Das Strafverfahren gegen den Autor des Artikels, Fabian Kienert läuft
aber trotzdem weiter.Über diese neuste
Entwicklung in dem Fall sprach ich ein weiteres Mal mit Detlef
Georgia Schulze, der/die das Verfahren auch schon für die
taz-Blogs und die
Freitag-community in mehreren Artikeln analysiert hat. Wieder
einmal warnt dgs vor Rechts- und insbesondere Justizillusionen – um
diese zu vermeiden, sei es allerdings notwendig, das geltende Recht
und die herrschende Rechtsprechung zu kennen (statt sich
irgendein Wunsch-Recht auszudenken und dieses einfach als
geltend zu behaupten oder in Gerichtsentscheidungen mehr
reinzulesen als tatsächlich drinsteht).
War Pessismus unangebracht? Frage: Nach
der Durchsuchung bei Radio Dreyeckland (RDL) hiess es in einer
Presseerklärung
des Bundesverbands
Freier Radios (BFR) – zur Untermauerung von Kritik an der
Durchsuchung bei RDL –: „im Jahr 2010 hatte das […]
Bundesverfassungsgericht (BVG) den Grundrechtsrang
der Rundfunkfreiheit, des Redaktionsgeheimnisses sowie der
Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit klargestellt. Dieses Urteil
wurde vor dem Hintergrund einer Hausdurchsuchung im Jahr 2003 beim
ebenso im BFR organisierten Freien Sender Kombinat (FSK) in Hamburg
gefällt.“
Die Pressemitteilung
Nr. 2/2011 des Bundesverfassungsgerichts
vom 5. Januar 2011 zu der Entscheidung wurde vom BFR im Januar
folgendermassen zitiert:
„Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit
schützt in seiner objektiven Bedeutung die institutionelle
Eigenständigkeit des Rundfunks von der Beschaffung der Information
bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen. Von diesem Schutz
ist auch die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit umfasst, die
es staatlichen Stellen grundsätzlich verwehrt, sich einen
Einblick in die Vorgänge zu verschaffen, die zur Entstehung von
Nachrichten oder Beiträgen führen, die [...] im Rundfunk gesendet
werden. Unter das Redaktionsgeheimnis fallen auch
organisationsbezogene Unterlagen, aus denen sich Arbeitsabläufe,
Projekte oder die Identität der Mitarbeiter einer Redaktion ergeben.
Sowohl die Anordnung der Durchsuchung der Räume [...] als auch [...]
die Mitnahme redaktioneller Unterlagen [...], greifen daher in die
Rundfunkfreiheit ein. Diese Eingriffe sind verfassungsrechtlich
nicht gerechtfertigt.“
Du hattest diese
Art der Zitierung damals als zu optimistisch kritisiert. –
Warum?
Antwort:
Aufgrund der Auslassungen in dem vorletzten Satz des
Zitates konnte ein unzutreffender Eindruck auch von der
Bedeutung bzw. der Reichweite des letzten Satzes des
Zitates entstehen.
Frage: Was
war Deines Erachtens an diesem Eindruck, der entstehen konnte,
unzutreffend?
Antwort: Es
konnte der Eindruck entstehen, das
Bundesverfassungsgericht habe Durchsuchungen von Redaktionsräume
und die Mitnahme redaktioneller Unterlagen generell für
„verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt“ erklärt. Denn das
BFR-Zitat konnte so verstanden werden, dass sich das „Diese“
in dem letzten Satz des Zitats generell auf die Durchsuchungen von
Redaktionsräumen und die Mitnahme redaktioneller Unterlagen
beziehe. Vollständig lautete der vorletzte Satz, der in der
BFR-Presseerklärung nur mit Auslassungen zitiert wurde, aber
folgendermassen:
„Sowohl die
Anordnung der Durchsuchung der Räume des Beschwerdeführers
als auch die fachgerichtlichen Entscheidungen, die die bild-
und skizzenhafte Dokumentation der Redaktionsräume und die
Mitnahme redaktioneller Unterlagen sowie die Anfertigung von
Ablichtungen hiervon als rechtmässig erachten, greifen daher in die
Rundfunkfreiheit ein.“
(https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2011/bvg11-002.html;
meine Hv.)
Das heisst: Es ging
in der damaligen Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts nicht
generell um Durchsuchungen von Redaktionsräumen und die Mitnahme
redaktioneller Unterlagen, sondern speziell um die „Durchsuchung
der Räume des Beschwerdeführers“ (also des Freien Sender
Kombinats Hamburg) und um die fachgerichtlichen Entscheidungen
in diesem Fall. Nur diese wurden vom
Bundesverfassungsgericht als „verfassungsrechtlich nicht
gerechtfertigt“ bezeichnet.
Zwar stellen auch
alle anderen Durchsuchungen von Redaktionsräumen und jede Mitnahme
redaktioneller Unterlagen Eingriffe in die Rundfunkfreiheit
dar. Aber nicht jeder Grundrechtseingriff ist auch eine
Grundrechtsverletzung. Denn viele Grundrechte sind so weit
gefasst, dass es unvermeidlich ist, bestimmte Eingriffe zuzulassen. So
stehen zum Beispiel die Presse- und Rundfreiheit (in Artikel
5 Absatz 1 Grundgesetz)
gemäss Absatz 2 des gerade genannten Artikels unter dem Vorbehalt
der „allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum
Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“.
Das entspricht der klassischen liberalen Doktrin; diese lautete
nicht: „Keine Eingriffe in Freiheit und Eigentum“, sondern:
„Keine Eingriffe in Freiheit und Eigentum ohne Gesetz.“
Es ging also vor allem darum, Eigenmächtigkeiten der Exekutive zu
verhindern und Grundrechtseingriffe von einer parlamentarischen (und
damit – je nach Ausgestaltung des Wahlrechts –: demokratischen)
Legitimation abhängig zu machen.
Und in der Tat gibt
es in der Strafgesetzprozessordnung (StPO) der Bundesrepublik
ausdrücklich Regelungen zur „Beschlagnahme von Verkörperungen
eines Inhalts (§
11 Absatz 3 des
Strafgesetzbuches), die sich im Gewahrsam dieser Personen [=
Personen mit Zeugnisverweigerungsrecht gem. §
53 Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 StPO]
oder der Redaktion, des Verlages, der Druckerei oder der
Rundfunkanstalt befinden“ – nämlich in §
97 Absatz 5 Satz 1 und 2 StPO.
Wichtig ist dabei Satz 2, während Satz 1 bloss für den sprachlichen
Kontext (also die Verständlichkeit von Satz 2) von Bedeutung ist.
Diejenigen, die dies
leugnen, erzeugen Rechtsillusionen und diejenigen, die den Eindruck
erwecken, das Bundesverfassungsgericht habe trotzdem Durchsuchungen
von Redaktionsräumen und die Mitnahme redaktioneller Unterlagen
generell für „verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt“
erklärt, erzeugen Justizillusionen. Friedrich Engels und Karl
Kautsky warnten am Ende des 19. Jahrhunderts in ihrem Aufsatz
Juristen-Sozialismus1:
„Die Arbeiterklasse, die durch die
Verwandlung der feudalen Produktionsweise in die kapitalistische
alles Eigenthums an den Produktionsmitteln entkleidet wurde und durch
den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise stets in diesem
erblichen Zustand der Eigenthumslosigkeit wieder erzeugt wird,
kann in der juristischen Illusion der Bourgeoisie ihre
Lebenslage nicht erschöpfend zum Ausdruck bringen. Sie kann diese
Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne
juristisch gefärbte Brille in ihrer Wirklichkeit anschaut.“ Frage: Nun
wurden aber auch die Beschlüsse des Amtsgerichts Karlsruhe, die den
Durchsuchung bei RDL und zwei RDL-Journalisten zugrunde lagen, für
rechtswidrig erklärt. Waren also Dein Pessimismus und Deine
Warnung unbegründet?
Antwort:
Nein, denn auch die jetzige Entscheidung ist eine
Einzelfall-Entscheidung, die auf die besonderen Umstände des Falls
abstellt.
Frage: Warum
das? In der Pressemitteilung von Radio Dreyckland (RDL) vom 28.
August 2023 zu dem Beschluss des Landgerichts heisst es: „Das
Karlsruher Landgericht hat mit Beschluss vom 22.08.2023
letztinstanzlich entschieden, dass die Hausdurchsuchungen gegen
Radio Dreyeckland rechtswidrig waren. ‚Die Freiheit der Medien ist
– ebenso wie die Freiheit der Meinungsäusserung und die
Informationsfreiheit – schlechthin konstituierend für die
freiheitliche demokratische Grundordnung', führt das Landgericht
in seinem Beschluss aus und erteilt damit erneut eine juristische
Ohrfeige an die Karlsruher Staatsanwaltschaft und das dortige
Amtsgericht, das die Durchsuchungen ohne ausreichende Prüfungen
durchgewunken hatte.“ Das hört sich doch ziemlich grundsätzlich
(um nicht zu sagen: „fundamental“) an…
Antwort: Ja,
das hört ziemlich grundsätzlich an. Aber das Ergebnis der
Entscheidung folgt nicht unmittelbar aus dem blumigen Satz über die
„schlechthin konstituierend“ Bedeutung der Medienfreiheiten,
sondern aus zwei sehr spezifischen Umständen des Falls „Radio
Dreyckland“, die sich genau so nicht wiederholen werden.
Der zitierte blumige
Satz zu den Medienfreiheiten steht dagegen seit den 1950er Jahren in
Dutzenden von Gerichtsentscheidungen2
– auch solchen, die im konkreten Einzelfall negativ für die
Medienfreiheiten ausgingen. Es handelt sich also oft um eine blosse
Legitimationsfloskel, die zeigen will: ‚Wir haben es uns nicht
leicht gemacht, den Eingriff in z.B. in die Pressefreiheit für
rechtmässig zu erklären. Selbstverständlich besteht in der
Bundesrepublik Pressefreiheit, und sie ist auch wichtig. Aber im hier
zu entscheidenden Fall hat es die Presse nun wirklich zu weit
getrieben.'
Frage: Was
waren denn Deines Erachtens die beiden ausschlaggebenden Gründe
dafür, dass das Landgericht die Durchsuchungsbeschlüsse für den
Fall „Radio Dreyeckland“ für rechtswidrig erklärte – wenn
nicht der von Dir als „blumig“ kritisierte Satz?
Antwort:
Fangen wir vielleicht mit dem ersten Grund an – auf S. 13 seines
Beschlusses schreibt das Landgericht:
„Unabhängig von der Frage des
objektiven Bestehens eines Anfangsverdachts zum Zeitpunkt der
Durchsuchungsbeschlüsse, die die Kammer ausdrücklich offen lässt
(s.o.), leiden die angegriffenen Durchsuchungsbeschlüsse dahingehend
an einem – auch im Beschwerdeverfahren nicht mehr heilbaren –
Mangel, dass das Amtsgericht nicht ausreichend geprüft und dies in
den Beschlussgründen folglich auch nicht dargelegt hat, ob die
zu unterstützende verbotene Vereinigung im Zeitpunkt der
Unterstützungshandlung tatsächlich bestand. Die Anordnung der
Durchsuchungen unter völliger Ausserachtlassung dieser für
die Frage der Strafbarkeit wesentlich mitentscheidenden Frage
macht die Durchsuchungsbeschlüsse rechtswidrig.“ (Hv.
hinzugefügt)
Für eine
realistische Beurteilung des Stellenwertes des
Landgerichts-Beschlusses ist nicht das pragmatische Ergebnis
(„macht die Durchsuchungsbeschlüsse rechtswidrig“), sondern sind
die im Zitat kursiv hervorgehobenen Stellen die entscheidende
Stellen:
- Das Landgericht
hat offengelassen, ob (um die Jahreswende 2022/23) objektiv
ein Anfangsverdacht, der für einen Durchsuchungsbeschluss
ausreicht, vorhanden war. Das Landgericht sagt also nicht,
dass es (objektiv) keinen Anfangsverdacht gab und deshalb der
Durchsuchungsbeschlüsse nie hätte erlassen werden dürfen. - Vielmehr rügt
das Landgericht bloss, dass der Amtsgerichts-Beschluss nicht
ausreichend begründet war. Das heisst: Hätte das
Amtsgericht seinen Beschluss besser bzw. detaillierter
begründet – was durchaus möglich gewesen wäre –, dann hätte
das Landgericht den Beschluss vielleicht nicht für rechtswidrig
erklärt. - Insbesondere
rügte das Landgericht, dass das Amtsgericht gar nicht auf die Frage
eingegangen ist, ob die angeblich unterstützte „verbotene
Vereinigung im Zeitpunkt der Unterstützungshandlung
tatsächlich“ noch bestand – also überhaupt noch unterstützt
werden konnte.
sagst: „Hätte das Amtsgericht seinen Beschluss besser bzw.
detaillierter begründet – was durchaus möglich gewesen wäre
–, dann hätte das Landgericht den Beschluss vielleicht nicht
für rechtswidrig erklärt.“ Wie hätte denn eine solche „bessere“
Begründung aussehen können? Antwort: Das
Amtsgericht hätte z.B. zur Frage des Fortbestands der Vereinigung
das schreiben können, was später das Oberlandesgericht in seinem
Eröffnungsbeschluss geschrieben hat: Dass die
(Wieder-)Veröffentlichung des linksunten-Archivs zumindest den
Anfangsverdacht (das Oberlandesgericht sagt sogar: den hinreichenden
Verdacht für die Eröffnung des Hauptverfahrens) einer Fortexistenz
der Vereinigung begründet.
Ich hatte mich
jedenfalls schon 2020 gewundert, dass kein Ermittlungsverfahren wegen
der (Wieder-)Veröffentlichung des Archivs bekannt wurde und dass es
auch lange (bis 2022) dauerte, bis ich von einem Ermittlungsverfahren
gegen mich selbst wegen meiner Archiv-Spiegelung hörte. (Angeklagt
wurde ich im übrigen immer noch nicht…)
Frage: Was
ist denn der Unterschied zwischen einem „Anfangsverdacht“ und
einem „hinreichenden Verdacht“?
Antwort: Ein
hinreichender Tatverdacht ist ein deutlich stärkere Verdachtsgrad
(überwiegende Wahrscheinlichkeit der Verurteilung); dieser
Verdachtsgrad ist für Anklageerhebung und Eröffnung des
Hauptverfahrens notwendig.
Ein blosser
Anfangsverdacht genügt für die Eröffnung eines
Ermittlungsverfahrens und auch für Durchsuchungsbeschlüsse.
Schliesslich gibt es
– als stärksten Verdachtsgrad – noch den „dringenden
Tatverdacht“, der unter anderem für Haftbefehle erforderlich ist.3
Frage: Das
Landgericht hatte doch im Juni einen hinreichenden Tatverdacht
verneint und die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Wie kann
es denn da sein, dass es jetzt die Frage offen lässt, ob es einen
Anfangsverdacht gab? Hätte es den nicht konsequenterweise
verneinen müssen?
Antwort: Zum einen aus dem gerade schon erläuterten
Grund, dass ein Anfangsverdacht ein geringerer
Verdachtsgrad als ein hinreichender Tatverdacht ist; und zum
anderen vielleicht, weil das Oberlandesgericht im Juni sogar
den hinreichenden – also: stärkeren – Tatverdacht bejahte.
Es kann also zumindest durchaus sein, dass das Landgericht den
Anfangsverdacht für nicht gegeben hält, aber die Frage
offengelassen hat, um sich nicht – ohne, dass es irgendeinen
praktischen Nutzen gehabt hätte – beim Oberlandesgericht
unbeliebt zu machen und um nicht für das anstehende Hauptverfahren
(für das dieselbe Landgerichts-Kammer zuständig ist) als befangen
dazustehen.
„im hiesigen Fall bestehenden Sonderproblematik
milderer Massnahmen“
Frage: Kannst
Du nun bitte noch den zweiten Grund dafür, dass das Landgericht die
Durchsuchungen für rechtswidrig erklärt hat, nennen?
Antwort: Ja,
der zweite Grund befindet sich auf S. 23 ff. des Beschlusses und ist
ein blosses Verhältnismässigkeits-Argument: „Ganz wesentlich für
die Frage der Verhältnismässigkeit war die widersprüchliche
Behandlung etwaiger gegenüber den Durchsuchungen milderer
Mittel durch die Ermittlungsbehörden.“
Das Landgericht
nennt dann zwei Gesichtspunkte, unter denen das Vorgehen der
Ermittlungsbehörden widersprüchlich war:
- Zum einem
– ganz klar: Milder, als eine Durchsuchung zu machen, um
herauszufinden, welche Person den Artikel geschrieben hat, ist
die Beschuldigten einfach zu fragen, welche Person den Artikel
geschrieben hat.
Nun muss das Mittel
– wenn es relevant sein soll – nicht nur milder, sondern auch
gleich geeignet sein, wie das schärfere Mittel oder darf die
Möglichkeit, das schärfere Mittel später noch anwenden zu
können, zumindest nicht konterkarieren. Mit einer blossen Befragung
ist allerdings die Gefahr einer Konterkarierung verbunden:
Die Beschuldigten erfahren durch die Befragung von dem
Ermittlungsverfahren – und nutzen die Information eventuell,
um Beweismittel zu vernichten.
Der ‚Witz' an
der Sache ist nun: In dem Fall „Radio Dreckland“ sind die
Ermittlungsbehörden dieses Risiko eingegangen; sie hatten die
beiden Beschuldigten schon im Sommer 2022 vorgeladen4;
die Durchsuchungsbeschlüsse wurden aber erst im Dezember 2022
erlassen und im Januar 2023 genutzt. Konnte nun überhaupt noch
etwas Interessantes gefunden werden? Oder wurde gerade das Mittel
„Durchsuchung“ – durch Monate der Gelegenheit, Beweismittel zu
vernichten – zu einem ungeeigneten Mittel?
Nun mag gesagt
werden: Vielleicht wurde die Gelegenheit ja nicht genutzt und
das Mittel „Durchsuchung“ war also noch geeignet… - Kommen wird
daher zu dem zweiten Gesichtspunkt: Beide Beschuldigten leisteten
der Vorladung keine Folge, aber einer von beiden stellte einen
Antrag auf Akteneinsicht. Dieser blieb erst lange in der
Bürokratie hängen und wurde erst im Dezember dem zuständigen
Staatsanwalt vorgelegt:
„Ausweislich des Vermerks vom
19.12.2022 wurde es [das Akteneinsichtsersuchen] dem ermittelnden
Staatsanwalt der Staatanwaltschaft Karlsruhe […] am 09.12.2022
vorgelegt. Von diesem wurde ferner vermerkt, dass das
Akteneinsichtsersuchen zurückgestellt wurde, ‚um den
Erfolg der für den 17.01.2023 beabsichtigten
Durchsuchungsmassnahmen nicht zu gefährden.'“ (S. 24;
Hv. hinzugefügt)
Damit (mit dem
Zitat im Zitat) sind wir also bei dem nächsten ‚Witz': Durch
die Vorladungen war der Ermittlungserfolg der
Durchsuchungsmassnahmen längst gefährdet…
An dieser Stelle
hakt das Landgericht ein und sagt: Es wäre – in Anbetracht des eh
schon gefährdeten Ermittlungserfolgs – milder, aber nicht weniger
geeignet gewesen, zunächst dem Akteneinsichtsantrag
stattzugeben, und es dann noch mal mit einer Befragung zu versuchen:
„Die Ermittlungsbehörden hatten sich
am Anfang der Ermittlungen – trotz der vor allem in diesem
Zeitpunkt möglichen Verschlechterung der Beweislage – bewusst für
ein offenes Vorgehen entschieden und beide Beschuldigten zur
Vernehmung geladen. Daraus muss geschlussfolgert werden, dass
zunächst auf diesem Wege die weitere Erforschung des Sachverhalts
erfolgen sollte. Wieso dann aber vier Monate später durch
Bearbeitung des Akteneinsichtsersuchens – etwa durch
Kontaktaufnahme und Erläuterung der Verdachtslage – auf
einmal der Erfolg der Durchsuchungen gefährdet worden wäre,
kann nicht nachvollzogen werden.“ (S. 25)
In diesem
Zusammenhang war wichtig: Nicht nur der Akteneinsichtsantrag blieb
lange Zeit in der Bürokratie hängen, sondern auch schon die
Vorladung im Sommer war verunglückt:
„Ausweislich der bei den Akten
befindlichen Ladungen vom 03.08.2022 zu polizeilichen
Beschuldigtenvernehmungen stand darin lediglich: ‚im
Ermittlungsverfahren wegen Verstoss gegen §
20 Abs. 1 VereinsG
ist beabsichtigt, Sie als Beschuldigten zu hören.' […].
Es war einerseits lediglich der juristisch nicht korrekte Tatvorwurf
‚Verstoss gegen § 20 Abs. 1 VereinsG' [korrekt gewesen wäre
vielmehr: §
85 bzw. ggf. §
86 StGB] genannt, andererseits waren weitere Angaben – etwa
zur Tathandlung (Artikel auf D[reyeckland].-Online) und zur
Tatzeit (ab 30.07.2022) unterblieben. Es wäre daher bereits
deshalb fraglich, ob allein wegen des Nichterscheinens und
Nichtreagierens auf eine Ladung in dieser Form hin von einer
mangelnden Kooperations- bzw. Aussagebereitschaft und damit dem
Scheitern dieser milderen Massnahme ausgegangen werden könnte.“
(S. 24)
Die Gewährung der
beantragten Akteneinsicht hätte also – so das Landgericht – als
Gelegenheit genutzt werden können, den Beschuldigten zu sagen,
worum es genau geht – und dann hätten die Beschuldigten
vielleicht auch gesagt, welche Person den Artikel geschrieben hat –
das Kürzel „FK“ steht ja eh unter dem Artikel; und aus Anlass
der Durchsuchungen hat Fabian Kienert dann ja auch tatsächlich
bestätigt, den Artikel geschrieben zu haben.
klar sein, dass dies eine sehr spezifisches
Konstellation war, die sich genau so
nie wiederholen wird. Das heisst: Auf das Ergebnis der
landgerichtlichen Verhältnismässigkeit-Abwägung
im Fall „Radio Dreyeckland“ lässt sich für künftige Verfahren
nichts gründen. – Das Landgericht selbst
spricht von einer „im hiesigen Fall bestehenden Sonderproblematik
milderer Massnahmen“:
„Bei der
dargestellten Tatschwere des in Rede stehenden Delikts, der
Verdachtslage und der im hiesigen Fall bestehenden Sonderproblematik
milderer Massnahmen wäre es geboten gewesen, eine erneute Vernehmung
des vormals Mitbeschuldigten R. – nach entsprechender genauerer
Unterrichtung vom Vorwurf – zu versuchen, bevor
Durchsuchungsmassnahmen mit den dargelegten Eingriffen in die Presse-
bzw. Rundfunkfreiheit vollzogen werden, die ohne Kenntnis des
Richters von der Reaktion [= Akteneinsichts-Antrag] des nach §
18 MStV verantwortlichen Beschwerdeführers R. richterlich
angeordnet worden sind.“ (S. 26)
Frage: Hat
denn die jetzige Entscheidung des Landgerichts zu den Durchsuchungen
Einfluss auf das weitere Strafverfahren gegen Fabian Kienert?
Antwort:
Nein, denn das Ziel der damaligen Durchsuchungen war herauszufinden,
welche Person den inkriminierten Artikel geschrieben hat. Da
sich Fabian Kienert im Zuge der Durchsuchungen als Autor des Artikels
bekannt und die Polizei auch hat entsprechende screen
shots anfertigen lassen, kommt es insoweit auf weitere
Beweismittel (aus den rechtswidrigen Durchsuchungen) nicht mehr an.
Frage: Wie
würdest Du generell die Entwicklung der politischen Repression
einschätzen? Gibt es so etwas wie eine Art Verschärfung oder
gar eine Rechtsentwickung im Staatsapparat? Und in diesem
Zusammenhang: Wie siehst Du die Situation der linken und
‚linksradikalen' Strömungen (sofern es sie noch gibt) im
Verhältnis zum Umgang mit der bzw. zur Abwehr der politischen
Repression?
Antwort: Mit
derartigen globalen Fragen tu ich mich immer etwas schwer; mir fällt
dazu über das, was ich dazu schon bei früheren Gelegenheiten gesagt
habe5,
nichts Neues ein.
Eines scheint mir
jedenfalls klar zu sein: Radio Deyeckland sprach ja mal von einer
„anti-linken Agenda“ der Staatsanwaltschaft Karlsruhe.6
Wenn es die gäbe, wäre das Ermittlungsverfahren gegen die
beiden Journalisten von Radio Dreyeckland nicht dermassen konfus und
nachlässig geführt worden. Ausserdem ergibt sich aus dem Beschluss
des Landgerichts, dass das Ermittlungsverfahren nicht von der
Karlsruher Staatsanwaltschaft selbst in Gang gesetzt, sondern von der
Freiburger Polizei angestossen wurde:
„Mit Strafanzeige vom 09.11.2022 wegen
‚Zuwiderhandlung gegen Verbote nach § 20 Vereinsgesetz' brachte
das Polizeipräsidium Freiburg – Kriminalinspektion 6 – bei der
für Staatsschutzdelikte zuständigen Staatsanwaltschaft Karlsruhe
zur Anzeige, dass es ‚mit Datum vom 30.07.2022 auf der
Internetseite des als politisch links einzuordnenden lokalen
Rundfunksenders ›D.‹
(›D.‹)
https:// [...] .de/ zur Veröffentlichung eines Artikels mit
folgendem Titel gekommen' sei: ‚Linke Medienarbeit ist nicht
kriminell! Ermittlungsverfahren nach Indymedia Linksunten Verbot
wegen ‚Bildung krimineller Vereinigung' eingestellt.' und dass
‚das Ende dieses Beitrages mit einem Link zu den Archivseiten der
verbotenen Internetplattform ›linksunten.indymedia.org‹
versehen' worden sei. […]. Der Anzeigenvorlage war
vorausgegangen, dass die Staatsanwaltschaft auf telefonische
Mitteilung dieses Sachverhalts am 02.08.2022 durch die o.g.
Polizeidienststelle einen Verdacht wegen eines Verstosses gemäss
§ 20 Abs. 1 Nr. 3 und 4 VereinsG gegen den verantwortlichen
Redakteur mit dem Kürzel ‚[...]' sowie gegen den
Verantwortlichen des Online-Auftritts des o.g. Radiosenders bejaht
hatte.“ (S. 2, 3; Hv. hinzugefügt)
Die ersten
(bekannten) Schritte des Ermittlungsverfahrens waren also die
polizeiliche Lektüre des Artikels auf der Webseite von Radio
Dreyeckland und der anschliessende Anruf der Freiburger Polizei bei
der Staatsanwaltschaft Karlsruhe.
Frage: Du
sagst: „Wenn es die [‚anti-linke' Agenda] gäbe, wäre das
Ermittlungsverfahren gegen die beiden Journalisten von Radio
Dreyeckland nicht dermassen konfus und nachlässig geführt
worden.“ – Inwiefern findest Du denn, dass das Vorgehen der
Ermittlungsbehörden „konfus“ und „nachlässig“ war?
Verharmlost Du jetzt nicht den staatlichen Angriff (eine Haltung
bzw. Praxis [‚Verharmlosung'], die wir beide kürzlich noch
kritisiert hatten7)?
Antwort:
„Konfus“ war das Vorgehen, aus den gerade schon dargestellten
Gründe: (1.) Die verunglückte Vorladung im Sommer („weitere
Angaben – etwa zur Tathandlung (Artikel auf
D[reyeckland].-Online) und zur Tatzeit (ab 30.07.2022) [waren]
unterblieben“). (2.) Die Beschuldigten wurden vor den
Durchsuchungen von dem Ermittlungsverfahren informiert –
hätten also Beweismittel vernichten können, wenn sie gewollt hätten
– und später (als das Kind zumindest schon in den Brunnen gefallen
sein konnte) berief sich die Staatsanwaltschaft auf einmal auf die
Gefahr, dass der Erfolg der Durchsuchungen gefährdet werden
könne, wenn die Beschuldigten von dem Ermittlungsverfahren erfahren
– obwohl sie eh schon seit Monaten informiert waren... – Was ist
denn das anderes als konfus?
Und „nachlässig“
war das Vorgehen, weil Staatsanwalt Graulich nach meinem ganz
starken Eindruck schlicht nicht auf dem Schirm hatte,
dass die Unterstützung einer Vereinigung nur möglich ist, wenn
sie noch existiert. Hätte er dagegen die Notwendigkeit der
Fortexistenz der Vereinigung bestreiten wollen, dann er irgendein
Argument vorgebracht, als ich diesbezüglich (als Presse) nachfragte
oder spätestens als die VerfahrensvertreterInnen der
Durchsuchungs-Betroffenen darauf hinwiesen. Noch in seiner Antwort
auf die Beschwerden gegen die Durchsuchungsbeschlüsse versuchte der
Staatsanwalt augenscheinlich diesem Problempunkt schlicht
auszuweichen.8
Erst das Oberlandesgericht besserte dann an diesem Punkt die
Argumentation der Staatsanwaltschaft nach (indem es aus der
Archiv-Veröffentlichung einen Verdacht auf Fortbestand des alten
BetreiberInnenkreises ableitete). – Mir scheint fast,
Staatsanwalt Graulich (der ja schon das §
129-Ermittlungsverfahren gegen die vermeintlichen Mitglieder des
alten BetreiberInnenkreis von linksunten 2022 eingestellt hatte),
wollte mit seiner Anklage gegen Fabian Kienert gar keinen Erfolg
haben.
Frage: Gibt
es Deines Erachtens also gar keine „anti-linke Agenda“?
Antwort: Der
bürgerliche Staat (als Ganzes) hat meines Erachtens eine anti-linke
Tendenz, eben weil er bürgerlicher Staat ist – und
deshalb geht er oft (aber nicht immer) gegen linksaussen
strenger vor, als gegen rechtsaussen. Aber das nun gerade die
Staatsanwaltschaft Karlsruhe eine – über den
staatlichen Durchschnitt hinausgehende, subjektiv besonders
akzentuierte – „anti-linke Agenda“ hat, scheint mir –
anhand des vorliegenden Falls – doch ziemlich unplausibel zu
sein.
Frage: Auch
wenn Du Dich mit „globalen Fragen“ schwer tust: Was muss Deiner
Meinung nach geschehen, damit ‚linke Anti-Repressionsarbeit' in
Zukunft nicht mehr ganz so hilflos und kraftlos erscheint? Und
glaubst du, dass die „deutsche Linke“ (wenn diese
Sammelbezeichnung gestattet ist) überhaupt noch aus dem Zustand
der Dauerkrise rauskommen kann? Oder muss das Jahr 1968
(endgültig) aus der Geschichte gestrichen werden? – und wenn
JA, durch was ersetzt werden?
Antwort: Zu
Frage 1: Mir scheint, linke Anti-Repressionsarbeit kann nicht
kraftvoller aussehen, als die Linke insgesamt ist.
Zu Frage 2.: a) Mir
scheint, dass heute kaum noch gesagt werden kann, die Schwäche der
Linken sei ein spezifisch-deutsches Problem. In wieviel Ländern sind
denn linke Kräfte heute bedeutend stärker als in der BRD?
b) Ich kann nicht in
die Zukunft schauen, aber die Zukunft/Geschichte ist prinzipiell
offen.
Zu Frage 3: Mir
scheint „68“ ist durchaus wirkmächtig – wenn auch nicht gerade
das kapitalismus-kritische (mehr war es ja eh kaum)
Element darin.
Frage: Zum
Punkt 2. a) würde ich gern noch mal nachhaken: Ich stimme zwar zu,
dass die Schwäche der Linken ein „internationales“ Problem ist,
aber trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass gerade in
Deutschland es Linke besonders schwer haben. Ich bin zwar kein Freund
historischer Analogiebildungen, aber der „autoritäre Charakter“
scheint mir schon auch im besonderen Masse ein „deutsches“
Phänomen zu sein. Siehst Du die Erblast der Vergangenheit9
eher als vernachlässigbares Problem an, oder steckt im „deutschen
Wesen“ immer noch der Keim des Faschismus? Die Witze über
„Bahnsteigkarten“ und „Rasen betreten verboten“-Schilder
kommen ja sicherlich nicht von ungefähr, oder?
Antwort: Mir
scheint zum einen: Der Rechtspopulismus ist in der BRD nicht
unbedingt ein grösseres Problem als in vielen anderen europäischen
Ländern und den USA. Im Gegensatz zu anderen Staaten, ist er in
der BRD (noch) nicht an Regierungen beteiligt (gewesen).
Es gibt meines Erachtens in der BRD – als Spätwirkung des
‚Fehlens' einer bürgerlichen Revolution – einen
fortwirkende Antiparlamentarismus und juristischen Antipositivismus.
Aber eine proletarische Revolution blieb in allen führenden (und
auch den meisten nicht-führenden) kapitalistischen Ländern aus; die
KPD der Weimarer Republik war (abgesehen von der KPdSU) eine der
stärkeren Sektionen der Kommunistischen Internationale; „1968“
und dessen Nachwirkung in Form der sog. Neuen sozialen Bewegungen
– gerade auch der militanten autonomen und antiimperialistischen
Linken – scheint mir in der BRD nicht unbedingt schwächer
ausgeprägt gewesen zu sein als in anderen Ländern (wenn auch
sicherlich weniger klassenorientiert als in Frankreich und Italien).
Die von Dir genannte Horkheimer/Adorno-Schrift habe ich nicht
gelesen, aber ich stehe ja eh eher auf Pariser10
als Frankfurter Schule.
Also: Ich würde
sagen, die Spezifik der deutschen Geschichte ist zwar auf der Ebene
der Staatsapparate, der Staatsschutzkonzeption sowie der
Rechtstheorie und -ideologie weiterhin wirksam, aber in Bezug
auf die (Schwäche der) Linke(n) erklärt die Spezifik der deutschen
Geschichte nur den frühen Bruch der organisatorischen Kontinuität
der ArbeiterInnenbewegung; aber sozialdemokratische und
kommunistische Parteien sind ja nun mittlerweile in vielen Ländern
marginalisiert. Und guck doch nur mal, in wieviel Ländern wir nicht
einmal eine Parlamentspartei wie die Linkspartei haben…
Frage: Dann
noch mal zurück ganz zu dem Anfang unseres Gesprächs – was ist
denn (politisch) von der liberalen Parole aus dem 19. Jahrhundert,
„Keine Eingriffe in Freiheit und Eigentum ohne Gesetz“, zu
halten? Findest du die richtig oder falsch?
Antwort: Auch
wenn die Parole eine liberale und keine kommunistische oder
anarchistische ist, war und ist diese Parole meines Erachtens
zumindest ein Schritt in die richtige Richtung: Sie hatte im
19. Jahrhundert eine spezifische anti-feudale Stossrichtung – die
staatliche Exekutive war noch stark feudal geprägt, während die
Parlamente bereits stark bürgerlich geprägt waren.
Und die spezifisch
anti-exekutive Stossrichtung der Parole scheint mir auch heute noch –
auch aus anarchistischer und kommunistischer Sicht – aktuell und
richtig zu sein: Die – bewaffnete – Exekutive ist der harte Kern
der Staatsmacht.
Dagegen ist es eher
die Bourgeoisie – insbesondere in Deutschland und in den anderen
Ländern, in denen zeitweilig der Faschismus siegte –, die das
Vertrauen in die Parlamente verlor: Erst wurde mit verschiedenen
exekutivstaatlichen Modellen experimentiert (z.B. die
Präsidial-Diktatur-Phase am Ende Weimarer Republik); dann wurde auf
die faschistische Karte gesetzt. Beides waren nicht gerade
Erfolgsmodelle; insbesondere in der BRD und in Spanien setzten sich
dann eher justizstaatliche Modelle durch: Die Justiz und
insbesondere das Bundesverfassungsgericht nun sollen, die
gesellschaftliche ‚Zerrissenheit'11,
die Carl Schmitt (1888 - 1985) an der Weimarer Republik beklagte12,
„integrieren“ (was Rudolf Smend13
[1882 - 1975] – ebenfalls schon zu Weimarer Zeit – als
„Kernvorgang des staatlichen Lebens“ ansah).
Ich würde
jedenfalls sagen: Linke haben wenig zu gewinnen, wenn sie sich diesem
eher justizstaatlichen Modell anpassen – auch wenn dies heute
(angesichts der starken rechtspopulistischen Fraktionen in vielen
Parlamenten) eine noch kühnere These ist als (sagen wir) von 1970
bis zum Aufstieg des Rechtspopulismus (mit teilweise stark
justiz-feindlichen Tendenzen). Dieser Aufstieg des Rechtspopulismus
hat aber vielleicht auch etwas mit der starken NGO-isierung (und
Justizgläubigkeit) der Linken bzw. ehemaliger Linker seit 1989 zu
tun…
Jedenfalls ist es
eine Binse, dass Freiheit nicht grenzenlos sein kann: Jedes
Parkverbots-Schild und jedes Tempolimit im Strassenverkehr ist
ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit; jede (zivil- oder
straf)gerichtliche Entscheidungen gegen Beleidigungen ist ein
Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit.
Und wenn es schon
ein Grundrecht auf Eigentum gibt, dann sollten es jedenfalls Linke
richtig finden, dass Artikel
14 Absatz 1 Grundgesetz
folgendermassen lautet: „Das Eigentum und das Erbrecht werden
gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze
bestimmt“; und dass er nicht vielmehr lautet: „In Eigentum und
Erbrecht darf nicht eingegriffen werden.“
Frage: Wie
glaubst du überhaupt, kann der „bürgerliche Rechtshorizont“
(Marx) überschritten werden?
Antwort:
Letztlich kann der „bürgerliche Rechtshorizont“ – wie Marx
selbst sagte – erst in der kommunistische Gesellschaft höherer
Phase (also im Unterschied zur sozialistischen
Übergangsgesellschaft) überwunden werden:
„In einer
höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die
knechtende Unterordnung der Individuen unter die Theilung der Arbeit,
damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit,
verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben,
sondern selbst das erste Lebensbedürfniss geworden; nachdem mit der
allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Productivkräfte
gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichthums
voller fliessen – erst dann kann der enge bürgerliche
Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft
auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach
seinen Bedürfnissen!“
(Kritik des
Gothaer Programms, in: Karl Marx / Friedrich Engels,
Gesamtausgabe. Erste
Abteilung. Band 25, Dietz: Berlin, 1985, 3 - 25 [15 ] / dies.,
Werke.Band19, Dietz:Berlin, 1. Aufl.: 1962/ 9. Aufl.: 1987Werke.Band19, Dietz:Berlin, 1. Aufl.: 1962/ 9. Aufl.: 1987Werke.Band19, Dietz:Berlin, 1. Aufl.: 1962/ 9. Aufl.: 1987,
11 - 32 )
Bis dahin gilt es
- das Recht als
spezifische Form, die auch die Grenzen des möglichen Inhalts
(des Rechts) determiniert, zu erkennen:
„die Form, vorliegend:
unterschiedliche juristische Formen (die jeweils zur Anwendung
in Betracht kommen), sind – entgegen einem kruden Verständnis von
Materialismus (s. Kasten auf S. 40) – nicht etwa gegenüber
dem jeweiligen Inhalt nachrangig, sondern – wie Lenin sagt –:
‚Die Form ist wesentlich. Das Wesen ist formiert.'14
Denn der Inhalt existiert überhaupt nur als geformter; die Form ist
die Existenzform des Inhalts.“15,
„Sicherlich
gibt es auch Anliegen der radikalen Linken, die sich in der Sprache
von Demokratie und Menschenrechten ausdrücken lassen, aber die
Inhalte, die für die radikale Linke spezifisch sind, lassen
sich gerade nicht in dieser Sprache ausdrücken. Wie Rosa
Luxemburg schon sagte: ‚Man wird in unserem ganzen Rechtssystem
keine gesetzliche Formel der gegenwärtigen Klassenherrschaft
finden. Wie also die Lohnsklaverei ‚auf gesetzlichen Wege'
stufenweise aufheben, wenn sie in den Gesetzen gar nicht ausgedrückt
ist?'>16
Dieses Schweigen des Rechtsdiskurses zu Klassen- und heute
weitgehend auch Geschlechterherrschaft lässt sich nicht durch den
Willen der radikalen Linken, ihre Anliegen in dieser Sprache
auszudrücken, aufheben (Diskurse sind stärker als Menschen);
vielmehr charakterisiert dieses Schweigen gerade den
Rechtsdiskurs.“17
und
in dieser Spezifik auch seine spezifische Wirksamkeit / Relevanz,
aber auch deren Grenzen (an)zuerkennen:
„Recht ist Bestandteil der Realität,
und so, wie die Realität für jede Linke – sei sie nun
emanzipatorisch oder nicht – ein Bezugspunkt oder sogar der
Bezugspunkt sein muss, gilt dies auch für die rechtlichen Aspekte
der Realität. Die Frage kann also nicht sein, ob Recht ein
Bezugspunkt für Linke sein kann, sondern nur wie die
Bezugnahme erfolgt, wie die Linke ihr Verhältnis zum Recht
definiert.“18
‚positiv' ausgedrückt ist, ist ‚negativ'
- sowohl
eine Kritik an denen, die „die Bedeutung von Recht und
Rechtsforderungen zu gering[…]schätzen“ - als auch
an denen, „die falschen Rechtsforderungen und auf falsche Art
Rechtsforderungen […] stellen“.
„konvergieren m.E. in einer falschen Analyse des Verhältnisses
zwischen kapitalistischer Produktionsweise bzw. bürgerlichem
Klasseninteresse einerseits und Recht andererseits – nur, dass sie
unterschiedliche Konsequenzen aus der gleichen falschen Analyse
ziehen. Beide halten jenes Verhältnis für zufällig“. Vielmehr
steht „die Rechtsform aber „in einem notwendigen Zusammenhang mit
der kapitalistischen Produktionsweise“ und „deren
Überwindung [kann] deshalb nicht als Rechtsforderung formuliert
werden“ – auch wenn „Rechtsforderungen dennoch für linke
Politik notwendig sind“.19
Frage:
Inwiefern ist die von Dir für richtig gehaltene Auffassung geeignet,
den „bürgerlichen Rechtshorizont“ (zumindest in der
Theorie) zu überwinden?
Antwort:
Insofern als Rechtsillusionen nicht erfolgreich durch
Rechtsnihilismus bekämpft werden können, sondern nur durch
Realismus: Zum Beispiel den Gewerkschaften, aber auch den Linken
insgesamt kann zur Zeit nicht „mehr als
Misstrauen in das Recht“ (also: kein Rechtsnihilismus)
empfohlen werden. „Das Problem besteht vielmehr darin, dass die
Gewerkschaftsbewegung“ und die Linken „kein reflektiertes
Verhältnis zur Rechtsordnung“ haben.20
Ein „reflektiertes
Verhältnis zur Rechtsordnung“ zu haben, würde dagegen
einschliessen, zu erkennen, dass
„Rechtsforderungen
[…] keine programmatische Diskussion ersetzen [können]; auch
lassen sich keine politische Programme aus Rechtsforderungen oder gar
Rechtsphilosophien ‚ableiten', vielmehr taugen
Rechtsforderungen allenfalls als technische Konkretisierung und
Umsetzung politischer Programme. Soviel Distanz gegenüber dem Recht
sollte sich eine nicht nur ‚emanzipatorische', sondern auch
realistische Linke allemal bewahren – […]. Statt pauschal
Ent-Rechtlichung zu fordern oder genauso blind Verrechtlichung
zu betreiben, ist vielmehr in jeder konkreten Situation nach
Antworten auf die folgenden komplizierten Fragen zu suchen: ‚wie
können unter Bedingungen verrechtlichter Beziehungen rechtliche
Argumentationen der entpolitisierenden Funktion von
Verrechtlichung entgegenarbeiten? Oder: wie können Legalstrategien
Re-Politisierungsprozesse sozialer Konflikte eröffnen?'21“



