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Durchsuchungen waren rechtswidrig, Strafverfahren geht trotzdem weiter

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Interview mit RechtstheoretikerIn und Antirep-AktivistIn Detlef Georgia Schulze über die neusten Entwicklungen im Fall Radio Dreyeckland Durchsuchungen waren rechtswidrig, Strafverfahren geht trotzdem weiter

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Politik

Im Januar fanden polizeiliche Durchsuchung bei Radio Dreyeckland (Freiburg / BRD) und zwei Mitarbeitern des Senders statt.

Kriminalpolizeidirektion des Polizeipräsidiums Freiburg. Vermutlich schrieb in dem abgebildeten Gebäude die Kriminalpolizeiinspektion 6 („Staatsschutz“) ihre Strafanzeige gegen zwei Journalisten von Radio Dreyeckland.
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Kriminalpolizeidirektion des Polizeipräsidiums Freiburg. Vermutlich schrieb in dem abgebildeten Gebäude die Kriminalpolizeiinspektion 6 („Staatsschutz“) ihre Strafanzeige gegen zwei Journalisten von Radio Dreyeckland. Foto: © Jörgens.mi (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 20. September 2023
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Lesezeit29 min.
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KorrekturKorrektur
Anlass: Mit einem Artikel auf der Webseite von Radio Dreyeckland soll dieWebseite bzw. der BetreiberInnenkreis der Webseitelinksunten.indymedia.org unterstützt worden sein. Nun wurdendie Beschlüsse des Amtsgerichts Karlsruhe, die den damaligenDurchsuchungen zugrunde lagen, vom Landgericht Karlsruhe für rechtswidrig erklärt.1 Beschluss vom 22.08.2023 zum Aktenzeichen 5 Qs 1/23.

Das Strafverfahren gegen den Autor des Artikels, Fabian Kienert läuft
aber trotzdem weiter.Über diese neuste
Entwicklung in dem Fall sprach ich ein weiteres Mal mit Detlef
Georgia Schulze, der/die das Verfahren auch schon für die
taz-Blogs
und die
Freitag-community
in mehreren Artikeln analysiert hat. Wieder
einmal warnt dgs vor Rechts- und insbesondere Justizillusionen – um
diese zu vermeiden, sei es allerdings notwendig, das geltende Recht
und die herrschende Rechtsprechung zu kennen (statt sich
irgendein Wunsch-Recht auszudenken und dieses einfach als
geltend zu behaupten oder in Gerichtsentscheidungen mehr
reinzulesen als tatsächlich drinsteht).

War Pessismus unangebracht?
Frage: Nach
der Durchsuchung bei Radio Dreyeckland (RDL) hiess es in einer
Presseerklärung
des
Bundesverbands
Freier Radios
(BFR) – zur Untermauerung von Kritik an der
Durchsuchung bei RDL –: „im Jahr 2010 hatte das […]
Bundesverfassungsgericht (BVG) den Grundrechtsrang
der Rundfunkfreiheit, des Redaktionsgeheimnisses sowie der
Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit klargestellt
. Dieses Urteil
wurde vor dem Hintergrund einer Hausdurchsuchung im Jahr 2003 beim
ebenso im BFR organisierten Freien Sender Kombinat (FSK) in Hamburg
gefällt.“
Die Pressemitteilung
Nr. 2/2011 des B
undesverfassungsgerichts
vom 5. Januar 2011
zu der Entscheidung wurde vom BFR im Januar
folgendermassen zitiert:
„Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit
schützt in seiner objektiven Bedeutung die institutionelle
Eigenständigkeit des Rundfunks von der Beschaffung der Information
bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen. Von diesem Schutz
ist auch die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit umfasst, die
es staatlichen Stellen grundsätzlich verwehrt, sich einen
Einblick in die Vorgänge zu verschaffen, die zur Entstehung von
Nachrichten oder Beiträgen führen, die [...] im Rundfunk gesendet
werden. Unter das Redaktionsgeheimnis fallen auch
organisationsbezogene Unterlagen, aus denen sich Arbeitsabläufe,
Projekte oder die Identität der Mitarbeiter einer Redaktion ergeben.
Sowohl die Anordnung der Durchsuchung der Räume [...] als auch [...]
die Mitnahme redaktioneller Unterlagen [...], greifen daher in die
Rundfunkfreiheit ein. Diese Eingriffe sind verfassungsrechtlich
nicht gerechtfertigt.“
Du hattest diese
Art der Zitierung damals als zu optimistisch kritisiert
. –
Warum?

Antwort:
Aufgrund der Auslassungen in dem vorletzten Satz des
Zitates konnte ein unzutreffender Eindruck auch von der
Bedeutung bzw. der Reichweite des letzten Satzes des
Zitates entstehen.

Frage: Was
war Deines Erachtens an diesem Eindruck, der entstehen konnte,
unzutreffend?

Antwort: Es
konnte der Eindruck entstehen, das
Bundesverfassungsgericht habe Durchsuchungen von Redaktionsräume
und die Mitnahme redaktioneller Unterlagen generell für
„verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt“ erklärt. Denn das
BFR-Zitat konnte so verstanden werden, dass sich das „Diese“
in dem letzten Satz des Zitats generell auf die Durchsuchungen von
Redaktionsräumen und die Mitnahme redaktioneller Unterlagen
beziehe. Vollständig lautete der vorletzte Satz, der in der
BFR-Presseerklärung nur mit Auslassungen zitiert wurde, aber
folgendermassen:
„Sowohl die
Anordnung der Durchsuchung der Räume des Beschwerdeführers
als auch die fachgerichtlichen Entscheidungen, die die bild-
und skizzenhafte Dokumentation der Redaktionsräume und die
Mitnahme redaktioneller Unterlagen sowie die Anfertigung von
Ablichtungen hiervon als rechtmässig erachten, greifen daher in die
Rundfunkfreiheit ein.“

(https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2011/bvg11-002.html;
meine Hv.)
Das heisst: Es ging
in der damaligen Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts nicht
generell um Durchsuchungen von Redaktionsräumen und die Mitnahme
redaktioneller Unterlagen, sondern speziell um die „Durchsuchung
der Räume des Beschwerdeführers“ (also des Freien Sender
Kombinats Hamburg) und um die fachgerichtlichen Entscheidungen
in diesem Fall. Nur diese wurden vom
Bundesverfassungsgericht als „verfassungsrechtlich nicht
gerechtfertigt“ bezeichnet.
Zwar stellen auch
alle anderen Durchsuchungen von Redaktionsräumen und jede Mitnahme
redaktioneller Unterlagen Eingriffe in die Rundfunkfreiheit
dar. Aber nicht jeder Grundrechtseingriff ist auch eine
Grundrechtsverletzung. Denn viele Grundrechte sind so weit
gefasst, dass es unvermeidlich ist, bestimmte Eingriffe zuzulassen. So
stehen zum Beispiel die Presse- und Rundfreiheit (in Artikel
5
Absatz 1 Grundgesetz)
gemäss Absatz 2 des gerade genannten Artikels unter dem Vorbehalt
der „allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum
Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“.

Das entspricht der klassischen liberalen Doktrin; diese lautete
nicht: „Keine Eingriffe in Freiheit und Eigentum“, sondern:
Keine Eingriffe in Freiheit und Eigentum ohne Gesetz.“
Es ging also vor allem darum, Eigenmächtigkeiten der Exekutive zu
verhindern und Grundrechtseingriffe von einer parlamentarischen (und
damit – je nach Ausgestaltung des Wahlrechts –: demokratischen)
Legitimation abhängig zu machen.
Und in der Tat gibt
es in der Strafgesetzprozessordnung (StPO) der Bundesrepublik
ausdrücklich Regelungen zur „Beschlagnahme von Verkörperungen
eines Inhalts (§
11
Absatz 3 des
Strafgesetzbuches
), die sich im Gewahrsam dieser Personen [=
Personen mit Zeugnisverweigerungsrecht gem. §
53
Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 StPO]
oder der Redaktion, des Verlages, der Druckerei oder der
Rundfunkanstalt befinden“ – nämlich in §
97
Absatz 5 Satz 1 und 2 StPO.
Wichtig ist dabei Satz 2, während Satz 1 bloss für den sprachlichen
Kontext (also die Verständlichkeit von Satz 2) von Bedeutung ist.
Diejenigen, die dies
leugnen, erzeugen Rechtsillusionen und diejenigen, die den Eindruck
erwecken, das Bundesverfassungsgericht habe trotzdem Durchsuchungen
von Redaktionsräumen und die Mitnahme redaktioneller Unterlagen
generell für „verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt“
erklärt, erzeugen Justizillusionen. Friedrich Engels und Karl
Kautsky warnten am Ende des 19. Jahrhunderts in ihrem Aufsatz
Juristen-Sozialismus1:
„Die Arbeiterklasse, die durch die
Verwandlung der feudalen Produktionsweise in die kapitalistische
alles Eigenthums an den Produktionsmitteln entkleidet wurde und durch
den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise stets in diesem
erblichen Zustand der Eigenthumslosigkeit wieder erzeugt wird,
kann in der juristischen Illusion der Bourgeoisie ihre
Lebenslage nicht erschöpfend zum Ausdruck bringen. Sie kann diese
Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne
juristisch gefärbte Brille in ihrer Wirklichkeit anschaut.“
Frage: Nun
wurden aber auch die Beschlüsse des Amtsgerichts Karlsruhe, die den
Durchsuchung bei RDL und zwei RDL-Journalisten zugrunde lagen, für
rechtswidrig erklärt. Waren also Dein Pessimismus und Deine
Warnung unbegründet?

Antwort:
Nein, denn auch die jetzige Entscheidung ist eine
Einzelfall-Entscheidung, die auf die besonderen Umstände des Falls
abstellt.

Frage: Warum
das? In der Pressemitteilung von Radio Dreyckland (RDL) vom 28.
August 2023 zu dem Beschluss des Landgerichts heisst es: „Das
Karlsruher Landgericht hat mit Beschluss vom 22.08.2023
letztinstanzlich entschieden, dass die Hausdurchsuchungen gegen
Radio Dreyeckland rechtswidrig waren. ‚Die Freiheit der Medien ist
– ebenso wie die Freiheit der Meinungsäusserung und die
Informationsfreiheit – schlechthin konstituierend für die
freiheitliche demokratische Grundordnung', führt das Landgericht
in seinem Beschluss aus und erteilt damit erneut eine juristische
Ohrfeige an die Karlsruher Staatsanwaltschaft und das dortige
Amtsgericht, das die Durchsuchungen ohne ausreichende Prüfungen
durchgewunken hatte.“ Das hört sich doch ziemlich grundsätzlich
(um nicht zu sagen: „fundamental“) an…

Antwort: Ja,
das hört ziemlich grundsätzlich an. Aber das Ergebnis der
Entscheidung folgt nicht unmittelbar aus dem blumigen Satz über die
„schlechthin konstituierend“ Bedeutung der Medienfreiheiten,
sondern aus zwei sehr spezifischen Umständen des Falls „Radio
Dreyckland“, die sich genau so nicht wiederholen werden.
Der zitierte blumige
Satz zu den Medienfreiheiten steht dagegen seit den 1950er Jahren in
Dutzenden von Gerichtsentscheidungen2
– auch solchen, die im konkreten Einzelfall negativ für die
Medienfreiheiten ausgingen. Es handelt sich also oft um eine blosse
Legitimationsfloskel, die zeigen will: ‚Wir haben es uns nicht
leicht gemacht, den Eingriff in z.B. in die Pressefreiheit für
rechtmässig zu erklären. Selbstverständlich besteht in der
Bundesrepublik Pressefreiheit, und sie ist auch wichtig. Aber im hier
zu entscheidenden Fall hat es die Presse nun wirklich zu weit
getrieben.'

Frage: Was
waren denn Deines Erachtens die beiden ausschlaggebenden Gründe
dafür, dass das Landgericht die Durchsuchungsbeschlüsse für den
Fall „Radio Dreyeckland“ für rechtswidrig erklärte – wenn
nicht der von Dir als „blumig“ kritisierte Satz?

Antwort:
Fangen wir vielleicht mit dem ersten Grund an – auf S. 13 seines
Beschlusses schreibt das Landgericht:
„Unabhängig von der Frage des
objektiven Bestehens eines Anfangsverdachts zum Zeitpunkt der
Durchsuchungsbeschlüsse, die die Kammer ausdrücklich offen lässt
(s.o.), leiden die angegriffenen Durchsuchungsbeschlüsse dahingehend
an einem – auch im Beschwerdeverfahren nicht mehr heilbaren –
Mangel, dass das Amtsgericht nicht ausreichend geprüft und dies in
den Beschlussgründen folglich auch nicht dargelegt hat, ob die
zu unterstützende verbotene Vereinigung im Zeitpunkt der
Unterstützungshandlung tatsächlich bestand. Die Anordnung der
Durchsuchungen unter völliger Ausserachtlassung dieser für
die Frage der Strafbarkeit wesentlich mitentscheidenden Frage
macht die Durchsuchungsbeschlüsse rechtswidrig.“ (Hv.
hinzugefügt)
Für eine
realistische Beurteilung des Stellenwertes des
Landgerichts-Beschlusses ist nicht das pragmatische Ergebnis
(„macht die Durchsuchungsbeschlüsse rechtswidrig“), sondern sind
die im Zitat kursiv hervorgehobenen Stellen die entscheidende
Stellen:
  • Das Landgericht
    hat offengelassen, ob (um die Jahreswende 2022/23) objektiv
    ein Anfangsverdacht, der für einen Durchsuchungsbeschluss
    ausreicht, vorhanden war. Das Landgericht sagt also nicht,
    dass es (objektiv) keinen Anfangsverdacht gab und deshalb der
    Durchsuchungsbeschlüsse nie hätte erlassen werden dürfen.
  • Vielmehr rügt
    das Landgericht bloss, dass der Amtsgerichts-Beschluss nicht
    ausreichend
    begründet war. Das heisst: Hätte das
    Amtsgericht seinen Beschluss besser bzw. detaillierter
    begründet – was durchaus möglich gewesen wäre –, dann hätte
    das Landgericht den Beschluss vielleicht nicht für rechtswidrig
    erklärt.
  • Insbesondere
    rügte das Landgericht, dass das Amtsgericht gar nicht auf die Frage
    eingegangen ist, ob die angeblich unterstützte „verbotene
    Vereinigung im Zeitpunkt der Unterstützungshandlung
    tatsächlich“ noch bestand – also überhaupt noch unterstützt
    werden konnte.
Frage: Du
sagst: „Hätte das Amtsgericht seinen Beschluss besser bzw.
detaillierter begründet – was durchaus möglich gewesen wäre
–, dann hätte das Landgericht den Beschluss vielleicht nicht
für rechtswidrig erklärt.“ Wie hätte denn eine solche „bessere“
Begründung aussehen können?
Antwort: Das
Amtsgericht hätte z.B. zur Frage des Fortbestands der Vereinigung
das schreiben können, was später das Oberlandesgericht in seinem
Eröffnungsbeschluss geschrieben hat: Dass die
(Wieder-)Veröffentlichung des linksunten-Archivs zumindest den
Anfangsverdacht (das Oberlandesgericht sagt sogar: den hinreichenden
Verdacht für die Eröffnung des Hauptverfahrens) einer Fortexistenz
der Vereinigung begründet.
Ich hatte mich
jedenfalls schon 2020 gewundert, dass kein Ermittlungsverfahren wegen
der (Wieder-)Veröffentlichung des Archivs bekannt wurde und dass es
auch lange (bis 2022) dauerte, bis ich von einem Ermittlungsverfahren
gegen mich selbst wegen meiner Archiv-Spiegelung hörte. (Angeklagt
wurde ich im übrigen immer noch nicht…)

Frage: Was
ist denn der Unterschied zwischen einem „Anfangsverdacht“ und
einem „hinreichenden Verdacht“?

Antwort: Ein
hinreichender Tatverdacht ist ein deutlich stärkere Verdachtsgrad
(überwiegende Wahrscheinlichkeit der Verurteilung); dieser
Verdachtsgrad ist für Anklageerhebung und Eröffnung des
Hauptverfahrens notwendig.
Ein blosser
Anfangsverdacht genügt für die Eröffnung eines
Ermittlungsverfahrens und auch für Durchsuchungsbeschlüsse.
Schliesslich gibt es
– als stärksten Verdachtsgrad – noch den „dringenden
Tatverdacht“, der unter anderem für Haftbefehle erforderlich ist.3

Frage: Das
Landgericht hatte doch im Juni einen hinreichenden Tatverdacht
verneint und die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Wie kann
es denn da sein, dass es jetzt die Frage offen lässt, ob es einen
Anfangsverdacht gab? Hätte es den nicht konsequenterweise
verneinen müssen?

Antwort: Zum einen aus dem gerade schon erläuterten
Grund, dass ein Anfangsverdacht ein geringerer
Verdachtsgrad als ein hinreichender Tatverdacht ist; und zum
anderen
vielleicht, weil das Oberlandesgericht im Juni sogar
den hinreichenden – also: stärkeren – Tatverdacht bejahte.
Es kann also zumindest durchaus sein, dass das Landgericht den
Anfangsverdacht für nicht gegeben hält, aber die Frage
offengelassen hat, um sich nicht – ohne, dass es irgendeinen
praktischen Nutzen gehabt hätte – beim Oberlandesgericht
unbeliebt zu machen und um nicht für das anstehende Hauptverfahren
(für das dieselbe Landgerichts-Kammer zuständig ist) als befangen
dazustehen.
„im hiesigen Fall bestehenden Sonderproblematik
milderer Massnahmen“

Frage: Kannst
Du nun bitte noch den zweiten Grund dafür, dass das Landgericht die
Durchsuchungen für rechtswidrig erklärt hat, nennen?

Antwort: Ja,
der zweite Grund befindet sich auf S. 23 ff. des Beschlusses und ist
ein blosses Verhältnismässigkeits-Argument: „Ganz wesentlich für
die Frage der Verhältnismässigkeit war die widersprüchliche
Behandlung etwaiger gegenüber den Durchsuchungen milderer
Mittel durch die Ermittlungsbehörden.“
Das Landgericht
nennt dann zwei Gesichtspunkte, unter denen das Vorgehen der
Ermittlungsbehörden widersprüchlich war:
  • Zum einem
    – ganz klar: Milder, als eine Durchsuchung zu machen, um
    herauszufinden, welche Person den Artikel geschrieben hat, ist
    die Beschuldigten einfach zu fragen, welche Person den Artikel
    geschrieben hat.
    Nun muss das Mittel
    – wenn es relevant sein soll – nicht nur milder, sondern auch
    gleich geeignet sein, wie das schärfere Mittel oder darf die
    Möglichkeit, das schärfere Mittel später noch anwenden zu
    können, zumindest nicht konterkarieren. Mit einer blossen Befragung
    ist allerdings die Gefahr einer Konterkarierung verbunden:
    Die Beschuldigten erfahren durch die Befragung von dem
    Ermittlungsverfahren – und nutzen die Information eventuell,
    um Beweismittel zu vernichten.
    Der ‚Witz' an
    der Sache ist nun: In dem Fall „Radio Dreckland“ sind die
    Ermittlungsbehörden dieses Risiko eingegangen; sie hatten die
    beiden Beschuldigten schon im Sommer 2022 vorgeladen4;
    die Durchsuchungsbeschlüsse wurden aber erst im Dezember 2022
    erlassen und im Januar 2023 genutzt. Konnte nun überhaupt noch
    etwas Interessantes gefunden werden? Oder wurde gerade das Mittel
    „Durchsuchung“ – durch Monate der Gelegenheit, Beweismittel zu
    vernichten – zu einem ungeeigneten Mittel?
    Nun mag gesagt
    werden: Vielleicht wurde die Gelegenheit ja nicht genutzt und
    das Mittel „Durchsuchung“ war also noch geeignet…
  • Kommen wird
    daher zu dem zweiten Gesichtspunkt: Beide Beschuldigten leisteten
    der Vorladung keine Folge, aber einer von beiden stellte einen
    Antrag auf Akteneinsicht. Dieser blieb erst lange in der
    Bürokratie hängen und wurde erst im Dezember dem zuständigen
    Staatsanwalt vorgelegt:
    „Ausweislich des Vermerks vom
    19.12.2022 wurde es [das Akteneinsichtsersuchen] dem ermittelnden
    Staatsanwalt der Staatanwaltschaft Karlsruhe […] am 09.12.2022
    vorgelegt. Von diesem wurde ferner vermerkt, dass das
    Akteneinsichtsersuchen zurückgestellt wurde, ‚um den
    Erfolg der für den 17.01.2023 beabsichtigten
    Durchsuchungsmassnahmen nicht zu gefährden.'
    “ (S. 24;
    Hv. hinzugefügt)
    Damit (mit dem
    Zitat im Zitat) sind wir also bei dem nächsten ‚Witz': Durch
    die Vorladungen war der Ermittlungserfolg der
    Durchsuchungsmassnahmen längst gefährdet…
    An dieser Stelle
    hakt das Landgericht ein und sagt: Es wäre – in Anbetracht des eh
    schon gefährdeten Ermittlungserfolgs – milder, aber nicht weniger
    geeignet gewesen, zunächst dem Akteneinsichtsantrag
    stattzugeben, und es dann noch mal mit einer Befragung zu versuchen:
    „Die Ermittlungsbehörden hatten sich
    am Anfang der Ermittlungen – trotz der vor allem in diesem
    Zeitpunkt möglichen Verschlechterung der Beweislage – bewusst für
    ein offenes Vorgehen entschieden und beide Beschuldigten zur
    Vernehmung geladen. Daraus muss geschlussfolgert werden, dass
    zunächst auf diesem Wege die weitere Erforschung des Sachverhalts
    erfolgen sollte. Wieso dann aber vier Monate später durch
    Bearbeitung des Akteneinsichtsersuchens – etwa durch
    Kontaktaufnahme und Erläuterung der Verdachtslage – auf
    einmal der Erfolg der Durchsuchungen gefährdet worden wäre,
    kann nicht nachvollzogen werden.“ (S. 25)
    In diesem
    Zusammenhang war wichtig: Nicht nur der Akteneinsichtsantrag blieb
    lange Zeit in der Bürokratie hängen, sondern auch schon die
    Vorladung im Sommer war verunglückt:
    „Ausweislich der bei den Akten
    befindlichen Ladungen vom 03.08.2022 zu polizeilichen
    Beschuldigtenvernehmungen stand darin lediglich: ‚im
    Ermittlungsverfahren wegen Verstoss gegen §
    20
    Abs. 1 VereinsG
    ist beabsichtigt, Sie als Beschuldigten zu hören.' […].
    Es war einerseits lediglich der juristisch nicht korrekte Tatvorwurf
    ‚Verstoss gegen § 20 Abs. 1 VereinsG' [korrekt gewesen wäre
    vielmehr: §
    85
    bzw. ggf. §
    86 StGB
    ] genannt, andererseits waren weitere Angaben – etwa
    zur Tathandlung (Artikel auf D[reyeckland].-Online) und zur
    Tatzeit (ab 30.07.2022) unterblieben. Es wäre daher bereits
    deshalb fraglich, ob allein wegen des Nichterscheinens und
    Nichtreagierens auf eine Ladung in dieser Form hin von einer
    mangelnden Kooperations- bzw. Aussagebereitschaft und damit dem
    Scheitern dieser milderen Massnahme ausgegangen werden könnte.“
    (S. 24)
    Die Gewährung der
    beantragten Akteneinsicht hätte also – so das Landgericht – als
    Gelegenheit genutzt werden können, den Beschuldigten zu sagen,
    worum es genau geht – und dann hätten die Beschuldigten
    vielleicht auch gesagt, welche Person den Artikel geschrieben hat –
    das Kürzel „FK“ steht ja eh unter dem Artikel; und aus Anlass
    der Durchsuchungen hat Fabian Kienert dann ja auch tatsächlich
    bestätigt, den Artikel geschrieben zu haben.
Es dürfte allen
klar sein, da
ss dies eine sehr spezifisches
Konstellation war, die sich
genau so
nie wiederholen wird.
Das heisst: Auf das Ergebnis der
landgerichtlichen Verhältnismä
ssigkeit-Abwägung
im Fall „Radio Dreyeckland“ lässt sich für künftige Verfahren
nichts gründen. – Das Landgericht selbst
spricht von einer „im hiesigen Fall bestehenden Sonderproblematik
milderer Massnahmen“:
„Bei der
dargestellten Tatschwere des in Rede stehenden Delikts, der
Verdachtslage und der im hiesigen Fall bestehenden Sonderproblematik
milderer Massnahmen wäre es geboten gewesen, eine erneute Vernehmung
des vormals Mitbeschuldigten R. – nach entsprechender genauerer
Unterrichtung vom Vorwurf – zu versuchen, bevor
Durchsuchungsmassnahmen mit den dargelegten Eingriffen in die Presse-
bzw. Rundfunkfreiheit vollzogen werden, die ohne Kenntnis des
Richters von der Reaktion [= Akteneinsichts-Antrag] des nach §
18 MStV
verantwortlichen Beschwerdeführers R. richterlich
angeordnet worden sind.“ (S. 26)

Frage: Hat
denn die jetzige Entscheidung des Landgerichts zu den Durchsuchungen
Einfluss auf das weitere Strafverfahren gegen Fabian Kienert?

Antwort:
Nein, denn das Ziel der damaligen Durchsuchungen war herauszufinden,
welche Person den inkriminierten Artikel geschrieben hat. Da
sich Fabian Kienert im Zuge der Durchsuchungen als Autor des Artikels
bekannt und die Polizei auch hat entsprechende screen
shots
anfertigen lassen, kommt es insoweit auf weitere
Beweismittel (aus den rechtswidrigen Durchsuchungen) nicht mehr an.

Frage: Wie
würdest Du generell die Entwicklung der politischen Repression
einschätzen? Gibt es so etwas wie eine Art Verschärfung oder
gar eine Rechtsentwickung im Staatsapparat? Und in diesem
Zusammenhang: Wie siehst Du die Situation der linken und
‚linksradikalen' Strömungen (sofern es sie noch gibt) im
Verhältnis zum Umgang mit der bzw. zur Abwehr der politischen
Repression?

Antwort: Mit
derartigen globalen Fragen tu ich mich immer etwas schwer; mir fällt
dazu über das, was ich dazu schon bei früheren Gelegenheiten gesagt
habe5,
nichts Neues ein.
Eines scheint mir
jedenfalls klar zu sein: Radio Deyeckland sprach ja mal von einer
„anti-linken Agenda“ der Staatsanwaltschaft Karlsruhe.6
Wenn es die gäbe, wäre das Ermittlungsverfahren gegen die
beiden Journalisten von Radio Dreyeckland nicht dermassen konfus und
nachlässig geführt worden. Ausserdem ergibt sich aus dem Beschluss
des Landgerichts, dass das Ermittlungsverfahren nicht von der
Karlsruher Staatsanwaltschaft selbst in Gang gesetzt, sondern von der
Freiburger Polizei angestossen wurde:
„Mit Strafanzeige vom 09.11.2022 wegen
‚Zuwiderhandlung gegen Verbote nach § 20 Vereinsgesetz' brachte
das Polizeipräsidium Freiburg – Kriminalinspektion 6 – bei der
für Staatsschutzdelikte zuständigen Staatsanwaltschaft Karlsruhe
zur Anzeige, dass es ‚mit Datum vom 30.07.2022 auf der
Internetseite des als politisch links einzuordnenden lokalen
Rundfunksenders ›D.‹
(›D.‹)
https:// [...] .de/ zur Veröffentlichung eines Artikels mit
folgendem Titel gekommen' sei: ‚Linke Medienarbeit ist nicht
kriminell! Ermittlungsverfahren nach Indymedia Linksunten Verbot
wegen ‚Bildung krimineller Vereinigung' eingestellt.' und dass
‚das Ende dieses Beitrages mit einem Link zu den Archivseiten der
verbotenen Internetplattform ›linksunten.indymedia.org‹
versehen' worden sei. […]. Der Anzeigenvorlage war
vorausgegangen, dass die Staatsanwaltschaft auf telefonische
Mitteilung dieses Sachverhalts am 02.08.2022 durch die o.g.
Polizeidienststelle
einen Verdacht wegen eines Verstosses gemäss
§ 20 Abs. 1 Nr. 3 und 4 VereinsG gegen den verantwortlichen
Redakteur mit dem Kürzel ‚[...]' sowie gegen den
Verantwortlichen des Online-Auftritts des o.g. Radiosenders bejaht
hatte.“ (S. 2, 3; Hv. hinzugefügt)
Die ersten
(bekannten) Schritte des Ermittlungsverfahrens waren also die
polizeiliche Lektüre des Artikels auf der Webseite von Radio
Dreyeckland und der anschliessende Anruf der Freiburger Polizei bei
der Staatsanwaltschaft Karlsruhe.

Frage: Du
sagst: „Wenn es die [‚anti-linke' Agenda] gäbe, wäre das
Ermittlungsverfahren gegen die beiden Journalisten von Radio
Dreyeckland nicht dermassen konfus und nachlässig geführt
worden.“ – Inwiefern findest Du denn, dass das Vorgehen der
Ermittlungsbehörden „konfus“ und „nachlässig“ war?
Verharmlost Du jetzt nicht den staatlichen Angriff (eine Haltung
bzw. Praxis [‚Verharmlosung'], die wir beide kürzlich noch
kritisiert hatten7)?

Antwort:
„Konfus“ war das Vorgehen, aus den gerade schon dargestellten
Gründe: (1.) Die verunglückte Vorladung im Sommer („weitere
Angaben – etwa zur Tathandlung (Artikel auf
D[reyeckland].-Online) und zur Tatzeit (ab 30.07.2022) [waren]
unterblieben“). (2.) Die Beschuldigten wurden vor den
Durchsuchungen von dem Ermittlungsverfahren informiert –
hätten also Beweismittel vernichten können, wenn sie gewollt hätten
– und später (als das Kind zumindest schon in den Brunnen gefallen
sein konnte) berief sich die Staatsanwaltschaft auf einmal auf die
Gefahr, dass der Erfolg der Durchsuchungen gefährdet werden
könne, wenn die Beschuldigten von dem Ermittlungsverfahren erfahren
– obwohl sie eh schon seit Monaten informiert waren... – Was ist
denn das anderes als konfus?
Und „nachlässig“
war das Vorgehen, weil Staatsanwalt Graulich nach meinem ganz
starken Eindruck schlicht nicht auf dem Schirm hatte,
dass die Unterstützung einer Vereinigung nur möglich ist, wenn
sie noch existiert. Hätte er dagegen die Notwendigkeit der
Fortexistenz der Vereinigung bestreiten wollen, dann er irgendein
Argument vorgebracht, als ich diesbezüglich (als Presse) nachfragte
oder spätestens als die VerfahrensvertreterInnen der
Durchsuchungs-Betroffenen darauf hinwiesen. Noch in seiner Antwort
auf die Beschwerden gegen die Durchsuchungsbeschlüsse versuchte der
Staatsanwalt augenscheinlich diesem Problempunkt schlicht
auszuweichen.8
Erst das Oberlandesgericht besserte dann an diesem Punkt die
Argumentation der Staatsanwaltschaft nach (indem es aus der
Archiv-Veröffentlichung einen Verdacht auf Fortbestand des alten
BetreiberInnenkreises ableitete). – Mir scheint fast,
Staatsanwalt Graulich (der ja schon das §
129
-Ermittlungsverfahren gegen die vermeintlichen Mitglieder des
alten BetreiberInnenkreis von linksunten 2022 eingestellt hatte),
wollte mit seiner Anklage gegen Fabian Kienert gar keinen Erfolg
haben.

Frage: Gibt
es Deines Erachtens also gar keine „anti-linke Agenda“?
Antwort: Der
bürgerliche Staat (als Ganzes) hat meines Erachtens eine anti-linke
Tendenz, eben weil er bürgerlicher Staat ist – und
deshalb geht er oft (aber nicht immer) gegen linksaussen
strenger vor, als gegen rechtsaussen. Aber das nun gerade die
Staatsanwaltschaft Karlsruhe eine – über den
staatlichen Durchschnitt hinausgehende, subjektiv besonders
akzentuierte
– „anti-linke Agenda“ hat, scheint mir –
anhand des vorliegenden Falls – doch ziemlich unplausibel zu
sein.

Frage: Auch
wenn Du Dich mit „globalen Fragen“ schwer tust: Was muss Deiner
Meinung nach geschehen, damit ‚linke Anti-Repressionsarbeit' in
Zukunft nicht mehr ganz so hilflos und kraftlos erscheint? Und
glaubst du, dass die „deutsche Linke“ (wenn diese
Sammelbezeichnung gestattet ist) überhaupt noch aus dem Zustand
der Dauerkrise rauskommen kann? Oder muss das Jahr 1968
(endgültig) aus der Geschichte gestrichen werden? – und wenn
JA, durch was ersetzt werden?

Antwort: Zu
Frage 1: Mir scheint, linke Anti-Repressionsarbeit kann nicht
kraftvoller aussehen, als die Linke insgesamt ist.
Zu Frage 2.: a) Mir
scheint, dass heute kaum noch gesagt werden kann, die Schwäche der
Linken sei ein spezifisch-deutsches Problem. In wieviel Ländern sind
denn linke Kräfte heute bedeutend stärker als in der BRD?
b) Ich kann nicht in
die Zukunft schauen, aber die Zukunft/Geschichte ist prinzipiell
offen.
Zu Frage 3: Mir
scheint „68“ ist durchaus wirkmächtig – wenn auch nicht gerade
das kapitalismus-kritische (mehr war es ja eh kaum)
Element darin.

Frage: Zum
Punkt 2. a) würde ich gern noch mal nachhaken: Ich stimme zwar zu,
dass die Schwäche der Linken ein „internationales“ Problem ist,
aber trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass gerade in
Deutschland es Linke besonders schwer haben. Ich bin zwar kein Freund
historischer Analogiebildungen, aber der „autoritäre Charakter“
scheint mir schon auch im besonderen Masse ein „deutsches“
Phänomen zu sein. Siehst Du die Erblast der Vergangenheit9
eher als vernachlässigbares Problem an, oder steckt im „deutschen
Wesen“ immer noch der Keim des Faschismus? Die Witze über
„Bahnsteigkarten“ und „Rasen betreten verboten“-Schilder
kommen ja sicherlich nicht von ungefähr, oder?

Antwort: Mir
scheint zum einen: Der Rechtspopulismus ist in der BRD nicht
unbedingt ein grösseres Problem als in vielen anderen europäischen
Ländern und den USA. Im Gegensatz zu anderen Staaten, ist er in
der BRD (noch) nicht an Regierungen beteiligt (gewesen).
Es gibt meines Erachtens in der BRD – als Spätwirkung des
‚Fehlens' einer bürgerlichen Revolution – einen
fortwirkende Antiparlamentarismus und juristischen Antipositivismus.
Aber eine proletarische Revolution blieb in allen führenden (und
auch den meisten nicht-führenden) kapitalistischen Ländern aus; die
KPD der Weimarer Republik war (abgesehen von der KPdSU) eine der
stärkeren Sektionen der Kommunistischen Internationale; „1968“
und dessen Nachwirkung in Form der sog. Neuen sozialen Bewegungen
– gerade auch der militanten autonomen und antiimperialistischen
Linken – scheint mir in der BRD nicht unbedingt schwächer
ausgeprägt gewesen zu sein als in anderen Ländern (wenn auch
sicherlich weniger klassenorientiert als in Frankreich und Italien).
Die von Dir genannte Horkheimer/Adorno-Schrift habe ich nicht
gelesen, aber ich stehe ja eh eher auf Pariser10
als Frankfurter Schule.
Also: Ich würde
sagen, die Spezifik der deutschen Geschichte ist zwar auf der Ebene
der Staatsapparate, der Staatsschutzkonzeption sowie der
Rechtstheorie und -ideologie weiterhin wirksam, aber in Bezug
auf die (Schwäche der) Linke(n) erklärt die Spezifik der deutschen
Geschichte nur den frühen Bruch der organisatorischen Kontinuität
der ArbeiterInnenbewegung; aber sozialdemokratische und
kommunistische Parteien sind ja nun mittlerweile in vielen Ländern
marginalisiert. Und guck doch nur mal, in wieviel Ländern wir nicht
einmal eine Parlamentspartei wie die Linkspartei haben…

Frage: Dann
noch mal zurück ganz zu dem Anfang unseres Gesprächs – was ist
denn (politisch) von der liberalen Parole aus dem 19. Jahrhundert,
„Keine Eingriffe in Freiheit und Eigentum ohne Gesetz“, zu
halten? Findest du die richtig oder falsch?

Antwort: Auch
wenn die Parole eine liberale und keine kommunistische oder
anarchistische ist, war und ist diese Parole meines Erachtens
zumindest ein Schritt in die richtige Richtung: Sie hatte im
19. Jahrhundert eine spezifische anti-feudale Stossrichtung – die
staatliche Exekutive war noch stark feudal geprägt, während die
Parlamente bereits stark bürgerlich geprägt waren.
Und die spezifisch
anti-exekutive Stossrichtung der Parole scheint mir auch heute noch –
auch aus anarchistischer und kommunistischer Sicht – aktuell und
richtig zu sein: Die – bewaffnete – Exekutive ist der harte Kern
der Staatsmacht.
Dagegen ist es eher
die Bourgeoisie – insbesondere in Deutschland und in den anderen
Ländern, in denen zeitweilig der Faschismus siegte –, die das
Vertrauen in die Parlamente verlor: Erst wurde mit verschiedenen
exekutivstaatlichen Modellen experimentiert (z.B. die
Präsidial-Diktatur-Phase am Ende Weimarer Republik); dann wurde auf
die faschistische Karte gesetzt. Beides waren nicht gerade
Erfolgsmodelle; insbesondere in der BRD und in Spanien setzten sich
dann eher justizstaatliche Modelle durch: Die Justiz und
insbesondere das Bundesverfassungsgericht nun sollen, die
gesellschaftliche ‚Zerrissenheit'11,
die Carl Schmitt (1888 - 1985) an der Weimarer Republik beklagte12,
„integrieren“ (was Rudolf Smend13
[1882 - 1975] – ebenfalls schon zu Weimarer Zeit – als
„Kernvorgang des staatlichen Lebens“ ansah).
Ich würde
jedenfalls sagen: Linke haben wenig zu gewinnen, wenn sie sich diesem
eher justizstaatlichen Modell anpassen – auch wenn dies heute
(angesichts der starken rechtspopulistischen Fraktionen in vielen
Parlamenten) eine noch kühnere These ist als (sagen wir) von 1970
bis zum Aufstieg des Rechtspopulismus (mit teilweise stark
justiz-feindlichen Tendenzen). Dieser Aufstieg des Rechtspopulismus
hat aber vielleicht auch etwas mit der starken NGO-isierung (und
Justizgläubigkeit) der Linken bzw. ehemaliger Linker seit 1989 zu
tun…
Jedenfalls ist es
eine Binse, dass Freiheit nicht grenzenlos sein kann: Jedes
Parkverbots-Schild und jedes Tempolimit im Strassenverkehr ist
ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit; jede (zivil- oder
straf)gerichtliche Entscheidungen gegen Beleidigungen ist ein
Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit.
Und wenn es schon
ein Grundrecht auf Eigentum gibt, dann sollten es jedenfalls Linke
richtig finden, dass Artikel
14
Absatz 1 Grundgesetz
folgendermassen lautet: „Das Eigentum und das Erbrecht werden
gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze
bestimmt“; und dass er nicht vielmehr lautet: „In Eigentum und
Erbrecht darf nicht eingegriffen werden.“

Frage: Wie
glaubst du überhaupt, kann der „bürgerliche Rechtshorizont“
(Marx) überschritten werden?

Antwort:
Letztlich kann der „bürgerliche Rechtshorizont“ – wie Marx
selbst sagte – erst in der kommunistische Gesellschaft höherer
Phase (also im Unterschied zur sozialistischen
Übergangsgesellschaft) überwunden werden:
„In einer
höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die
knechtende Unterordnung der Individuen unter die Theilung der Arbeit,
damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit,
verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben,
sondern selbst das erste Lebensbedürfniss geworden; nachdem mit der
allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Productivkräfte
gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichthums
voller fliessen – erst dann kann der enge bürgerliche
Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft
auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach
seinen Bedürfnissen!“
(Kritik des
Gothaer Programms
, in: Karl Marx / Friedrich Engels,
Gesamtausgabe. Erste
Abteilung. Band 25, Dietz: Berlin, 1985, 3 - 25 [15 ] / dies.,
Werke.Band19, Dietz:Berlin, 1. Aufl.: 1962/ 9. Aufl.: 1987Werke.Band19, Dietz:Berlin, 1. Aufl.: 1962/ 9. Aufl.: 1987Werke.Band19, Dietz:Berlin, 1. Aufl.: 1962/ 9. Aufl.: 1987,
11 - 32 )
Bis dahin gilt es
  • das Recht als
    spezifische Form, die auch die Grenzen des möglichen Inhalts
    (des Rechts) determiniert, zu erkennen:
    „die Form, vorliegend:
    unterschiedliche juristische Formen (die jeweils zur Anwendung
    in Betracht kommen), sind – entgegen einem kruden Verständnis von
    Materialismus (s. Kasten auf S. 40) – nicht etwa gegenüber
    dem jeweiligen Inhalt nachrangig, sondern – wie Lenin sagt –:
    ‚Die Form ist wesentlich. Das Wesen ist formiert.'14
    Denn der Inhalt existiert überhaupt nur als geformter; die Form ist
    die Existenzform des Inhalts.“15,
    „Sicherlich
    gibt es auch Anliegen der radikalen Linken, die sich in der Sprache
    von Demokratie und Menschenrechten ausdrücken lassen, aber die
    Inhalte, die für die radikale Linke spezifisch sind, lassen
    sich gerade nicht in dieser Sprache ausdrücken. Wie Rosa
    Luxemburg schon sagte: ‚Man wird in unserem ganzen Rechtssystem
    keine gesetzliche Formel der gegenwärtigen Klassenherrschaft
    finden. Wie also die Lohnsklaverei ‚auf gesetzlichen Wege'
    stufenweise aufheben, wenn sie in den Gesetzen gar nicht ausgedrückt
    ist?'>16
    Dieses Schweigen des Rechtsdiskurses zu Klassen- und heute
    weitgehend auch Geschlechterherrschaft lässt sich nicht durch den
    Willen der radikalen Linken, ihre Anliegen in dieser Sprache
    auszudrücken, aufheben (Diskurse sind stärker als Menschen);
    vielmehr charakterisiert dieses Schweigen gerade den
    Rechtsdiskurs.“17
    und

  • in dieser Spezifik auch seine spezifische Wirksamkeit / Relevanz,
    aber auch deren Grenzen (an)zuerkennen:
    „Recht ist Bestandteil der Realität,
    und so, wie die Realität für jede Linke – sei sie nun
    emanzipatorisch oder nicht – ein Bezugspunkt oder sogar der
    Bezugspunkt sein muss, gilt dies auch für die rechtlichen Aspekte
    der Realität. Die Frage kann also nicht sein, ob Recht ein
    Bezugspunkt für Linke sein kann, sondern nur wie die
    Bezugnahme erfolgt, wie die Linke ihr Verhältnis zum Recht
    definiert.“18
Oder anders gesagt: Das, was hier
‚positiv' ausgedrückt ist, ist ‚negativ'
  • sowohl
    eine Kritik an denen, die „die Bedeutung von Recht und
    Rechtsforderungen zu gering[…]schätzen“
  • als auch
    an denen, „die falschen Rechtsforderungen und auf falsche Art
    Rechtsforderungen […] stellen“.
Beide Seiten
„konvergieren m.E. in einer falschen Analyse des Verhältnisses
zwischen kapitalistischer Produktionsweise bzw. bürgerlichem
Klasseninteresse einerseits und Recht andererseits – nur, dass sie
unterschiedliche Konsequenzen aus der gleichen falschen Analyse
ziehen. Beide halten jenes Verhältnis für zufällig“. Vielmehr
steht „die Rechtsform aber „in einem notwendigen Zusammenhang mit
der kapitalistischen Produktionsweise“ und „deren
Überwindung [kann] deshalb nicht als Rechtsforderung formuliert
werden“ – auch wenn „Rechtsforderungen dennoch für linke
Politik notwendig sind“.19

Frage:
Inwiefern ist die von Dir für richtig gehaltene Auffassung geeignet,
den „bürgerlichen Rechtshorizont“ (zumindest in der
Theorie) zu überwinden?

Antwort:
Insofern als Rechtsillusionen nicht erfolgreich durch
Rechtsnihilismus bekämpft werden können, sondern nur durch
Realismus: Zum Beispiel den Gewerkschaften, aber auch den Linken
insgesamt kann zur Zeit nichtmehr als
Misstrauen in das Recht“ (also: kein Rechtsnihilismus)
empfohlen werden. „Das Problem besteht vielmehr darin, dass die
Gewerkschaftsbewegung“ und die Linken „kein reflektiertes
Verhältnis zur Rechtsordnung“ haben.20
Ein „reflektiertes
Verhältnis zur Rechtsordnung“ zu haben, würde dagegen
einschliessen, zu erkennen, dass
„Rechtsforderungen
[…] keine programmatische Diskussion ersetzen [können]; auch
lassen sich keine politische Programme aus Rechtsforderungen oder gar
Rechtsphilosophien ‚ableiten', vielmehr taugen
Rechtsforderungen allenfalls als technische Konkretisierung und
Umsetzung politischer Programme. Soviel Distanz gegenüber dem Recht
sollte sich eine nicht nur ‚emanzipatorische', sondern auch
realistische Linke allemal bewahren – […]. Statt pauschal
Ent-Rechtlichung zu fordern oder genauso blind Verrechtlichung
zu betreiben, ist vielmehr in jeder konkreten Situation nach
Antworten auf die folgenden komplizierten Fragen zu suchen: ‚wie
können unter Bedingungen verrechtlichter Beziehungen rechtliche
Argumentationen der entpolitisierenden Funktion von
Verrechtlichung entgegenarbeiten? Oder: wie können Legalstrategien
Re-Politisierungsprozesse sozialer Konflikte eröffnen?'21“

Achim Schill

Fussnoten:

1 in: Die Neue Zeit. Feb. 1887, 49 - 62 = Karl Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe. Erste Abteilung. Band 31, Akademie Verlag: Berlin, 2002, 397 - 413 (399 [Zeile 19 - 24]).

2 zuerst in BVerfGE 7, 198 - 230 (207): „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es [das Grundrecht auf freie Meinungsäusserung] schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 5, 85 [205]).“ (Die Quellenangabe im Zitat verweist im übrigen – ironischer- oder zynischerweise – auf eine Stelle im KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts...)

3 https://web.archive.org/web/20200124114101/http://interkomm.so36.net/archiv/2008-08-30/nse.pdf, S. 6 mit FN 9.

4 „Mit formlos versandten polizeilichen Vorladungen vom 03.08.2022 (pol. Az. ST/1527862/2022) wurden die Beschwerdeführer K. und R. gebeten, sich zum Zwecke der Anhörung als Beschuldigte ‚im Ermittlungsverfahren wegen Verstoss gegen § 20 Abs. 1 VereinsG' am 18.08.2022 um 10:00 bzw. 11:00 Uhr in der Kriminalinspektion 6 in Freiburg einzufinden.“ (S. 3)

5 Siehe zum Beispiel die Antworten, die ich dem Freien Senderkombinat Hamburg am 22. und 24.05.2023 auf die Frage, „Gibt es einen Kampf innerhalb der Institutionen – einen Linienkampf sozusagen?“, und zur These, „Der G20 hat ja… und auch die Vorbereitungen des G20 haben ja schon einige innenpolitische Veränderungen erbracht hinsichtlich der Verschärfungen aller möglichen Repressionsmöglichkeiten, gab (https://www.freie-radios.net/122165, ab Min. 19:50 bzw. ab Min 27:17 sowie – deutlich präziser und weniger verhaspelt als die vorgenannte Antwort ab Min. 27:17 –: https://www.freie-radios.net/122209, ab Min. 4:44) die Antwort, die ich dem Freien Senderkombinat Hamburg am 24.05.2023 auf die Frage, Wenn wir das, was wir aufgezählt haben, nich? – Hausdurchsuchungen Radio Dreyeckland, Eingriff dort in die Pressefreiheit, indymedia-Verbot, heute dann bei den KlimaaktivistInnen […], die vielen Verfahren wegen angeblicher PKK-Tätigkeit und so – wenn wir das alles zusammennehmen als juristischen Teil einer politischen Entwicklung […] wenn wir das so zusammennehmen: Lässt sich das so dann schon mal diskutieren?“, gab (https://www.freie-radios.net/122209, ab Min. 17:24, ab Min. 26:48 und insbesondere ab Min. 32:45 sowie ab Min. 47:28) meine Antwort auf Deine (Achims) Frage, siehst Du darin [in den Durchsuchungen, die am 02.08.2023 bei vermeintlichen Mitgliedern des ehemaligen BetreiberInnenkreises von linksunten stattfanden] einen ganz ‚normalen, juristischen Vorgang, der eben bemüht ist, der geltenden Rechtslage Geltung zu verschaffen?“, im Rahmen unseres Gesprächs für das untergrund-blättle vom 09.08.2022: https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/durchsuchungen-linksunten-ein-unterstuetzbares-objekt-muss-her-7831.html und meine Thesen: „Die Ära Kohl war […] – trotz proklamierter ‚geistig-moralischer Wende' – weder ein zurück in die 50 Jahre noch gar in den NS und auch noch nicht der Bruch mit dem sozialstaatlich-fordistischen Kapitalismus-Modell der Nachkriegszeit, sondern eher eine Fortschreibung von Helmut Schmidts sozialdemokratischem ‚Modell Deutschland'. […]. In paradoxer Erfüllung der Wünsche der 68er-Bewegung brachte dann das Schröder/Fischer-Intermezzo eine Beschleunigung der gesellschaftlichen Liberalisierung, aber – nun auch für Deutschland – den Bruch mit dem sozialstaatlich-fordistischen Modell (Agenda 2010): […]. Die Merkel-Ära ist demgegenüber eher ein kleineres Übel – eine überraschend starke Fortschreibung der gesellschaftlichen Liberalisierung bei nicht mehr ganz so starker, weiterer Beschleunigung der ökonomischen Neoliberalisierung wie in der Schröder/Fischer-Zeit. […]. Diese einigermassen kuriose Situationen, dass CDU/CSU-geführte Regierungen (meist mit der SPD als Juniorparterin; eine Legislaturperiode auch mit der FDP zusammen) ein – aus unserer (vielleicht sehr speziellen) linken Sicht – kleineres Übel gegenüber den beiden vorhergehenden SPD/Grünen-Regierungen sind/waren, erklärt – durchaus in Konvergenz mit rechten Selbsterklärungen – den Aufstieg der AfD. Diese besetzt in der Tat eine politischen Raum, den in der Vergangenheit noch die Strauss, Dregger und Lummer von CDU und CSU besetzt hatten.“ (https://de.indymedia.org/node/283282, These 5 - 7) Es ist also jedenfalls nicht ausgemacht, dass die organisatorische Verselbständigung des Rechtspopulismus ausserhalb der Unionsparteien auch dessen Einflussgewinn bedeutet – und nicht vielleicht vielmehr eine Reaktion auf Einflussverlust darstellt.

6 „‚Die Staatsanwaltschaft will per Strafrecht ihre anti-linke Agenda durchsetzen. Der fortgesetzte Versuch in die Berichterstattung einzugreifen kann politisch nur eine Konsequenz haben', erklärt RDL Geschäftsführer Kurt-Michael Menzel, ‚nämlich die Auflösung der Staatsschutzabteilung der Karlsruher Staatsanwaltschaft.'“ (https://rdl.de/beitrag/staatsanwaltschaft-karlsruhe-erhebt-anklage-gegen-kritische-berichterstattung)

7 Zu einigen verharmlosenden Reaktionen auf die neuen Durchsuchungen bei vermeintlichen Mitgliedern des BetreiberInnenkreises von linksunten.indymedia, in: de.indymedia.org vom 13.08.2023; https://de.indymedia.org/node/297353 / https://de.indymedia.org/sites/default/files/2023/08/Krit_Presseschau_Durchsuch_02-08-2023.pdf.

8 „Auf das Erfordernis der Fortexistenz der verbotenen Vereinigung ging die Staatsanwaltschaft nicht explizit ein.“ (S. 9 des Landgerichtsbeschlusses) Sogar in ihrer Beschwerde gegen den Nicht-Eröffnungs-Beschluss des Landgerichts scheint die Staatsanwaltschaft – nach den Antworten, die ich auf meine Presseanfragen erhielt – auf diesen Punkt nicht eingegangen zu sein. Ich hatte u.a. gefragt: „Wie (mit welchen Argumenten und/oder Fundstellen) wendet sich Staatsanwaltschaft gegen die Auffassungen des Landgerichts: ‚§ 85 Abs. 2 StGB setzt die objektive Existenz einer Vereinigung der in § 85 Abs. 1 StGB bezeichneten Art im Zeitpunkt der Vornahme der Unterstützungshandlung voraus.' (S. 4) Es ‚kann bereits nicht von einer […] objektiven Existenz einer Vereinigung der in § 85 Abs. 1 StGB bezeichneten Art zum Zeitpunkt der Tathandlung ausgegangen werden. […].' (ebd.)“ Unter anderem auf diese Frage erhielt ich keine konkrete, sondern bloss eine allgemeine – an den meinen konkreten Fragen vorbeigehende – Antwort. Auch eine weitere Nachfrage führte zu keiner konkreteren Auskunft (siehe meinen Bericht über meine Korrespondenz mit der Pressestelle der Staatsanwaltschaft Karlsruhe: https://blogs.taz.de/theorie-praxis/tritt-die-staatsanwaltschaft-in-der-strafsache-gegen-den-radio-dreyeckland-journalisten-fabian-kienert-mit-leeren-haenden-vor-das-oberlandesgericht-stuttgart/).

9 „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskirte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drappirte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaiserthum, und die Revolution von 1848 wusste nichts Besseres zu thun, als hier 1789, dort die revolutionäre Ueberlieferung von 1793-95 zu parodiren. So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet und frei in ihr zu produziren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergisst.“ (Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: ders. / Friedrich Engels, Gesamtausgabe. Erste Abteilung. Band 11, Dietz: Berlin/DDR, 1985, 96 - 189 [96 - 97 ] / dies., Werke, Band 8, Dietz: Berlin/DDR, 1960, 111 - 207 [115])

10 = Anspielung auf Louis Althusser und andere AutorInnen der strukturalistischen Konjunktur in Frankreich in den 1960er Jahren.

11 Vgl. Helmut Ridder, „Das Menschenbild des Grundgesetzes“. Zur Staatsreligion der Bundesrepublik Deutschland, in: Demokratie und Recht 1979, 123 - 134 (127): „Schon Weimars antipositivistische, ‚Treu und Glauben' gegen den parlamentarischen Gesetzgeber und die ‚Gerechtigkeit' gegen das ergangene Gesetz mobilisierende und auf den Schild erhebende oberste Richter und Oberprofessoren der Rechts- und Staatslehre hatten im Kampf wider den undeutschen Legalismus in der Rechtsprechung seit der Mitte der 20er Jahre gewisse Anfangserfolge errungen. Weimars Notstandsregime hatte, keine Parteien mehr kennend, die schmählich undeutsche ‚Zerrissenheit' (ein von Carl Schmitt sehr geschätzter Ausdruck) durch schlichtes Unter-den-Teppich-Kehren einfach weggezaubert. Der Pakt mit den Nazis hatte breiten Konsens nachgeschoben, allerdings unvermeidlich auch eigensinniger Unverhältnismässigkeit und Exzessivität, dem Widersacher jeglicher solider antidemokratischer Staats- und Systemräson, aus blosser Kurzsichtigkeit ein breites […] Einlasstor geöffnet.“ (Hv. hinzugefügt)

12 „Der konkrete Verfassungszustand des heutigen Deutschen Reiches soll hier durch drei Begriffe kurz charakterisiert werden: Pluralismus, Polykratie und Föderalismus. […]. Jene drei Phänomene sind auf den ersten Bück nur durch den gemeinsamen Gegensatz verbunden, den Gegensatz gegen eine geschlossene und durchgängige staatliche Einheit, im übrigen aber unter sich verschiedener Natur. […]. Jede einzelne der drei Erscheinungen kann selbständig betrachtet und untersucht werden. Doch wird sie in der Wirklichkeit des staatlichen Lebens meistens mit einer oder beiden der andern Erscheinungen zusammen auftreten, sei es mit ihnen verbündet, sei es um ihnen entgegenzutreten und entgegenzuwirken. Immer kann das eine hinter dem andern Deckung nehmen und trotzdem gleichzeitig in den Missbräuchen des andern seine eigene Rechtfertigung finden. […] auch das pluralistische System verwandelt mit seinen fortwährenden Parteien- und Fraktionsvereinbarungen den Staat in ein Nebeneinander von Kompromissen und Verträgen, […]. Wie überhaupt bei den Beziehungen von Pluralismus, Polykratie und Föderalismus sind also auch hier viele Überschneidungen und sogenannte Querverbindungen möglich. Die letzte Folge eines solchen doppelt fundierten Pluralismus wäre eine völlige Zersplitterung der deutschen Einheit.“ (Carl Schmitt, Hüter der Verfassung, Duncker & Humblot: Berlin, 2016, 71, 72, 110; kursive Hv. im Original gesperrt; fette Hv. hinzugefügt) Siehe zu Schmitt: Friedhelm Hase, Carl Schmitt, in: des. / Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System. Studien zum Rechtsstaatsproblem in Deutschland, Campus: Frankfurt am Main / New York, 1980, 148 - 157.

13 Smend verfocht die These: Der Staat „lebt und ist da nur in diesem Prozess beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens, […]. Es ist dieser Kernvorgang des staatlichen Lebens, wenn man so will, seine Kernsubstanz für die ich schon an anderer Stelle die Bezeichnung als Integration vorgeschlagen habe.“ (Verfassung und Verfassungsrecht, Duncker & Humblot: München / Leipzig, 1928, 18); „[d]er Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert“ (ebd., 20). Siehe zu Smend: Friedhelm Hase, Rudolf Smend, in: des. / Karl-Heinz Ladeur, a.a.O. (FN 13), 140 - 147.

14 W.I. Lenin, Konspekt zu Hegel „Wissenschaft der Logik“, in: ders., Werke. Band 38, Dietz: Berlin/DDR, 1964, 77 - 229 (134).

15 Mein Text: Noch so ein Sieg und wir verlieren den Krieg. Die Schlacht von Asculum und das Berliner mg-Verfahren. Erweiterte schriftliche Fassung eines Beitrages zur Veranstaltung „Wie weiter im Kampf gegen den § 129 a / b?“ am 05.03.2008 in Berlin; https://web.archive.org/web/20200124114101/http://interkomm.so36.net/archiv/2008-08-30/nse.pdf, S. 39.

16 Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: dies., Gesammelte Werke. Bd. I/1, Dietz: Berlin/DDR, 1970, 367 - 466 (429).

17 Mein Papier: Warum Globale Soziale Rechte nicht antikapitalistisch sind, aber linke Politik trotzdem Rechtsforderungen braucht, in: trend. Onlinezeitung 5/2008; http://www.trend.infopartisan.net/trd0508/Buko%20GSR-Debatte_KURZ-FIN.pdf, S. 2.

18 ebd., S. 1; Hv. i.O.

19 ebd.

20 Hartmut Geil / Uwe Günther, Wie und wozu soll das Recht auf Arbeit verfassungsrechtlich abgesichert werden?, in: Marxistische Blätter Sept./Okt. 1978, 77 - 84 (79); https://web.archive.org/web/20201230041536/http://antikaprp.blogsport.eu/files/2016/10/geil_guenther_recht_a_arbeit_marx_bl_1978.pdf; Hv. hinzugefügt.

21 Ulrich Mückenberger, [Abschnitt] II., in: Rainer Erd / Ulrich Mückenberger / Friedhelm Hase, Antikapitalistische Gewerkschaftspolitik als Rechtsprogramm, in: Kritische Justiz 1975, 46 - 69 (57 - 64 ); https://doi.org/10.5771/0023-4834-1975-1-24.

22 ab Seite 3 des Digitalsats.

23 S. 61 der gedruckten und S. 63 der digitalen Seitenzählung bis S. 69 bzw. 71.



Zum Weiterlesen

Peter Schöttler, Friedrich Engels und Karl Kautsky als Kritiker des „Juristen-Sozialismus“, in: Demokratie und Recht 1980, 3 - 25 22 (eine längere Fassung erschien auf Ndl. in: Recht en Kritiek 1977).

Rolf Hosfeld / Michael Kreutzer: Eine einsame Provokation. Die West-Berliner Inszenierung der „Ermittlung“ von Peter Weiss und die Probleme juristischer Faschismus-Bewältigung, in: http://inkrit.de/mediadaten/archivargument/DA125/DA125.pdf und http://inkrit.de/mediadaten/archivargument/DA125/DA125.pdf, 61 - 69 23.

Ingeborg Maus, Verrechtlichung, Entrechtlichung und Funktionswandel von Institutionen, in: dies.,Rechtstheorie und Politische Theorie im Industriekapitalismus, Fink: München, 1986 (urn:nbn:de:bvb:12-bsb00040886-9).

In der Strafanzeige wurde Radio Dreyeckland als „politisch links einzuordnenden“ charakterisiert.