser Entwurf muss katastrophal genug sein, um abstossend zu wirken, und glaubwürdig genug, um zum Handeln zu bewegen. Insofern muss die geringe Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr in eine Gewissheit verwandelt werden, man muss, wie Dupuy empfiehlt, vom schlimmsten Szenario ausgehen, „um den maximalen Schaden auf ein Minimum zu reduzieren“, damit das Unaufhaltsame nicht eintrifft. (5) Die Voraussage zeitigt selber Wirkung – jene nämlich, sich selbst zu dementieren.
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Kürzlich wurde der Gesundheitsminister bei Lanz in die Mangel genommen, nach dem üblichen 4-gegen-1-Prinzip (den Moderator eingerechnet). Markus Grill warf Lauterbach vor, sich einer „Rhetorik der Angst“ bedient zu haben, als er etwa am 18. April 2021 folgenden Tweet postete:
„Es gibt jetzt die Möglichkeit, in den nächsten 6 Wochen noch einmal weit über 10.000 Menschen meist im Alter von 40-60 J zu retten, mit letztem strengen Lockdown. Oder sind wir dafür nicht bereit, weil uns die Einschränkungen 10.000 Tote nicht wert sind. Dann hätten wir versagt.“
Der Lockdown blieb aus. Nach sechs Wochen informierte sich der Chefreporter beim Robert-Koch-Institut: Es waren in Wirklichkeit „nur“ 700 Tote. Sein Fazit: „Ich finde es sowieso eine relativ schlechte Art (…) zu kommunizieren, ein Arzt nimmt Patienten eigentlich unbegründete Ängste. Und ich finde auch ein Politiker sollte nicht mit Ängsten operieren, die möglicherweise auf sehr wackligen Beinen stehen.“
Lauterbach verteidigte die Prognose, berief sich auf die ihm damals vorliegenden „hochkomplexen Modellrechnungen“ renommierter Wissenschaftler wie Michael Meyer-Hermann und Viola Priesemann, die – wie Grill sofort einwarf – „oft kolossal danebenlagen“.
So funktioniere Wissenschaft, entgegnete Lauterbach, und verwies später auf das „Präventionsparadox“. Gegenüber Heribert Prantl wurde er in seiner Verteidigung grundsätzlicher:
„Was ich wirklich ablehne und falsch finde, dass also eine Warnung vor dem, was wirklich stattfinden kann – schwere Erkrankung, Todesfolge, Long Covid usw. –, (...) dass man das im Nachhinein als eine Panikmache abtut“. (6)
Man kann Lauterbach vieles vorwerfen, – eines aber nicht: Die Pandemie wie Trump oder Bolsonaro bagatellisiert zu haben. Er wirkt tatsächlich ein wenig wie der Unglücksprophet aus Günther Anders Parabel „Die beweinte Zukunft“, an Noah, den einsamen Rufer in der Wüste, der für seine Botschaft auf die Zeitform der vollendeten Zukunft zurückgreifen musste.
Zunächst ist es natürlich richtig, dass die Datenlage bezüglich der getroffenen Corona-Massnahmen mangelhaft war. Der vom Bundestag beauftragte Bericht des Corona-Sachverständigenrates vom Juli 2022 hat längst bestätigt: „Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Massnahmenstärke nicht erkennbar.“ (7)
Doch indem wir das wissenschaftliche Nichtwissen betonen, schreibt Jean-Pierre Dupuy (8), gerät die Katastrophe aus dem Blick und hält uns davon ab, verantwortlich zu handeln.Die grösste Schwierigkeit besteht in unserer Unfähigkeit zu glauben, dass der schlimmste Fall tatsächlich eintreten wird. Je grösser die Katastrophen erscheinen, für um so unwahrscheinlicher werden sie gehalten, bevor sie eintreten, doch um so selbstverständlicher erscheinen sie, sobald sie eingetreten sind – eine Erfahrung, auf die bereits Henri Bergson im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg hingewiesen hat.
„Trotz meines Schockes, und meines Glaubens, dass ein Krieg selbst im Fall eines Sieges eine Katastrophe wäre, fühlte ich (…) eine Art von Bewunderung für die Leichtigkeit, mit der der Wandel vom Abstrakten zum Konkreten vonstatten ging: Wer hätte gedacht, dass eine so ehrfurchtgebietende Möglichkeit mit so wenig Aufhebens in die Wirklichkeit eintreten würde? Dieser Eindruck von Einfachheit überwog alles.“ (9)
„Katastrophen zeichnen sich durch eine in einem gewissen Sinne inverse Zeit aus“, schlussfolgert Dupuy. „Als ein Ereignis, das aus dem Nichts hervorbricht, wird die Katastrophe möglich nur durch ihre „Selbstermöglichung“ (um einen Begriff Sartres zu verwenden, der in diesem Punkt ein Schüler Bergsons war). Und das ist genau die Quelle unseres Problems. Wenn man einer Katastrophe vorbeugen will, dann muss man an ihre Möglichkeit glauben, bevor sie eintritt. Wenn es andererseits gelingt ihr vorzubeugen, dann versetzt ihr Nichteintreten die Katastrophe ins Reich des Unmöglichen und die Vorsichtsmassnahmen werden im Nachhinein als sinnlos angesehen.“ (10)
Wer sich heute angesichts des Kriegs in der Ukraine vor einer möglichen Eskalationsdynamik fürchtet, die sich bis hin zum Einsatz taktischer Atomwaffen erstreckt, wird von Expert*innen dahingegen beruhigt, bloss einem Putinschen Narrativ aufzusitzen. Florence Gaub sagt etwa bei Maischberger:
„Ich tue mich ein bisschen schwer mit diesem Worst Case Szenario, was hier davongaloppiert mit uns. Wenn wir von Atomwaffen reden, reden wir immer über ein superhypothetisches Szenario. Sie sind nur einmal beziehungsweise zweimal, aber in ganz kurzer Zeit hintereinander, zum Einsatz gekommen. Die ganze Literatur zum Thema Abschreckung sagt, die Hauptfunktion ist, dass man damit drohen kann. Und das macht Putin die ganze Zeit. Und hier in Deutschland funktioniert das tatsächlich sehr gut.“ (11)
Es funktioniert sogar so gut, dass Prof. Dr. Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, den Deutschen eine psychische Krankheit namens „Eskalationsphobie“ attestieren zu müssen glaubt:
„Von aussen betrachtet, ist die Berliner Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine von einer Angst vor Eskalation beherrscht, die in kaum einem anderen Land des Westens in dieser Intensität so zu beobachten ist. Während in anderen Hauptstädten mehr und mehr überlegt wird, welche Waffensysteme die Ukrainer benötigen, um die nächste russische Offensive abzuwehren oder um die russischen Truppen gar aus dem Land zu vertreiben, dreht sich die deutsche Debatte in geradezu hektischer Weise darum, wie man jede Eskalation vermeiden kann, weil sonst der dritte Weltkrieg ausbricht. Dabei ist es Russland, das in der Ukraine eskaliert, weil es dort unbedingt gewinnen will. Und ohne Bereitschaft des Westens, diese Eskalation mit einer überlegten, stufenweisen Gegen-Eskalation zu beantworten, wird es keinen Frieden in der Ukraine geben.“ (12)
Das ist ein klarer Fall von „Apokalypse-Blindheit“ (Günther Anders). Was kann man diesen – nochmals Günther Anders – „Analphabeten der Angst“ entgegnen?
Sich vor allem nicht so sicher zu sein, was Putin nun will oder nicht will, was er letztlich tun oder nicht tun wird. Wir wissen nicht, ab wann für ihn die rote Linie überschritten sein wird, welche „Gegen-Eskalation“, ob dies nun Panzer- oder Kampfjetlieferungen an die Ukraine sind, zum Einsatz taktischer Atomwaffen führen könnte. Dieses Wissen ist keinem Standardwerk über den Kalten Krieg oder Modellrechnungen atomarer Bedrohungsszenarien zu entnehmen. Es aufgrund dieser Ungewissheit einfach darauf ankommen zu lassen, wäre fatal; dann verhielte man sich in der Tat so, „als ob die Katastrophe selbst die einzige faktische Grundlage dafür bilden würde, die Katastrophe prognostizieren zu können.“ (13)
Folglich muss diese prinzipielle Ungewissheit – das ist das „Aufgeklärte“ an Dupuys Katastrophismus – in eine Gewissheit verwandelt und vom schlimmsten anzunehmenden Fall ausgegangen werden, um diesen verhindern zu können.
Ansonsten wird es übermorgen zu spät sein.
Fussnoten:
(1) „Worst-Case-Szenarien“ 07.02.2021: https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/gesellschaft/coronavirus-worst-case-szenarien-6245.html
(2) https://fragdenstaat.de/dokumente/4123-wie-wir-covid-19-unter-kontrolle-bekommen/, S.1.
(3) https://fragdenstaat.de/dokumente/4123-wie-wir-covid-19-unter-kontrolle-bekommen/, S. 13.
(4) Dupuy zit. Walter Francois: Katastrophen: eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Reclam Verlag: Stuttgart 2010, S. 274f. Die beiden Werke von Jean-Pierre Dupuy, die sich diesem Thema widmen – Pour un catastrophisme éclairé. Quand l'impossible est certain, Seuil: Paris 2004 und Petite métaphysique des tsunamis, Seuil: Paris 2005 –, wurden noch nicht ins Deutsche übersetzt. Dupuy hat inzwischen über andere Katastrophen publiziert: La guerre qui ne peut pas avoir lieu: essai de métaphysique nucléaire, Desclée de Brouwer: Paris/Perpignan 2018 und La catastrophe ou la vie: pensées par temps de pandémie, Seuil: Paris 2021.
(5) Dupuy zit. n. Francois a.a.O., S. 274.
(6) Markus Lanz vom 9. Februar 2023. Zu Gast: Politiker Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte Markus Grill, Ärztin Dr. Agnes Genewein und Journalist Heribert Prantl. ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-9-februar-2023-100.html
(7) Evaluation der Rechtsgrundlagen und Massnahmen der Pandemiepolitik. Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 IFSG: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/S/Sachverstaendigenausschuss/220630_Evaluationsbericht_IFSG_NEU.pdf, S. 70.
(8) Vgl. Jean-Pierre Dupuy: „Aufgeklärte Unheilsprophezeiungen. Von der Ungewissheit zur Unbestimmbarkeit technischer Folgen“. In: Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.): Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt. Transcript Verlag: Bielefeld 2005, S. 81–102, hier: 93.
(9) Bergson zit. n. Dupuy a.a.O., S. 94.
(10) Dupuy a.a.O., S. 94f.
(11) Erich Vad und Florence Gaub: Wie der Ukraine-Krieg beendet werden könnte. 22.02.2023. ARD-Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/maischberger/erich-vad-und-florence-gaub-wie-der-ukraine-krieg-beendet-werden-koennte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL21lbnNjaGVuIGJlaSBtYWlzY2hiZXJnZXIvMTRiZTE5MGUtMTk5Yy00YTM2LTllMjMtZjllZjQ2NzM1NzZh
(12) Joachim Krause. „Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 7. Februar 2023.
(13) Dupuy a.a.O., S. 93.