Die Schleyer-Entführung durch die RAF Herbst 1977 oder 40 Jahre «Freiheit und Terror»

Politik

Die RAF entführt Hanns Martin Schleyer. Eine «konservative» Analyse bleibt überzeugender als linke Distanzierungen. Ein Essay.

Ein Tonband des Südwestrundfunks (SWR) in Stuttgart enthält archivierte Originaltöne aus dem «Deutschen Herbst» 1977, u.a. mit einem Bericht über die Entführung von Hanns Martin Schleyer und dem Mitschnitt einer Pressekonferenz des Rechtsanwalts Otto Schily zum Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe in Stuttgart
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Ein Tonband des Südwestrundfunks (SWR) in Stuttgart enthält archivierte Originaltöne aus dem «Deutschen Herbst» 1977, u.a. mit einem Bericht über die Entführung von Hanns Martin Schleyer und dem Mitschnitt einer Pressekonferenz des Rechtsanwalts Otto Schily zum Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe in Stuttgart Foto: Maximilian Schönherr (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

14. September 2017
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Am 5. September vor vierzig Jahren überfiel in Köln ein «Kommando» der RAF die Dienstfahrzeuge des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und seiner Bewacher. Schleyer wurde entführt, seine vier Begleiter mit unzähligen Schüssen aus automatischen Waffen getötet. In einem Bekennerschreiben am Tag nach der Entführung konfrontierten die Entführer die Regierung der Bundesrepublik Deutschland mit der Forderung, die im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim gefangenen RAF-Mitglieder der «ersten Generation», Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Irmgard Möller sowie sieben weitere RAF-Häftlinge im Austausch gegen den Arbeitgeberpräsidenten freizulassen.

«Offensive 77»

Die Schleyer-Entführung war der Endpunkt der von der RAF im Frühjahr erklärten «Offensive 77» zur Befreiung der Gefangenen. Im April hatte sie mit der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und seiner Begleiter begonnen; im Oktober, mit der Kaperung einer Lufthansa-Maschine durch ein palästinensisches Kommando zur Unterstützung der RAF-Forderungen, wurde sie zum internationalen Drama. Doch der von Kanzler Helmut Schmidt (SPD) präsidierte «Grosse Krisenstab», in dem alle Parteien vertreten waren, gab nicht nach; am 18.10. wurden die Geiseln auf dem Flughafen von Mogadischu von einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes befreit, in Stammheim nahmen sich Baader, Ensslin und Raspe das Leben, Möller überlebte schwer verletzt. Am 19.10. wurde die Leiche von Hanns-Martin Schleyer in Mühlhausen gefunden. Die RAF schwor zwar, «der Kampf» habe «erst begonnen», doch «Mogadischu» war ihre entscheidende Niederlage.

Der Zufall der Publikationstermine wollte es, dass fristgerecht zu diesen Ereignissen im Merkur (Nr. 352) der Aufsatz «Freiheit und Terror» des in Zürich lehrenden, als konservativ geltenden Philosophen (und des zeitweiligen SPD-Mitglieds) Hermann Lübbe erschien. Lübbe erinnerte daran, dass das Verhältnis von Freiheit und Terror vor bald zweihundert Jahren nicht zuletzt jene deutschen Philosophen und politischen Literaten beschäftigt hatte, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ebenso atemlos wie fasziniert die revolutionären Vorgänge in Frankreich – und speziell der «grande terreure» der Jakobiner gegen die «Feinde der Republik» 1793/94 – beobachteten. Seither lässt sich, so Lübbe, mit einiger Präzision die Frage stellen: Was ist Terror? Woher bezieht er seine Kraft und woher seine Legitimation? Und wieso waren die Freunde der Freiheit immer wieder vom Terror fasziniert, obwohl sie seine konkrete «Faktizität» verabscheuten?

«Terror ist eine Praxis, die ihre Legitimität unmittelbar aus unseren höchsten Zwecken bezieht»

Lübbe gab eine Antwort, die über die übliche Definition – Terror ist demonstrative Gewalt zur Erreichung politischer Ziele – hinausging und zudem allein jener historischen Linie folgte, die von der bürgerlichen Revolution zum aktuellen Revolutionsanspruch der Linken verlief (d.h. er sprach nicht über den anders funktionierenden Nazi-Terror). Mit Hegel identifizierte Lübbe den Dreh- und Angelpunkt der Frage, was Terror sei, in der Allgemeinheit des Anspruchs auf Freiheit für alle Menschen. Könnte es etwas Besseres geben, als Freiheit für alle zu wünschen und verwirklichen zu wollen? War nicht der Wunsch nach Freiheit für alle eine Tugend? Und wäre der, der alles tut, um das Erreichen dieses hehren Ziels zu befördern, nicht der Tugendhafteste von allen? Es scheint so. Hegels Antwort (in Lübbes Worten) war daher klar: Erstens, «Terror ist eine Praxis, die ihre Legitimität unmittelbar aus unseren höchsten Zwecken bezieht», d.h. die sich mit Berufung auf die edelsten politischen Ziele zu rechtfertigen weiss. Zweitens ist die subjektive Bedingung des Terrors «das gute Gewissen», mithin die Überzeugung, nicht aus Eigeninteresse oder persönlicher Bösartigkeit heraus zu handeln – was den Terroristen tatsächlich vom gewöhnlichen Kriminellen unterscheidet –, sondern einem anerkannten politischen Ziel zu dienen.

Und drittens, so paraphrasierte Lübbe Hegel: «Die terroristische Praxis ist revolutionäre Praxis» – in ihr verschmelzen und «verflüssigen» sich alle Institutionen. «Sie ist ungeteilte, schlechthin durchgreifende Gewalt», sie übt ihre «Wahrheit und Gerechtigkeit» unmittelbar aus, jenseits aller der Korruption verdächtigen Institutionen, dafür aber im Namen des «Volkes». Mit anderen Worten: «Die Subjektivität des guten Gewisses» wird mit der «Objektivität des absoluten Zweckes der Freiheit» zusammengeschlossen, das individuelle Handeln ist durch die Allgemeinheit und Wahrheit des politischen Ziels immer schon gedeckt.

Doch was hatte das mit den Ereignissen im Jahr 1977 zu tun? Und was wäre die Alternative zu einem politischen Programm, das «terror-anfällig» ist?

Der Mescalero oder die klammheimliche Freude

Die ehrlichste und wohl auch folgenreichste, den Stil der nachfolgenden Debatten prägende Stellungnahme aus dem Feld der mehr oder minder revolutionären Linken zum Terror der RAF erfolgte schon kurz nach dem Mord an Siegfried Buback im April des Jahres 1977. Ein anonymer «Mescalero» schrieb unter dem Titel «Buback – ein Nachruf» in einer Göttinger Studentenzeitung zum «Abschuss von Buback» (das war die Sprache der Jagd auf Tiere) zuerst: «Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen.» Und er gestand, dass «ich auch über eine Zeit hinweg (wie so viele von uns) die Aktionen der bewaffneten Kämpfer goutiert habe; ich, der ich als Zivilist noch nie eine Knarre in der Hand hatte, eine Bombe habe hochgehen lassen.» Der Autor vollzog dann aber im Text die Wendung, zuerst hin zu der eher taktischen Überlegung, dass solche Taten der Linken schaden, um dann doch bei einer deutlichen Ablehnung von terroristischer Gewalt zu enden, allerdings nicht ohne an der scharfen Unterscheidung von Freund und Feind festzuhalten: «Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden. […] Damit die Linken, die so handeln, nicht die gleichen Killervisagen wie die Bubacks kriegen.»

Die Reaktionen auf diesen Text waren heftig (sie können hier nicht weiter verfolgt werden), und die öffentliche Erregung über die terroristische Gewalt der RAF steigerte sich bis zum «Deutschen Herbst» noch erheblich. Die Boulevard-Presse kochte über, Forderungen nach der Todesstrafe wurden laut, und der konservative Historiker Golo Mann fantasierte in der Welt von «einer grausamen und durchaus neuen Art von Bürgerkrieg», in der sich die Bundesrepublik befinde, und er forderte kaum verhüllt, die Grundrechte der RAF-Mitglieder ausser Kraft zu setzen. Mehrheitlich aber wurde von beiden Seiten des politischen Spektrums Besonnenheit angemahnt.

In prominenter Weise verurteilten auch der ehemalige Berliner «Studentenführer» von 1967, Rudi Dutschke, der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll und der marxistische Philosoph Herbert Marcuse in einem Gespräch in der Zeit die Gewalt der RAF. Viele andere Intellektuelle taten es ihnen gleich und verteidigten in einem schnell publizierten, von Freimut Duve im Oktober herausgegebenen rororo-Taschenbuch Briefe zur Verteidigung der Republik (mit einem Foto des Kinderwagens auf dem Titelbild, in dem die RAF die Maschinengewehre für den Überfall auf Schleyer versteckt hatte), die rechtsstaatliche Ordnung – allerdings nicht nur gegen die RAF, sondern auch gegen den, wie Jürgen Habermas sich angesichts des repressiven politischen Klimas und vermehrter Law-and-Order-Rufe ausdrückte, angeblich drohenden «faschistischen Zerfall unserer politischen Kultur».

Für die Revolution, gegen den Terror

So weit, so gut. Dutschke allerdings – in dieser Hinsicht repräsentativ für sehr viele Linke im weiten Feld zwischen ehemaliger Studentenbewegung und Spontis beziehungsweise «Stadtindianern» – hatte in einem kurzen Text in der Zeit vom 23. September zusätzlich festgehalten: «Wir in der Bundesrepublik sind nicht am Beginn [wie in Spanien nach Francos Tod], wir sind viel eher in einer Endphase des bürgerlichen Rechtsstaates, der in einer tiefen Krise steckt.» Das bedeute – im Gegensatz zu einem von Dutschke erwähnten politischen Mord in Spanien –, sich zu den «ausserparlamentarischen und parlamentarischen Möglichkeiten» und gegen den individuellen Terror zu bekennen. Aber das war nur eine taktische Frage in der «Endphase des bürgerlichen Rechtsstaates» und schloss den bewaffneten revolutionären Aufstand in keiner Weise aus.

Dutschke zitierte dazu Che Guevaras Parole «Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams» – sie war der Titel eines kriegerischen Pamphlets Guevaras von 1967, das Dutschke im selben Jahr auf Deutsch herausgegeben hatte –, und betonte auch jetzt, zehn Jahre nach Guevaras Tod, noch ihren «sozialrevolutionären Sinn». Schliesslich nahm er in seinem Zeit-Artikel in Bezug auf Buback dieselbe vieldeutige Differenzierung wie der «Mescalero» vor: «Buback und seine Mitarbeiter sassen an zentralen Stellen, um gesellschaftlich unkontrollierte Macht auszuüben. Sie waren, um mit Marx zu sprechen, ‹gesellschaftliche Charaktermasken›. Entfremdete Menschen – aber Menschen und nicht abzuschiessende Schweine.»

«Schweine» war der verächtliche Terminus technicus, den die RAF für die Repräsentanten des «Systems» benutzte; die Distanzierung war zwingend. Allein, wer der Feind war, den es zu bekämpfen galt, stand für Dutschke und viele andere revolutionär gesinnte Linke der damaligen Zeit dennoch fest. Buback war für ihn ein «entfremdeter Mensch»; das bedeutete im Jargon der Zeit: Ein Mensch, der – wie im Kapitalismus eigentlich alle – auf Grund der gesellschaftlichen Umstände noch nicht zu seiner «Identität» gefunden habe (wie der am 4. August verstorbene populäre Philosoph Ernst Bloch sagte, an dessen Grab Rudi Dutschke gesprochen hatte). Im vorliegenden Zusammenhang hiess das: einer, der die «entfremdenden» Herrschaftsverhältnisse aktiv aufrechterhielt. Das «sozialistische Ziel», die Aufhebung der «Entfremdung», schien damit in normativer Weise eine Wahrheit der Geschichte vorzugeben, die half, mit gutem Gewissen scharf zwischen Freund und Feind zu unterscheiden – wenn nötig auch jenseits rechtsstaatlicher Regeln. Und es gab dem «Sozialisten» daher die Gewissheit, dass auch ein bewaffneter Aufstand gegen den «bürgerlichen Rechtsstaat» grundsätzlich gerechtfertigt wäre. Zwar trage der Terror der RAF dazu bei, so Dutschke in der Zeit, «der bürgerlichen Demokratie den letzten Boden wegzunehmen», jedoch «ohne im Geringsten eine revolutionäre Situation für die Linken und deren Sympathisanten zu schaffen».

Die konservative Antwort

Was sagte Lübbe parallel dazu und gleichzeitig in seinem Aufsatz im Merkur? Er hatte den Terrorismus mit dem radikalen Anspruch identifiziert, der Wahrheit, der Freiheit und der «unentfremdeten Identität» (Lübbe) zum Durchbruch zu verhelfen. Doch konnte dieser Anspruch denn so falsch sein? «Wäre es denn», so paraphrasierte Lübbe den Einwand eines «jemand» – gemeint war Habermas –, «nicht die vollendete Reduktion aller Herrschaft auf die einzig noch verbleibende unmittelbare Herrschaft von Wahrheit und Gerechtigkeit, wenn aller Zwang, dem wir unterliegen, einzig der Zwang zwingender Argumente wäre […]?» Das war das Kernargument von Habermas' Diskursethik; es besagt, dass wir die politischen Diskurse so einrichten müssen, dass nicht irgendwelche Macht sich durchsetzt, sondern nur noch der «zwanglose Zwang des besten Arguments».

Lübbes Einwand war nun grundsätzlich: In Fragen der gesellschaftlichen Regeln und Vorschriften, die uns «zugemutet» werden, gäbe es eben kein «bestes Argument», sondern immer nur beschränkt gute Lösungen. Wer hingegen «Geltungsansprüche» nicht nur für solche Regeln und Gesetze erhebt – denen gegenüber man reserviert bleiben kann, auch wenn man sie befolgt –, sondern gleichzeitig auch den Geltungsanspruch auf deren volle «Wahrheit» und «Gerechtigkeit» erhebt, behaupte, die Wahrheit der Geschichte zu kennen. Aus einer solchen Position müsse er dann die zwingende Anerkennung von kontingenten weltlichen Regeln und Normen ableiten, bis hin zum Recht, im Namen dieser Normen zu töten. Das aber sei, so Lübbe, im Kern terroristisch, ja «totalitär».

Normen, Regeln und Gesetze ohne Wahrheitsanspruch

Natürlich konnte Habermas mit einer solchen Auslegung seiner Diskursethik nicht einverstanden sein, wie sein wütender Beitrag in «Briefe zur Verteidigung der Republik» («Stumpf gewordene Waffen aus dem Arsenal der Gegenaufklärung») zeigt, den er vor allem gegen den ähnlich wie Lübbe argumentierenden «konservativen» Politologen (und SPD-Mitglied) Kurt Sontheimer richtete. Doch die Argumentation von Lübbe und Sontheimer war konsistent, und sie hat sich auch im Denken jener Linken durchgesetzt, die nach 1977 ihre Revolutionsträume aufgegeben haben. Sie lautet im Kern, dass man den Anspruch auf die Geltung kontingenter Normen, Regeln und Gesetze vom Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit trennen muss. Normen und Gesetze entstehen in politischen, rechtsstaatlich gezähmten Kräfteverhältnissen, und sie können nie die «besten» oder «zwingend» sein.

Die Prinzipien von Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit seien hingegen, so Lübbe, normative Ideen, an denen diese Regeln und Gesetze gemessen, von denen aus sie kritisiert werden können und sollen – und die daher nicht mit ihnen identifiziert werden dürfen. Denn sonst werde die Kritik an kontingenten Normen, Regeln und Gesetzen unvermeidlich als Kritik an diesen obersten Prinzipien wahrgenommen. Der Kritiker ist dann als «Feind» des «Volkes», der «Revolution» oder des «Sozialismus» in Lebensgefahr, wie die Geschichte gezeigt hat – und, in einer Volte zurück zu religiösen Prinzipien, gegenwärtig wieder zeigt.

Philipp Sarasin / Infosperber

Philipp Sarasin lehrt Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Er ist Mitbegründer des Zentrums Geschichte des Wissens, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Internetplattform H-Soz-Kult und Herausgeber von Geschichte der Gegenwart. Er kommentiert privat auf twitter.